The Idea of Europe – Ein Dialog über George Steiners neues Buch

Übersetzt von Alina Timofte

Von Costica BradatanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Costica Bradatan und Robert ZaretskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Zaretsky

Die Redakteure der Los Angeles Review of Books Costica Bradatan und Robert Zaretsky unterhielten sich jüngst via Internet über George Steiners „The Idea of Europe“, eine 2003 gehaltene Vorlesung, die dieses Jahr im Verlag Overlook Press veröffentlicht wurde.[1]

Obwohl sie beide in Texas lehren – Zaretsky an der University of Houston und Bradatan an der Texas Tech University –, schrieb Bradatan aus Shimla, Indien, Zaretsky hingegen aus einem nicht näher genannten Starbucks außerhalb von Houston.

COSTICA BRADATAN: Die Stadt Shimla, aus der ich zufällig schreibe, nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gestalt an. Gerade noch ein Dorf, als die Briten es entdeckten, wurde Shimla binnen einer Generation zu einem typisch europäischen Ort. Jeden Sommer zog er die politischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten von Britisch-Indien an: Um der sengenden Hitze der Indo-Ganges-Ebene zu entkommen, stiegen sie nach Shimla hinauf – mehr als 2000 Meter über dem Meeresspiegel –, wo sie nicht nur ein ähnliches Wetter genießen, sondern auch wie in England leben konnten. Obwohl es über 1600 km von Kalkutta entfernt ist, wurde Shimla 1864 zur Sommerresidenz des British Raj [der britischen Kolonialherrschaft]. So entstand eine europäische Stadt im vollen Sinne des Wortes: Die Infrastruktur war ebenso europäisch wie die Institutionen und die Gepflogenheiten des Alltags. Der Ort wies nicht nur eine sichtlich europäische Architektur und europäische Formen des öffentlichen Lebens wie Bibliotheken, Theater und Kunstgalerien auf, sondern zeigte auch einen gewissen „europäischen Geist“: In der Stadt gab es Tanzveranstaltungen und Soireen, zugleich aber auch jede Menge „Frivolität, Klatsch und Intrigen“, wie Kipling einst beklagte.

Shimlas Europäischsein ist auch heute noch offensichtlich, lange Zeit nachdem die europäischen Kolonisten gegangen sind. Es zeigt sich an der Architektur, am Theater und den Kunstgalerien. Man findet auch diejenigen Merkmale, die nach George Steiner Europa definieren: Kaffeehäuser, große Fußgängerzonen und eine humanisierte Landschaft. Als ich die Mall Road mit ihren vielen Geschäften und Restaurants herunterlaufe (einige von ihnen haben während der britischen Herrschaft eröffnet) oder die Einheimischen beim Spaziergang auf dem Ridge beobachte, frage ich mich: Was ist Europa überhaupt für ein Ding, wenn wir einen Teil von ihm im Himalaya finden können?

ROBERT ZARETSKY: Costica, Houston, von wo aus ich zufällig schreibe, ist ein deutlich nicht-europäischer Ort. Ich wette: Das Buschland im südlichen Texas ist nicht weniger sengend als die Indo-Ganges-Ebene. Zweifellos ohne zu wissen, dass Mücken so groß wie Avocados auf ihren leckeren Schmaus warteten, steuerten Wellen von Einwanderern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Hafen von Galveston an. Viele dieser Neuankömmlinge ratterten Richtung Norden auf unbefestigten Straßen in ein Provinznest namens Houston, gegründet nur ein paar Jahrzehnte, bevor Shimla zur offiziellen Sommerresidenz des Rajs wurde. Diese mutigen Seelen, hin und her schaukelnd in ihren Pferdewagen, den Vorfahren der heutigen mit Allradantrieb ausgestatteten Lexus SUVs – womit die Fahrer Houstons die Geschwindigkeitsbegrenzungen am Galleria Parkplatz zur reinen Verhandlungssache machen – schufen unwissentlich die Grundlagen für Houstons rapides und kometenhaftes Wachstum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Wie Du sicherlich weißt, stammte die überwiegende Mehrzahl dieser Einwanderer aus Mittel- und Osteuropa. Diese konnten womöglich, im Gegensatz zu mir, die nicht übersetzten deutschen Sätze verstehen, mit denen George Steiner seinen kurzen Aufsatz würzt. Und genau da liegt der Haken: Ihr „europäischer“ Fußabdruck erwies sich – anders als der, den Du in Shimla gefunden hast – als weit flacher und unbeständiger. So scheint es wenigstens, wenn wir die Maßstäbe anlegen, die George Steiner offenbar als selbstverständlich voraussetzt. Zum Beispiel sagt uns Steiner, dass „Europa“ begangen werden kann. In seinem zum Markenzeichen gewordenen Stil – etwa auch da bedeutungsschwanger zu sein, wo kein Sinn zu finden ist – schreibt Steiner, dass „die Kartographie Europas aus den Leistungen, den wahrgenommenen Horizonten der Menschenfüße“ entstanden sei. In den Randbezirken Houstons gibt es oft keine Bürgersteige für die menschlichen Füße; zwar existieren Bürgersteige in der Innenstadt, aber sie sind faktisch Warteräume für die armen (und überwiegend schwarzen und hispanischen) Stadteinwohner, die auf alles angewiesen sind, das als öffentliches Verkehrsmittel gilt. Natürlich müssen wir erst die Füße befragen, wenn wir mehr über die Horizonte erfahren wollen, die sie wahrnehmen.

Oder nehmen wir das Café als Beispiel (oder die Kneipe, die Taverne oder das Kaffeehaus). Für Steiner findet diese einzigartige europäische, mit „ontologischer Bedeutung“ gefüllte Institution keine Entsprechung in den USA. Wie er hilfreich anmerkt: „niemand schreibt phänomenologische Wälzer am Tisch einer amerikanischen Bar“. Bei der Lektüre dieser Art von Beobachtungen will ich mir unwillkürlich Bier in ein schmutziges Glas einschenken. Wenn es darum geht, Europa zu definieren – oder damit letztendlich die USA niederzumachen –, warum sollten wir glasäugige, pfeifenrauchende Intellektuelle am linken Ufer der Seine privilegieren? Diese Art von Geistes- oder Ideengeschichte ist genauso dépassé wie schwarze Rollkragenpullover oder Gauloises-Zigaretten. Costica, da Du der wahre Jakob bist – ein vollwertiger Europäer und ein Intellektueller obendrein –, lass mich Dich fragen: Erkennst Du Dich in Steiners Idee von Europa wieder?

CB: Ich finde, Steiner zu lesen, ist fast immer eine sehr stimulierende Erfahrung. Selbst wenn ich mit ihm nicht einverstanden bin. Was für mich als Leser wichtig ist, ist nicht, ob er richtig oder falsch liegt, sondern vielmehr der Ort, an den er mich mitnimmt, und der geistige Prozess, an dem er mich teilhaben lässt. Er nennt das – vielleicht ein wenig zu pompös, aber nicht wirklich verkehrt – eine „Einladung zur Bedeutung“. Ich meinerseits fühle mich sehr heimisch in Steiners Denkweise, in seiner Art und Weise, sich mit einem Thema zu befassen, eine Fragestellung zu rahmen und zu formulieren. Steiner ist der europäische Intellektuelle par excellence: polymath, polyglot, kulturell selbstbewusst, fest verwurzelt in einem geistigen Gut komplexer intellektueller, philosophischer und literarischer Traditionen – von ihnen nicht nur geformt, sondern sogar geprägt. In Errata (1997; dt. Errata. Bilanz eines Lebens, 1995), das halb Kurzbiographie, halb Essay ist, gesteht er: „Ich habe meine Kräfte verstreut und sie somit verschwendet.“ Er bedauert, in seiner Forschung und seinem Schreiben zu viele Themen behandelt zu haben, allzu weit, aber nicht tief genug gegangen zu sein, dass er zu viele Wege erschlossen habe, nur um sie später wieder zu verlassen. Er gibt mit anderen Worten zu, der „enzyklopädischen Versuchung“ nachgegeben zu haben, mit der viele europäische Intellektuelle vertraut sind und die eine sehr, sehr zarte Versuchung ist, der man gern erliegt, die aber auch fatal sein könnte, vor allem in Nordamerika. Stanley Rosen scherzte einmal in diesem Zusammenhang über Leo Strauss: Er sagte, „Strauss war ein hervorragender Wissenschaftler, der so viel mehr als seine Kollegen [an der University of Chicago] wusste, dass sie ihn als inkompetent betrachteten.“

Du wirst also nicht überrascht sein, dass ich Steiners Beschreibung der „Idee Europa“ ziemlich verlockend finde, wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad. Ich kenne mich mit dem Schreiben in Cafés nicht aus (ich kann nur in der Einsamkeit arbeiten), aber was er zum Beispiel über das Gehen sagt, halte ich für recht aufschlussreich. Ich habe Deine Ironie bemerkt, Robert, aber weißt Du, Füße haben wohl eine eigenständige Wahrnehmung – und ein eigenes Gedächtnis und eine eigene Auffassungsgabe. Um den Geist eines Ortes zu erfassen, muss man diesen Ort begehen, ihn mit dem eigenen Fuß genau lesen. Ich kann erst dann sagen, dass ich eine Stadt kenne – sei es Mumbai, Istanbul, Sydney, São Paulo oder Nagoya –, wenn ich große Teile dieser Stadt abgeschritten bin. Denn die Entdeckung eines Ortes ist eine zutiefst körperliche Erfahrung: Man muss den Ort unter den Füßen spüren, man muss seine Gerüche schnuppern, seine Seufzer und sein Geflüster hören, und die ganze Musik seines unsichtbaren Lebens, man muss ihn aus verschiedenen Winkeln und zu verschiedenen Tageszeiten sehen. Das Verständnis dieses Ortes schaukelt sich nach und nach durch den erschöpften Körper hoch, mit dem zunehmenden Durst- und Hungergefühl, durch jede Zelle des erschöpften Fleisches. Nur dann kann man sagen, dass man den Ort kennt. Und dieses Wissen ist das intimste.

RZ: Versteh’ mich nicht falsch: Auch ich finde Steiner anregend, insbesondere After Babel (1975, dt. Nach Babel, 1981), seine nachhaltige Reflexion über den Akt der Übersetzung. After Babel ist ebenfalls autobiographisch, wenn auch auf eine indirektere Art und Weise als Errata. Als jemand, der in der deutschen, französischen und englischen Sprache gleichermaßen zu Hause ist, schreibt Steiner an einer Stelle im Buch, dass er seine Arbeit – das Denken über das Übersetzen – von innen heraus tun muss. Glaubst Du nicht, dass seine besten Arbeiten in großen Büchern wie After Babel oder in etwas kleineren Büchern wie Real Presences (1989, dt. Von realer Gegenwart, 1990) zum Vorschein kommen, wo er nach Belieben herumwandern kann? Im Gegensatz dazu beginnt (und endet) der Text The Idea of Europe wie eine Vorlesung. Ich frage mich, ob das der Grund ist, warum ich Steiners Schreiben oft so schwülstig und zugleich unheimlich spannend finde – ein wenig wie eine Mischung aus Heidegger und Harlequin.

Und natürlich verstehe ich auch die Bedeutung eines Stadtbummels zu Fuß. Ich habe schon zu viele Studierende auf zu vielen Pariser Gehwegen geführt, zu viel Baudelaire gelesen und den Namen Walter Benjamins allzu oft fallen lassen, als dass ich es nicht verstehen könnte. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dieser Vorstellung folgen möchte, dass lediglich abgenutzte Sohlen uns zu der Seele einer Stadt führen können. Ich muss zu meiner Universität über die Fernstraße 45 pendeln. Das ist gewissermaßen eine seelentötende Erfahrung: ein gewaltiger Nil aus Beton, dessen Ufer flankiert sind von Einkaufsmeilen und Bars, mexikanischen Märkten und Tankstellen, Mega-Kirchen und riesengroßen Autohäusern. Doch dieses Tal des Todes ist gleichzeitig ein Tal der Texte: Der Werbetafel- und Schaufenster-Wald ändert sich ständig, und er bietet vielfältige Einsichten in Houstons Charakter. Sollte der Fuß überhaupt eine Perspektive haben, dann muss er manchmal auf die Pedale eines Autos treten. Hat nicht Kerouac das irgendwo geschrieben?

CB: Das muss eine faszinierende Morgenlektüre sein – vor allem, weil die Texte jeden Morgen mehr oder weniger gleich bleiben. Aber Steiners Versuch, Europa zu „definieren“, in ordentlicher Weise anhand von „fünf Axiomen“ – „das Kaffeehaus, die Landschaft auf der Skala […] der Passierbarkeit, diese nach Staatsmännern, Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern der Vergangenheit benannten Straßen und Plätze […], unsere doppelte Abstammung von Athen und Jerusalem, und schließlich, jene Furcht vor einem Schlusskapitel, vor dem berühmten Hegel’schen Sonnenuntergang“ – wie intellektuell verlockend der Versuch auch sein mag, entpuppt er sich als ein wenig problematisch. Es gibt Dinge, die er in diesem Buch nicht erwähnt, vielleicht weil er nicht weiß, wie man mit ihnen umgehen soll. Eine Definition sollte uns – per Definition – sagen, wo genau etwas seine Grenzen, seinen Abschluss, seine Schranken hat. Wo genau endet Europa? Für Milan Kundera stellt der Kommunismus – von der Roten Armee in sein Land geschmuggelt – eine überwiegend „asiatische“ Angelegenheit dar, ebenso wie Russland. Europa trifft Asien also irgendwo in Böhmen. Ein weiteres Beispiel: Wenn man den Fehler macht, im Gespräch mit manchen ungarischen Wissenschaftlern über deren Land als Teil Osteuropas zu sprechen, dann wird einem, sobald man das angesprochen hat, höchstwahrscheinlich eine aufgebrachte, predigtähnliche Geographie-Lektion gehalten. Vor allem in Ungarn ziehen manche Leute bewusst eine klare Unterscheidung zwischen „Mitteleuropa“, das dem eigentlichen Europa gleichzusetzen sei und zu dem Ungarn gehöre, und „Osteuropa“, etwas Unklarem von oftmals zweifelhafter Qualität, irgendwo zwischen Rumänien und der russischen Steppe – wie auch immer, etwas kaum Europäischem. Wenn es tatsächlich noch etwas Schlimmeres gibt, als Osteuropäer zu sein, dann ist das, aus dem Balkan zu stammen. (Rumänen sind beides – sie haben wirklich Glück.) Es ist nicht leicht, sich eine exakte und zufriedenstellende Definition Europas einfallen zu lassen.

Dies weist auf ein anderes Problem hin: auf den starken Sinn für Bruch und innere Spaltung, der manchmal das zerbricht, was wir gern als die europäische Identität betrachten. Wetteifer – ja sogar einige Formen von Rivalität – können gut und gesund sein, es sei denn, sie verwandeln sich in Streit und offene Feindseligkeit oder lassen Konflikte wieder aufflammen, von denen die Europäer glaubten, sie für immer entschärft zu haben. Die jüngsten Debatten über die Krise in Griechenland haben genau das getan: Das, was die verschiedenen Parteien voneinander trennte, wurde zunehmend wichtiger als das, was sie zusammenhielt, und das führte dazu, dass sie sich schließlich über diese Unterschiede definierten. Sehr oft sah es aus, als seien nur Griechen und Deutsche und Franzosen und Polen beteiligt; die Europäer waren nirgends zu sehen. Siehst Du, Robert, egal wie sehr wir versuchen, ihr zu entkommen, sind wir immer noch Gefangene der dunklen Erinnerung an unsere ferne Stammesgeschichte. Und diese prägt allzu oft die Art und Weise, wie wir denken und handeln.

Also ja, von außen betrachtet mag Steiners Kaffeehaus wie eine sehr europäische Institution aussehen, aber worin liegt ihre genaue soziale Funktion? – Das hängt in großem Maße davon ab, wessen Meinung Du suchst. Wenn Du einen Frankfurter fragst, kann es sein, dass er Dir sagt, dass das Kaffeehaus [im Original deutsch] an seiner Straßenecke einfach der Ort ist, wo er sein Frühstücksbrötchen auf dem Weg zur Arbeit holt. Frag’ ihn weiter nach den schicken Cafés, die er im Urlaub in Italien oder Griechenland gesehen hat, und er wird einräumen, dass sie einfach nur eine Stätte der Faulheit, die Verkörperung jenes verabscheuungswürdigen mediterranen dolce far niente sind, von dem er sich voller Stolz distanziert.

RZ: Ja, ich habe gehört, wie empfindlich die Ungarn – nicht nur die Wissenschaftler unter ihnen – sind, wenn es um die Zentralität ihres Landes in der europäischen Ordnung der Dinge geht. Aber ich wusste nicht, dass ein Osteuropäer zu sein, problematischer ist als, sagen wir, als Osttexaner in El Paso zu leben.

Ich muss sagen, dass ich verständnisvoller bin als Du, wenn es um Cafés geht. Wenn ich in Paris bin, arbeite ich in Cafés. Ich finde auch, wie die meisten Pariser im 19. und 20. Jahrhundert, dass Cafés immer im Winter wärmer, im Sommer kühler und viel komfortabler als jedes andere Apartment oder Hotelzimmer sind. Aber auch in Houston arbeite ich in Cafés, obwohl es dort die gefürchteten Starbucks sind. In der Vorstadt, wo ich lebe, habe ich festgestellt, dass die Starbucks, obwohl sie von außen alle gleich aussehen, jeweils eine individuelle Kundschaft und einen ganz eigenen Charakter haben. Und wie die Leute, über die ich schreibe – Diderot und Rousseau, Camus und Sartre – lese ich die Zeitungsnachrichten in Cafés.

Von Cafés aus habe ich auch das verfolgt, was wir wohl oder übel die griechische Tragödie nennen. Wie Du sagst, nur wenige andere Ereignisse haben die „Idee Europa“ so drastisch sichtbar gemacht wie die Konfrontation zwischen Athen und Brüssel – eine noch viel ungleichere Konfrontation als die bei Thermopylen zwischen den Spartanern und Persern. Auf einmal war die Idee vom „guten Europäer“ – dessen Definition, nach Nietzsche zumindest, fast alles Deutsche ausschließt – der Idee von jemandem gleichzusetzen, der über einen ausgeglichenen Haushalt verfügt und der den Wahlsieg einer politischen Bewegung, der die Sparpolitik aus Berlin genauso missfällt wie Krawatten zu tragen, als einen Akt der Majestätsbeleidigung betrachtet.

Nun, da Tsipras’ Regierung von den Politikern der Eurozone beschämt und für eine schmerzvolle Auszeit nach Hause geschickt wurde, stellt sich die Frage: Was können wir über die Idee Europa sagen? Zumindest, dass die reale existenzielle Bedrohung für die Idee Europa nicht, wie Steiner uns glauben lassen möchte, die Amerikanisierung ist – worunter er anscheinend unser Konsumdenken und unsere oberflächliche Art versteht –, sondern vielmehr die „Brüsselisierung“. Wenn ich in der Gemütlichkeit meines Starbucks Zeilen lese wie „Nichts bedroht Europa radikaler als die wegwischende und exponentielle Flut des Anglo-Amerikanischen und die gleichmachenden Werte und das Weltbild, die dieses verschlingende Esperanto mit sich bringt“, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich vermute, dass die Griechen eher lachen würden.

CB: Ich stimme Dir zu. Es gibt viele andere Dinge, an denen Europa zugrunde gehen kann, bevor es durch die Cheeseburger von McDonalds oder durch die lockere Ungezwungenheit des Amerikanischen vergiftet wird. Aber um zu Deinem Punkt zurückzukommen, ich würde die Buchhalter nicht so leicht entlassen. Du weißt, ich bin ein Schüler von Maria Braun und daher irgendwie geneigt, einen Mittelweg zu suchen. In Fassbinders Die Ehe der Maria Braun wird uns, wie Du Dich erinnern kannst, an einer Stelle eine recht feine Verteidigung der Buchhalter vorgelegt. Karl Oswald – der deutsch-französische Geschäftsmann und Marias Arbeitgeber und Geliebter – ist so sehr von ihr angetan, dass er ihretwillen einige riskante Investitionen tätigt. Als sein Buchhalter Senkenberg seine Sorge darüber äußert, ruft Oswald aus: „Sie sind langweilig, Senkenberg! Mit Leuten wie Ihnen erlebt man nichts. […] Sie sind der beste Buchhalter der Welt und der gewissenhafteste Finanzchef, aber Sie haben nicht für eine Mark Fantasie. Reichsmark.“ Darauf springt Maria – die in erster Linie die Idee mutiger Investitionen hatte, aber gleichzeitig die Vorsicht in Person ist, wie eine weise Diotima – zur Verteidigung Senkenbergs ein: „Ich finde nicht, dass das ein Vorwurf ist“, sagt sie liebevoll, dem Buchhalter in die Augen blickend. „In Ihrem Beruf wäre Fantasie geschäftsschädigend. Einer muss schließlich das Geld zusammenhalten und für eine Finanzplanung einstehen. Und die Kredite beschaffen.“ Dann zu ihrem Chef: „Wo wären Sie sonst mit Ihrer Firma, Herr Oswald, wenn Sie Herrn Senkenberg nicht hätten. Beim Pferderennen?“[2]

Was ich an dieser Szene faszinierend finde, ist, dass die Replik „einer muss doch das Geld zusammenhalten“ nicht von einem Buchhalter oder von einem Geschäftsführer stammt, sondern von Maria Braun, die alles andere als das ist. Sie ist eine Träumerin und eine Idealistin, und genau das sollte man beachten, wenn sie die Materialistin spielt. Es braucht nicht viel Fantasie – nicht mal für einen Euro –, um einzusehen, dass sie Recht hat. Ob es uns gefällt oder nicht, wir sind Körperwesen, geistig und materiell zugleich, eine unmögliche Synthese von Hohem und Niedrigem, von noblen Ideen und hungrigem Fleisch. Das Erste kann ohne das Letzte nicht existieren. Die alten Griechen mögen zu der Idee Europa beigetragen haben, aber die modernen Deutschen wissen nur zu gut, dass man, um so eine tolle Idee umzusetzen, beträchtliche öffentliche Mittel benötigt, die man bei fehlender Haushaltsdisziplin nicht haben kann.

George Steiner schreibt wunderschön von der „zweifachen Abstammung aus Athen und Jerusalem“. Vielleicht sollten wir das ein wenig revidieren. Wie wäre es mit: aus Athen und dem Abakus?

RZ: Ich werde immer wieder – jedes Mal zu spät – an die Notwendigkeit von Buchhaltern erinnert. Natürlich erinnert Deutschland nun Griechenland an genau dasselbe – eine wichtige Mahnung für ein Land, das Mitte der 1990er Jahre seine Bücher geschönt hat, um in die Eurozone eintreten zu können. Wie Du – und Steiner – zweifellos zustimmen würdet, ist die Idee Europa, trotz Wolfgang Schäubles und Angela Merkels Weltsicht, mehr als nur eine Frage der Schuldendeckung und Steuersätze. Maria Brauns Beobachtung, dass Fantasie „geschäftsschädigend“ sei, gilt sicherlich für Buchhalter, aber nicht für Staatsmänner. Und nichtsdestotrotz ist die ursprüngliche Idee Europa, geboren mit dem Vertrag von Maastricht – der die Europäer seit jeher belastet –, das Werk zweier Staatsmänner, die kaum Interesse für Zahlen oder Fantasie zeigten: François Mitterrand aus Frankreich und Helmut Kohl aus Westdeutschland. Unter dem Druck der deutschen Vereinigung improvisierten sie eine Währungsunion, welche die Notwendigkeit einer politischen und einer Fiskalunion ignorierte. Die Gründungsfiguren eines vereinten und friedlichen Europa, von Robert Schuman bis Jacques Delors, besaßen eine Art moralischer Fantasie, die jetzt traurigerweise auf beiden Seiten des Rheins abhandengekommen ist.

Die pure Ironie ist, Costica, dass das antike Griechenland seit dem frühen 19. Jahrhundert den deutschen Schriftstellern, Denkern und Politikern als Vorbild diente. Denk’ an die zentrale Rolle der antiken griechischen Tragiker und Philosophen, Historiker und Künstler in den Werken von Goethe und Schiller, Hegel und Nietzsche, ganz zu schweigen von dem unsäglichen Heidegger. Altgriechisch ist, glaube ich, immer noch Teil des Lehrplans in den deutschen Gymnasien. Und doch ist zugleich die Verachtung – und da muss man einen Zusammenhang herstellen, nicht wahr? –, die die Deutschen den modernen Griechen entgegenbringen, erstaunlich. Vor fünf Jahren, zu Beginn der aktuellen Krise, forderte eine Schlagzeile der Massen-Boulevardzeitung Bild auf: „Verkauft uns eure Inseln!“ [Tatsächlich heißt dieser Artikel korrekt: „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen…“] Und genau solche Dinge könnte der aus seinen Büchern müde heraufblickende Senkenberg sagen, nicht wahr?

CB: Ich bin mir nicht sicher, wie sehr wir einer sensationslüsternen Boulevardzeitung wie Bild in diesen Dingen vertrauen sollen, aber tatsächlich scheint in der letzten Zeit in Deutschland eine Orgie der ethnischen Stereotypisierung stattgefunden zu haben. Die Griechen werden für verantwortungslos und unzuverlässig, faul und partysüchtig gehalten – man möchte mit ihnen lieber nichts zu tun haben. Und umgekehrt gibt es keinen Zweifel daran, dass die Deutschen heute in Griechenland als die humorlosesten Kreaturen dieser Erde angesehen werden, als Langweiler und Arbeitssüchtige, wenn sie nicht gar alle Hitlers geheime Bewunderer sind. Manchmal sieht es aus, als ob die Länder Europas die EU aus keinem anderen Grund erfunden hätten, als sich auf einer großen, europäischen Bühne gegenseitig verprügeln zu können.

Ich bin aber froh, Robert, dass Du die Bildung der Europäischen Union und ihres institutionellen Rahmens ins Gespräch gebracht hast. Ich möchte kurz dieses Thema in Bezug auf Steiners Buch betrachten. Wenn er beschließt, die Idee Europa anzugehen, so bemerkt er richtigerweise, dass „auch die abstraktesten und spekulativsten Ideen in der Realität, in der Substanz der Dinge verankert werden müssen“. Deshalb zeigt er weiter, wie bereits angedeutet, wie es dazu gekommen ist, dass diese Idee in einer Handvoll konkreter Realitäten wie dem Kaffeehaus, der Fußgängerkultur, oder den lieux de mémoire (Erinnerungsorten), denen wir in ganz Europa begegnen, „verankert“ ist. Symptomatisch finde ich, dass Steiner nicht im Bereich politischer Institutionen – wie dem Europäischen Parlament – oder finanzieller Mechanismen – wie dem Euro – nach Verkörperungen der „Idee Europa“ sucht. Die Institutionen der Europäischen Union lässt er in der Tat die meiste Zeit unberührt. Für ihn ist Europa vor allem eine philosophische Idee, kein politisches Projekt.

Man könnte dies als eine gravierende Einschränkung von Steiners Buch betrachten. Wie lässt sich 2003 von „Europa“ sprechen, ohne in irgendwie sinnvoller Weise auf das gleichnamige, ambitionierte politische Projekt Bezug zu nehmen? Wenn Ideen verkörpert sein müssen, welche bessere Verkörperung kann man dann für die „Idee Europa“ finden, wenn nicht die Europäische Union selbst? Steiner berührt kurz die institutionellen Aspekte, aber nur um ihre Bedeutung herunterzuspielen. Gegen Ende seines Vorlesungsbuches stellt er fest:

Es kann sein, dass die Zukunft der „Idee Europa“, wenn sie überhaupt eine Zukunft hat, von der Zentralbank und den Agrarsubventionen, von Investitionen in die Technologie oder einheitlichen Tarifen weniger abhängt als uns glauben gemacht wird. Es kann sein, dass die OECD oder die NATO, die progressive Erweiterung des Euros oder der parlamentarischen Bürokratien nach dem Vorbild Luxemburgs nicht die primäre Dynamik der Europäischen Vision bilden.[3]

Und doch sind Steiners Kommentare angesichts der jüngsten Turbulenzen in Europa aufschlussreicher als noch vor einem Jahrzehnt. Die vorher kritisierte Einschränkung könnte letztendlich nicht so sehr für sein Buch gelten, aber für die „Idee Europa“ selbst. Denn diese Idee ist eine noch so heikle Sache, dass sie nicht einfach irgendeine Art der Verkörperung erlauben mag; es mag sein, dass eine solche Idee sich nicht übersteigen lässt ohne das Risiko, sie ernsthaft zu beschädigen. Man kann wirklich nicht erwarten, dass Parteien, die so lange Zeit getrennt voneinander waren – und sich oft gegenseitig zerrissen haben –, auf einmal unter einem Dach glücklich zusammenleben.

Wenn das der Fall ist, erweist sich Steiner nicht als nachlässig, sondern weise – vielleicht sogar als prophetisch. Es mag sein, dass Europa, wie Kundera sagen würde, „anderswo ist“. Und Steiner weist uns die richtige Richtung.

RZ: Richtig: Wenn es um eine wichtige Angelegenheit geht, ist der Bild-Zeitung nicht zu trauen – aber die besorgniserregende Tatsache ist, dass sie die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands ist. Ein Blick auf die Meinungsumfragen reicht aus, um zu sehen, dass viele Deutsche das Gefühl haben, die Bild würde mit ihren hässlichen Schlagzeilen eher ihre Meinung wiedergeben, als, sagen wir, die weisen Warnungen eines Jürgen Habermas.

Was Steiner und Europa betrifft, weist Du zu Recht auf seine Überzeugung hin, dass Europa, was immer das ist, nicht in politischen oder finanziellen Institutionen haust, sondern stattdessen in einer philosophischen – oder noch besser: moralischen – Vision. Ich frage mich aber, was Politiker wie Helmut Kohl oder François Mitterrand im Jahr 1989 auf diese Beobachtung erwidert hätten. Vielleicht, dass sich eine solche Perspektive nur erlauben kann, wer in einem Schweizer Elfenbeinturm sitzt? Im Sturm der Ereignisse nach dem Fall der Berliner Mauer hatten philosophische Projekte genauso viel Reiz für die Spitzenpolitiker wie ein Hologramm von einem Steak für einen hungernden Menschen. Was mit pragmatischen Idealisten wie Jean Monnet und Robert Schuman und Staatsmännern wie Charles de Gaulle und Konrad Adenauer begann, wurde in eine unsinnige, unnötig komplizierte Maschine verwandelt von Leuten wie Kohl und Mitterand, die sich damit abmühten, ihre Köpfe über dem Wildwasser der Geschichte zu halten. Die Währungsunion als das Herzstück des Vertrags von Maastricht, selbst auf den Trümmern der Berliner Mauer erbaut, war ein faustischer Teufelspakt: Deutschland erklärte sein Einverständnis, seine kostbare Deutsche Mark aufzugeben (indem es sich das Recht vorbehielt, die Kriterien für die neue Währungsunion selbst zu definieren), während Frankreich über die Wiedervereinigung lächelte (die sowieso stattgefunden hätte, auch wenn Frankreich die Stirn gerunzelt hätte). Das Erstaunliche an Maastricht, das eines der größten Kapitel in der Geschichte des Geldes darstellt, ist, dass es das Werk zweier Männer ist, die so gut wie nichts von Wirtschafts- und Währungstheorie verstanden, dafür aber Feuer und Flamme waren.

Du hast Recht, wenn Du denkst, es sei unrealistisch zu hoffen, dass Völker, die in ihrer kollektiven Vergangenheit viel Zeit damit verbracht haben, sich gegenseitig die Kehle aufzuschlitzen, glücklich unter einem Dach leben könnten. Genau das unterstreicht die absichtliche Ambiguität in Adenauers berühmtem Satz: „Die deutschen Probleme können nur unter einem europäischen Dach gelöst werden.“ Was Adenauers Bemerkung natürlich auslässt: Dieses besondere, von den Finanz- und Währungsimperativen aus Berlin angeregte Dach bleibt ein deutsches Dach. Und sollte jemand, der unter diesem Dach lebt, Griechenland zum Beispiel, den Bauplan in Frage stellen, würde man ihm – ohne die Metapher weiter strapazieren zu wollen – die Tür zeigen. Steiner staunt irgendwo in After Babel über die Tatsache, dass die Homines sapiens, obwohl ihre Verdauungstrakte unabhängig von ihrem Aufenthaltsort sich in der gleichen Weise weiterentwickelt und funktioniert haben, trotzdem keine gemeinsame Sprache sprechen. Übertrag’ das jetzt auf die Eurozone: Obwohl alle Mitglieder die gleiche Währung benutzen, haben sie kein gemeinsames Verständnis von ihrer Bedeutung. Wie könnten sie ein solches Verständnis teilen in den krisenhaften Zeiten, die wir erleben – oder, was das betrifft, sogar in ruhigen Zeiten?

CB: In der Tat, wie wäre das möglich? Und doch sind wir hier, im Gespräch, mit unseren sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Ich habe nun, am Ende unseres Gesprächs, das Gefühl, dass ich mehr über Europa weiß als damals, als ich noch dort lebte – Steiner ist ein ausgezeichneter Lehrer, und Du bist ein einzigartiger Begleiter. Jetzt glaube ich, dass ich noch einen Spaziergang durch Shimla machen werde. Merkwürdigerweise – das muss ich Dir sagen – hat sich mir die Stadt während unseres Gesprächs in den letzten Tagen – zweifelsohne unter dem Einfluss von Steiners wohltuendem Geist – in einem noch stärkeren europäischen Licht dargeboten. Wir müssen aufhören – denn wenn wir weitermachen, wird Shimla so europäisch sein, dass es womöglich der Europäischen Union beitreten möchte. Das können wir aber nicht zulassen, oder? Die guten Leute in Brüssel haben bereits genug Sorgen.

RZ: Wie seltsam – und amerikanisch –, dass wir in demselben Bundestaat, Texas, leben, doch unsere Städte – Houston und Lubbock – fast genauso weit voneinander entfernt sind wie Paris und Berlin. Wenn Angela Merkel und François Hollande es schaffen, sich so oft zu treffen, dann können wir das gewiss auch. Lass’ uns einen Termin finden und uns in einem ice house treffen – das ist die texanische Version der europäischen Taverne, wie Du weißt –, und dieses Gespräch fortsetzen.

CB: Auf jeden Fall, Robert. Merkel und Hollande werden uns ohne Zweifel genug Gesprächsstoff bieten…

Anmerkungen:

Der Artikel ist unter dem Titel „The Idea of Europe“ zuerst am 12. August 2015 in The Los Angeles Review of Books (LARB) erschienen. Die Übersetzung ins Deutsche und die freundliche Genehmigung der Autoren und der LARB-Herausgeber zur Veröffentlichung in literaturkritik.de besorgte Alina Timofte, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, Universität Konstanz.

[1] George Steiner: The Idea of Europe. An Essay. New York: Overlook Press, 2015 (ISBN-10: 1468310240, ca. 18,25 Euro).

[2] Originalzitate aus Peter Märthesheimer / Pea Fröhlich: Die Ehe der Maria Braun. Ein Drehbuch für Reiner Werner Fassbinder. Mit einem Text von Peter Märthesheimer und Fotos aus der Filmkopie von Gerhard Ullmann, Hrsg. und mit einem Vorwort von Michael Töteberg. München: Belleville Verlag Michael Farin, 1997, S. 75f.

[3] Das Buch ist noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Die deutsche Übertragung der hier zitierten Stellen stammt von Alina Timofte.