Das Labyrinth der blutigen Bücher

Kai Meyer wandelt mit „Die Seiten der Welt“ auf den Spuren der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur von E.T.A. Hoffmann bis Walter Moers

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Furia Salamandra Faerfax wohnt mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder in einem abgelegenen Herrenhaus in den englischen Cotswolds, einer Region westlich von Oxford, die auch als ‚Herz Englands‘ bezeichnet wird. Unter dem Haus gibt es ein weit verzweigtes Stollensystem voller Bücher, in dem diese – oder zumindest Teile von ihnen – lebendig werden. Dies kann gefährlich sein, so wird Furia gleich zu Anfang von einem sogenannten Schimmelrochen verfolgt und beinahe aufgefressen, oder auch hilfreich: Der Ypsilonzett genannte Buchstabenschwarm wird zum Schluss des Romans eine entscheidende Rolle bei der Rettung spielen. Im Laufe der Handlung wird Furias Vater Tiberius getötet, ihr zehnjähriger Bruder Pip entführt und von Furia gerettet.

„Die Seiten der Welt“ ist, je nach Sichtweise, ein Märchen oder ein fantastischer Roman oder beides. In der gezeichneten Welt gibt es eine Parallelwelt, was wiederum eine Parallele zu J.K. Rowlings Harry-Potter-Romanen darstellt, nur dass die Zauberer hier Bibliomanten heißen. Sie lieben Bücher über alles und haben durch das exzessive Lesen besondere Fähigkeiten gewonnen. Wenn sie ihr Seelenbuch finden, haben sie übermenschliche Kräfte, die sie nicht nur zum Guten benutzen. Die Bibliomanten leben einerseits ein relativ normales Leben, haben anderseits aber auch Zugang zu sogenannten Refugien und anderen, für Nicht-Bibliomanten verborgenen Orten. Libropolis, die Hauptstadt der Bücher, ist so ein Refugium. Um zu ihr zu gelangen, muss man mittels besonderer Fähigkeiten das Tor zur alten, immer noch existierenden, aber ansonsten unsichtbaren London Bridge öffnen. Das Vorbild aus den Harry-Potter-Romanen ist das Gleis neundreiviertel (Platform Nine and Three Quarters), eines der Bahngleise des Londoner Bahnhofs Kingʼs Cross. Und auch diese Schleuse in eine andere Welt hat zahlreiche Vorbilder, wobei das Konzept einer fantastischen Parallelwelt auf E.T.A. Hoffmann zurückgeht.

Es gibt mehrere Parallelen zu Rowling, doch nicht nur Harry Potter hat Pate gestanden. Ein Buch über Bücher hat es schon öfters gegeben. Am bekanntesten ist Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ von 1979, in dem Bastian Balthasar Bux aus einem Antiquariat ein Buch klaut und in seinem Versteck auf dem Speicher seiner Schule liest, bis er selbst zu einer Figur in dem Buch wird. Bastian durchläuft in der Welt des Buches, Phantásien genannt, einen Emanzipationsprozess. Als er in seine Welt zurückkehrt, ist er bereit, sich den Herausforderungen seines Lebens zu stellen. Bereits der Dreiklang des Namens von Titelheld bei Ende und Titelheldin bei Meyer verweist auf eine Verwandtschaft. Allerdings ist das auf die Literatur (E.T.A. Hoffmann, Novalis) und Philosophie der Romantik bezogene Opus von Michael Ende deutlich stärker intertextuell und philosophisch aufgeladen.

Und noch ein Werk wird Meyers umfangreichen Roman inspiriert haben: „Die Stadt der träumenden Bücher“ von Walter Moers, 2004 erschienen. Auch unter Buchhaim, der titelgebenden, aus Buchhandlungen und Antiquariaten bestehenden Stadt, gibt es ein weit verzweigtes, mit Büchern gefülltes, Gefahren bereithaltendes Labyrinth. Moers spielt mit zahlreichen Traditionen der Weltliteratur, von Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ über Mary Shelleys „Frankenstein“ bis zu Gustav Meyrinks „Der Golem“, um nur die wichtigsten zu nennen – von dem kunstfertigen Spiel mit der grafischen Kunst ganz zu schweigen, ebenso von der für Moers typischen parodistischen, humoristischen Qualität. Der dritte Band der Trilogie der „träumenden Bücher“ steht indes noch aus. Auch Cornelia Funkes Tinten-Trilogie dürfte zu den Vorbildern Meyers gehört haben, wobei Funke konzeptionell wenig Neues zu bieten hat.

Was sind also die Unterschiede zu den genannten, bereits bekannten Romanen und Konzepten? Meyer ist, trotz aller Anleihen und Analogien, durchaus originell, die Welt und die Fähigkeiten der Bibliomanten werden schlüssig und spannend entfaltet. Die Parallelwelt ist eine Diktatur, es regiert die sogenannte Adamitische Akademie. Ihr Name ist ein gutes Beispiel für die nicht zu unterschätzende Verweisstruktur: Nach Walter Benjamin ist die adamitische Sprache die Sprache des Paradieses, eine verloren gegangene, aber allen Sprachen zugrunde liegende biblische Ursprache. Das kurze, aber schöne und für die weitere Handlung wichtige Märchen im Märchen, das „Märchen vom Mädchen, das auf der Grenze von Tag und Nacht geboren war“, erinnert an E.T.A. Hoffmanns Binnenmärchen, etwa an das „Märchen von der harten Nuß“ in „Nußknacker und Mausekönig“ von 1816.

Problematisch ist das Ausmaß an Gewalt in der Handlung, hier lässt sich von Ende über Rowling und Funke bis Meyer eine aus meiner Sicht negative Entwicklung beobachten. Bereits Rowling und Funke sind bereit, Figuren quälen oder sterben zu lassen, ohne dass diese Figuren irgendwelche Schuld auf sich geladen hätten oder einfach nur unsympathisch wären, und sie schildern die Qual und den Tod mehr oder weniger ausführlich. In einer Welt der Kontingenz und Sinnleere kann man dies entweder als neues realistisches Erzählen oder als Kollateralschaden ansehen. Für mich ist es ein Verlust an Sinnstiftung, zu der heute vielleicht nur noch Literatur und Film in der Lage sind; eine Sinnstiftung nicht als Gebot, sondern als Angebot, in einem Möglichkeitsverhältnis zur Realität. Dabei ist der Umgang mit Kontingenz und Gerechtigkeit, mit Gut und Böse in den genannten Romanen vollkommen uneinheitlich. Es gibt bei Rowling, Funke und auch Meyer ein Zweiklassensystem von Figuren. Köchin und Butler der Familie Faerfax werden, obwohl sie sich ihre Liebe nur noch durch Blicke gestehen können, brutal ermordet. Als Nebenfiguren können sie der Spannung geopfert werden, um die Gefahren für die am Ende geretteten Hauptfiguren umso größer erscheinen zu lassen. Der Sinn ist in diesem Fall die Erzeugung von Spannung, wie wir dies aus den Horror-Romanen von Stephen King kennen – aber ist das nicht zu wenig?

Kai Meyer zählt zu den bekanntesten deutschsprachigen Jugendbuchautoren. Er hat bereits, wie der Klappentext verrät, über 50 Romane veröffentlicht, dazu zählen verschiedene Reihen, die teilweise ihre intertextuellen Referenzen deutlich ausstellen („Doktor-Faustus-Trilogie“, „Nibelungengold“) und der jüngsten Tradition fantastischer Literatur zuzuordnen sind („Wolkenvolk“-Trilogie u.v.m.). Auch Bram Stoker hat sehr viel geschrieben, geblieben ist, als zeitloser Welterfolg, sein „Dracula“-Roman. Diesen Anspruch wird „Die Seiten der Welt“ wohl nicht erheben und muss ihn deshalb auch nicht erfüllen. Wer einen spannenden und unterhaltsamen, teilweise durchaus originellen, allerdings auch etwas blutrünstigen Roman lesen will, der vorrangig auf Jugendliche zielt, aber als All-Age-Roman auch älteren Leserinnen und Lesern Kurzweil zu bieten vermag, der darf zugreifen. Wer es etwas intertextuell gehaltvoller oder humorvoller möchte, ist mit den Büchern Endes oder Moersʼ, falls er sie noch nicht kennt, besser bedient.

Wer „Die Seiten der Welt“ schon gelesen hat und mehr von dem Tun und Treiben der Bibliomanten erfahren möchte, der kann bereits zur Fortsetzung „Die Seiten der Welt – Nachtland“ greifen. Interaktiv ist es sogar möglich (unter http://seiten-der-welt.de), sich den Widerstandskämpfern anzuschließen, um die „Tyrannei der Adamitischen Akademie zu beenden“. Eine Rebellion gegen eine Diktatur – darin knüpft Meyer an schätzenswerte Traditionen der Literaturgeschichte an. Schön ist auch, dass seine Heldinnen Frauen und Mädchen sind – noch bei Rowling sind es vor allem die Jungen und Männer, die den Zauberstab der Rebellion schwingen. Wenn wir Furias Lebenslauf weiter folgen wollen, dann dürfen wir gespannt sein und ihr die Daumen drücken.

Titelbild

Kai Meyer: Die Seiten der Welt. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
556 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783841421654

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