Der innere Orient der europäischen Moderne

Literaturwissenschaftler erklären, wie Rom, Paris und Berlin auf Impulse Babylons reagierten

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor 200 Jahren publizierte der Altphilologe Friedrich Creuzer sein vergleichend religionswissenschaftliches Werk „Symbolik und Mythologie der alten Völker“, in dem er erklärte, wie sehr die griechische Kultur und später auch das Christentum von orientalischen Motiven und Figuren beeinflusst wurden. 1841 schrieb Edgar Quinet seinen Essay über eine „Renaissance orientale“ und ließ im folgenden Jahr seine Studie „Du génie des religions“ folgen. Quinet wünscht sich darin eine Rückbesinnung Europas auf seine alten orientalischen Wurzeln, denn der Orient sei gar nicht das ganz Andere, Barbarische, sondern elementarer Bestandteil westlicher Zivilisationen – und das zu deren Bestem. 1978 veröffentliche Edward Said seine für die postkoloniale Theoriebildung folgenreiche Studie „Orientalism“, die nachzuweisen versuchte, wie westliche Konstruktionen des Orients diesen abwerten, verweiblichen und exotisieren, um die eigene Identität als ‚überlegene Westler‘ zu stärken.

Ein von Literaturwissenschaftlern bestückter Sammelband mit dem Titel „Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne“ erprobt nun ausführlich die These vom inneren Orient der westlichen Moderne. Werklektüren verfolgen die Spuren des Orients in europäischen Metropolen. In ihnen werden Bilder, Wertungen und Funktionen europäischer Bezugnahmen auf den Orient und auf dessen frühe Metropole Babylon im engeren Sinne von der Antike bis etwa 1930 herausgearbeitet und analysiert. Der von Barbara Vinken herausgegebene Band schließt programmatisch explizit eher an die vergleichenden Religionswissenschaftler der deutschen und französischen Romantik an als an Saids Oppositionsschema und an dessen Rekonstruktion kolonialistischer Diskurse. Die Arbeitshypothese lautet, dass mythische und mathematische Ostimporte noch die europäische Moderne mannigfaltig prägten. Dass also nicht nur, wie oft betont wird, Arabien und Alexandria die Renaissance und das Ende des Mittelalters ermöglichten, weil östliche Denker Aristoteles und andere griechische Quellen bewahrt und vermittelt hatten, sondern dass Babylon und der Orient auch als kardinale Bezugsorte der westlichen Moderne wirkten, die mitnichten nur auf die Hochkulturen Roms oder Athens zurückgriff. Wobei die Bandbreite dessen, was hier – von Astronomie und Mathematik bis zu Frauenkult und Luxuskonsum – als orientalisch in Anspruch genommen wird, ebenso weit ausfällt wie die Bewertungen dieser orientalischen Einflüsse als Bereicherungen oder Sündenfälle

In der Antike gab es noch keine Theorien der translatio imperii, die erst im Mittelalter entwickelt wurden, und die in der Neuzeit zunehmend auch die Vorgeschichte Roms (in Persien, dem Zweistromland und Griechenland) als Reichsübertragungen einbezogen. Als Anfangspunkt fungiert im breiten Panorama dieses Sammelbands Michèle Lowries Beweis, dass schon bei Debatten im römischen Bürgerkrieg politische Gegner von Cicero, Horaz oder Lukan als ‚innere Ägypter‘ bezichtigt wurden. Susanne Elm untersucht Augustinusʼ Verwendung des Babylon-Topos und auf welche Art und Weise der Kirchenvater schlichte, römische und bunt orientalische Kleiderordnungen opponiert, wenn er in De Civitate Dei das weltliche Leben Roms mit dem Leben in seinem Gottesstaat kontrastiert. Die Historikerin erklärt, wie im spätantiken Rom die geschmückte Kleidung der Barbaren den militärischen Dresscode der römischen Truppen und dadurch auch den Kleidungsstil der römischen Elite beeinflusst hatte. Augustinus empfehle einen Kleiderwechsel als Wechsel der Lebensanschauung: weg vom barbarischen Luxus- und Machtdress, hin zum christlichen Leben samt einfacher Toga. Statt in babylonischen Seiden und Perlen wandelten die Bewohner des Gottesstaats letztlich – im Jenseits – sowieso nackt und schmucklos.

Andrea Frischs Beitrag „Christian Humanism and the Double Translation of Rome“ zeigt, wie im christlichen Humanismus das päpstliche Rom in polemischer Absicht immer wieder mit Babylon, aber auch mit der im 16. Jahrhundert stetigen Bedrohung durch die ottomanische Türkei assoziiert wurde. Dabei wurden etwa im Frankreich der Religionskriege auch die Protestanten mit babylonischer Lüsternheit und Ausschweifung in Verbindung gebracht. Albrecht Koschorke erläutert vertrackte Funktionsweisen orientalistischer Motive im barocken Trauerspiel. Zwar waren sich im größeren historischen Rahmen Reformatoren und Gegenreformatoren einig in ihrer Ablehnung der Türken, die sich 1683 bis vor Wien vorgekämpft hatten. Doch waren die wichtigen Barockdichter Gryphius und Lohenstein zugleich politische Vertreter des schlesischen Protestantismus, der den mächtigen katholischen Habsburgern als Minorität gegenüberstand. Diese Konstellation habe sich auf die Modellierung von Konflikten in ihren Trauerspielen ausgewirkt. So können in Gryphiusʼ „Catherina von Georgien“ die orientalischen Despoten wie beispielsweise der Perserkönig quasi als Stellvertreterfigur der österreichischen Großmacht gelesen werden.

Andrea Polascheggs Aufsatz über die „deutsch-babylonische Genealogie der Moderne“ ragt  aus dem insgesamt informationsreichen und meist argumentationsstarken Sammelband heraus. Polaschegg umreißt in einem ersten Schritt die politisch, geistesgeschichtlich und archäologisch besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Vorderen Orient um 1900. Der Historismus war offen für noch eine weitere antike Kultur (neben der Griechischen, Hebräischen, Germanischen, Indischen und Persischen). Die deutsche Politik und Wirtschaft planten die ab 1904 gebaute Bagdad-Bahn. Und die Archäologen begannen unter der Leitung Richard Koldeweys mit ihren Grabungen im Gebiet des alten Babylon. Anschließend geht Polaschegg darauf ein, wie sich die moderne deutsche Babylonbegeisterung artikulierte in zahlreichen Karikaturen aber auch in modernistischen Bauformen oder im großen 1929 eröffneten Berliner Kino Babylon. Letztlich hebt sich Polascheggs Rekonstruktion der deutschen Babylon-Diskurse deutlich ab vom Rest des Bandes, indem sie die mathematisch-struktural-astrologische Seite der babylonischen Kultur und deren Rezeption im deutschen Literatur- und Geistesleben der Moderne herausarbeitet. Stehen Babylon und der Orient in quasi allen anderen Beiträgen symbolisch für sensualistische Tendenzen dekadenter Entgrenzung, für Luxus, Gier, Verweiblichung, so listet Polaschegg moderne Autoren auf, die sich auf  Babylon als Ursprungsort elementarer astronomischer und mathematischer Kenntnisse berufen.

Heute weithin vergessene Popularisatoren der babylonischen Tierkreismythen und Exegeten der Gilgamesch-Dichtung verbreiteten um die Jahrhundertwende die Kunde von den bahnbrechenden Kulturleistungen der Altbabylonier. Erzählwerke bedeutender Autoren – von Alfred Döblins Montageroman „Babylonische Wanderung“ sowie seinem Werk „Berge, Meere, Giganten“ über Paul Scheerbarts Astraldichtung bis zu Hanns Henny Jahns großen Romanen, die lesbar seien als ökologische Adaptationen ‚babylonistischer Kulturanthropologie‘ – bringen das damals zirkulierende Wissen um altorientalische Kulturtechniken und Weltanschauungsformen in die modernistisch-avantgardistische Dichtung ein. Mit den Ordnungssystemen der babylonischen Stern- und Kalendermathematik, die sich mittels Tierkreisdichtungen als literarisches Formprinzip anwenden ließen, entdeckt die Berliner Germanistin gar eine frühe Geburt des Strukturalismus in Babylon und rekonstruiert deren Wiederentdeckung im deutschen Modernismus – zeitgleich mit der Etablierung des Strukturalismus in der Sprachwissenschaft und der Erzählforschung.

Cordula Reichart versucht, in Johann Wolfgang von Goethes „Römischen Elegien“ ein babylonisch-griechisch orientiertes Rom-Bild zu profilieren, das sich von klassischen Rom-Topoi abhebe. Denn statt auf das römische Imperium beziehen sich Goethes Gedichte vor allem auf die Liebesgötter Amor und Priapus. Nicht klar wird allerdings, was daran genuin „babylonisch“ sein soll, denn der Priapus-Kult entstand zwar in Kleinasien, aber wohl doch erst lange Zeit nach der babylonischen Kulturblüte.

Heide Volkening zeigt in „Alltag und Orient“, wie E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ im Kontext orientalischer Interessen und Übersetzungen der Frühromantiker gelesen werden kann als Verhandlung des Zusammenstoßes der orientalischen Märchenwelt mit der Armseligkeit der eigenen europäischen Alltagswelt, in der der Schreiber Anselmus in der Erzählung letztlich doch bedürftig zurückbleibt. Gründlich diskutiert werden die diversen Schreibszenen des Kopisten Anselmus, der arabische Texte kalligraphisch abmale, ohne sie zu verstehen. Eine Bezugnahme auf die Stadt oder den Kult Babylons kann Volkening freilich nicht aufweisen.

Motivische Bezüge zwischen Goethes „Faust“, Victor Hugos Esmeralda aus dem „Glöckner von Notre Dame“ und Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ arbeitet Eckart Goebel in seinem Aufsatz heraus. In Manns Figur der syphilitischen Prostituierten Hetaera Esmeralda erkennt er eine Anspielung auf Hugos schöne Esmeralda, die sich trotz allerlei orientalisierender Projektionen im Verlauf von Hugos Roman herausstellt als „von ‚Zigeunern‘ gestohlenes solides französisches Kind“. Mann habe seine Bezugnahme auf Hugos Erfolgswerk nicht an die große Glocke gehängt, doch verhandle er mit der Liebe des genialen Tonsetzers Leverkühn zu Esmeralda zugleich die intrikaten Beziehungen deutscher Kultur zur französischen Zivilisation. Das oft bemerkte Fehlen direkter Goethe-Bezüge im „Doktor Faustus“ erklärt der Komparatist, Manns „exzessiven Verschlüsselungskontext“ dechiffrierend, als raffinierte Dreiecksbeziehung.

Anna-Lisa Dieter weist in ihrem Aufsatz „Adonis in Paris oder Orient im Okzident“ darauf hin, dass Honoré de Balzac in seiner „Comédie humaine“ in der Figur des schönen Aufsteigers Lucien de Rubempré zahlreiche Elemente des Adonis-Mythos verarbeite. Dieser Mythos – dessen Bezüge zum Orient und Babylon im Aufsatz nicht ausführt werden – diene als Baustein von Balzacs Orientalisierung der Kapitale. Die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts sei durchwirkt von einem ‚inneren Orient‘, der sich in seinem Romankosmos am markantesten verkörpere im bazar ignoble der Galerien am Palais-Royal. Diesen orientalisch wirkenden Marktort wiederum deutet Dieter als emblematische mise en abyme des „Romans über alles“, von dem Balzac träumte. Zu Recht weist sie darauf hin, dass trotz der moralischen Vorbehalte gegen die orientalischen Zustände in Paris Balzacs eigenes synkretistisches Schreiben von diesen als orientalisch charakterisierten Personen, Orten und Praktiken nicht nur fasziniert, sondern in seinen poetischen Verfahren auch selbst zutiefst affiziert sei.

John T. Hamilton liest Theophile Gautiers Novelle „Une Nuit de Cléopâtre“ als Demonstrationstext für dessen Konzept einer autonomen Kunst, seines lʼart pour lʼart. Am Beispiel der Selbst- oder Fremdbestimmungskonflikte der Figur Cleopatra wird der beanspruchte Weltbezug seiner Kunst (und dieser Figur) allerdings mehr behauptet als expliziert. Statt direkte Welt- oder Babylonbezüge herzustellen, verweise Gautiers Poetik wie seine Novelle gerade durch ihren elliptischen oder parenthetischen Charakter auf das Abwesende. Womit Hamilton eine Dialektik von Referentialität und Selbstreferentialität der Kunst konstatiert, von der nicht recht deutlich wird, was genau sie dem Orient schuldet.

Markus Messlings Aufsatz „Massimo Bontempelli und Emilio Cecchi“ macht deutlich, wie sich vor dem Hintergrund geistesgeschichtlicher Großtheorien des 19. Jahrhunderts, die Aufstieg, Konkurrenz und Niedergang von Nationen und Rassen modellierten, zwei italienische Autoren und Zeitschriftenmacher der 1920er-Jahre vor Asianisierung und Dekadenz Europas fürchteten. Massimo Bontempelli und Emilio Cecchi bezichtigten in wichtigen Zeitschriften wie „Solaria“ und „La Ronda“ wahlweise das dekadente Bürgertum, die Massengesellschaft, den Bolschewismus oder den Symbolismus als „orientalischen Kulturzerstörer“, womit Messling vorführt, wie willkürlich und flexibel Orientstereotypen auf Angstobjekte jeglicher Couleur projiziert werden können.

Michael Rieser liest in seinem Aufsatz Gautiers und Charles Baudelaires „Spleen lumineux de lʼorient“ als Echo auf die Gewaltgeschichte Frankreichs seit der Revolution. Napoleons Träume der Errichtung eines dauerhaften Imperiums durch die Eroberung des Orients waren in Ägypten bald gescheitert. Der Spleen als traurige Bewusstseinsform sei keineswegs ein Import aus England, sondern entzifferbar als Resultat gescheiterter französischer Träume einer translatio imperii, wie Rieser feststellt.

Barbara Vinkens fulminanter Aufsatz „Nana: Venus à rebours. Das Paris des II. Empire als Wiederkehr Roms/Babylons“zeigt, wie vielschichtig Emile Zolas mythische femme fatale Nana auf Babylon verweist. Zolas Kurtisanenroman arbeite durchgehend mit Anspielungen auf die Venus-Figur, deren Kult mit dem römischen Kaiserreich verbunden und mithin antirepublikanisch war. Das machte die Venus für den Demokraten Zola zu einem Symbol der Dekadenz. Zudem zeigt Vinken, wie der Kult der großen Göttin vor und bei Zola synkretistisch funktionierte. Im ganzen Orient gab es unter verschiedenen Namen solche Göttinnen als Urbilder des Lebens: Astarte, Ischtar, Inanna, Holda, Aphrodite und Venus. Zolas Roman schließe sich der jüdisch-christlichen Verurteilung dieser Frauenkulte an und denunziere diese Liebeskulte als Götzendienst, als Todes- statt Lebenskulte. Doch stehe noch der katholische Marienkult in dieser von Zola bekämpften Tradition, wie sich angesichts von Nanas Inszenierung als Maria/Venus beim Pferderennen zeige. Der Autor schreibe hier im Einklang mit den damals neuen mythologischen Erkenntnissen Creuzers und seiner Nachfolger, wonach mit dem Kult der Venus im Rom der Kaiserzeit der Orient triumphiere: „Rom mochte die ganze Welt erobert haben, im Venuskult eroberte der Orient Rom.“ Der Marienkult wiederum habe viele dieser synkretistischen Elemente integriert und werde bei Zola kritisch beleuchtet als „Sinnbild einer hysterisch, pervers-dekadenten, sterilen Sexualität, die in Wahnsinn und Tod treibt“. Zola sah das Paris des zweiten Kaiserreichs (dem er in seinem Romanzyklus den Prozess macht) wie das kaiserliche Rom im Banne des Venus-, Astarte- und Cybele-Kults. Dieser orientalisch-römische Frauenkult sei für ihn jedoch erst durch die katholische Kirche und ihren Marienkult zu globaler Geltung gelangt, konstatiert Vinken.

Cordula Reicharts zweiter Beitrag zum Sammelband, „Der ewige Streit um Victoria. Kult und Kulturkampf bei Proust“, zeigt, wie in Marcel Prousts „Recherche“ der Kult um die schöne Frau Odette mit dem römischen Victoriakult enggeführt wird, und wie der Erzähler dabei schließlich zu einer grundsätzlichen Kritik am Kultus – auch am eigenen, zuvor praktizierten – gelange. Reichart schließt mit dem Fazit, dass diese Distanzierung von der Idolatrie zur Voraussetzung von Prousts Kunstkonzept wurde und eine „neue Stufe der Bewusstseinsgeschichte“ markiere. Inwieweit Prousts Kunstkonzept selbst wiederum idolatrisch-kultische Züge aufweist oder dahingehend rezipiert wurde, thematisiert Reichardts Aufsatz leider nicht.

Ein Glanzstück gelehrter Lektüre, Spurensuche und Puzzlearbeit ist Rebekka Schnells Studie über Prousts Venedig. Die Münchner Romanistin zeigt, wie dieser Ort und seine vielfältigen orientalischen Symbole (Vögel wie der Pfau und der Phönix, aber auch bestimmte auf Mutterfiguren verweisende Wassermotive) wiederholt auftauchen an poetologisch zentralen Passagen der „Recherche“. Die mit Mustern der orientalischen Antike und Renaissance geschmückten Kleider des venezianischen Schneiders Fortuny schenkt Marcel Albertine und lässt sie so ein Stück des orientalischen Venedig verkörpern, das für ihn mit erotischen, hermeneutischen und metaphysischen Versprechungen möglicher Unsterblichkeit aufgeladen ist. Bei Prousts später verworfenem Vorbild John Ruskin erschien Venedig als Verfallsort, an dem in der Renaissance die Gotik überwunden wurde, wobei orientalische Götzendienste das Christentum bedrängten, und mit dem Prunk antiker Kunst und Architektur die einst heilige christliche Stadt zu einem neuen Gomorrha und Babylon mutierte. Schnell argumentiert, dass Prousts Text durch ein unaufhörliches Changieren geprägt sei, weil Bilder der Stadt wie der Mutter stetig als Kippfiguren wirkten, die zwischen heilig und befleckt schillern. Prousts Venedig oszilliere zwischen babylonisch und christlich. Es verkörpere eine Zwischenlage, die Schnell auch ökonomisch und historisch situiert als die einer Hafen- und Handelsstadt, die systematisch die Vermischung von Ost und West sowie Nord und Süd betreibe.

Rebecca Schnell beschließt ihre kombinatorische Spurenlese venezianisch-orientalischer Kippfiguren mit einer Deutung der Schluss- und Schlüsselszene aus „Le Temps retrouvé“. Marcel erinnert sich durch die Wahrnehmung der unebenen Steinplatten im Hofe der Guermantes an gleichfalls unebene Bodenplatten im venezianischen Baptisterium. Die Interpretin analysiert das Glücksgefühl der dadurch leuchtend in Marcels Erinnerung aufscheinenden Lagunenstadt genauer. Es handele sich auch hier im Finale nicht um ein von erotischem Verlangen (nach Albertine) und schuldhafter Verstrickung in ambivalente Beziehungen zur eigenen Mutter bereinigtes Erinnerungs-Glück. Dieses vermeintliche Erlösungsfinale offeriere auch keine ungebrochene Vision eines über den Tod erhabenen Erzähler-Ichs. Denn direkt im Anschluss an diese Glücks- und Heilsbilder erinnert sich der Erzähler an eine Figur aus den Märchen von „Tausendundeine Nacht“ – und damit zugleich an seinen inneren Orient des Begehrens und der schuldhaften Distanzierung von seiner Mutter, wie Schnell mit Verweis auf eine 200 Seiten zuvor stattgefundene Verschränkung des Erzählers mit einer Figur aus „Tausendundeine Nacht“ verdeutlicht. Auch in Marcels abschließenden Erinnerungsvisionen erscheine Venedig nicht nur azurblau leuchtend, sondern stetig im Verbund mit jenen von Schnell entschlüsselten Indizien (Pfauen-, Mutter- und Wassermotiven), die noch in der vermeintlich euphorisch ungebrochenen finalen Vergangenheitsvergegenwärtigung ein letztes Mal das abgründige Schillern von Figuren als Prousts poetisches Verfahren vorführen.

Vinkens initiale Vermutung, dass in zahlreichen Texten der europäischen Literatur der Orient nicht – wie es Orientalismus-Kulturwissenschaftler im Anschluss an Edward Said oft behaupteten – das Andere des Westens sei, sondern dass europäische Autoren in mannigfachen Weisen den inneren Orient der modernen Zivilisation anspielen oder auserzählen, diese These einer Translatio Babylonis im Herzen unserer modernen Kultur wird in vielen Beiträgen dieses lesenswerten Studienbuchs mit guten Gründen plausibilisiert. Wünschbar wären vielleicht noch ergänzende Beiträge zur Bedeutung und Vergegenwärtigung Babylons in der jüdischen Kultur- und Literaturgeschichte, ferner auch zum Weiterleben dieser Babylon-Rückgriffe und Renaissancen in den letzten 100 Jahren (der Band endet mit der klassischen Moderne der 1920er-Jahre). So spielt Babylon etwa in den Mythen der Rastafari auf Jamaika und in der Reggae-Kultur eine eminent wichtige Rolle, wobei hier gerade das westliche, herrschende System als Babylon-System geschmäht wird durch Analogiesierung des jüdischen Exils in Babylon mit der Geschichte der afrikanischen Sklavenverschleppung.

Krieg, Gewalt, Terror und die nach Europa ziehenden Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien verschaffen diesen Untersuchungen über die Migration kultureller Motive und die Wirkung orientalischer Bilder und Redefiguren in der europäischen Moderne nun eine zusätzliche Virulenz. Doch auch ohne diese Nachrichtenlage gibt uns dieser Band genügend zu denken im Hinblick auf unser Selbstbild als Moderne, als Westler, als Erben Roms und Babylons.

Titelbild

Barbara Vinken (Hg.): Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
272 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770557202

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