Nach wie vor schicke Provokation oder doch etwas in die Jahre gekommen?

Hanna Klessinger widmet sich der Historisierung der „Postdramatik“

Von Markus Oliver SpitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Oliver Spitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans-Thies Lehmann, 2010 in Frankfurt am Main emeritiert, kann sich das Verdienst anheften, den Begriff „Postdramatik“ mit seiner vielfach übersetzten Studie aus dem Jahr 1999 bühnen- und gesellschaftsfähig gemacht zu haben. Nicht mehr die Inszenierung des vorgegebenen dramatischen Textes stehe, so Lehmann, im Vordergrund, sondern vielmehr die Negation eines Gutteils der Essenz der dramatischen Situation, nämlich der Linearität der Handlung und des sinnstiftenden Dialogs. Neben der Befreiung von der Textvorlage seien für die Postdramatik potenzierte Intertextualität und eine mitunter ins Extrem gesteigerte Offenheit der Struktur charakteristisch. Hanna Klessinger fügt im Rahmen ihrer Untersuchung mit dem Titel „Postdramatik. Transformationen des epischen Theaters bei Peter Handke, Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz“ die Adaptation von Erzähltechniken für die Bühne zum Zweck der Brechung des Illusionstheaters, die Notwendigkeit des Füllens der zahlreichen Leerstellen sowie das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Pop hinzu. Postdramatische Stücke als „Diskurstheater“ sind ihrer Meinung nach durch einen hohen Grad an Selbstreflexivität gekennzeichnet.

Wann jedoch setzt die Implementierung solcher „postdramatischer“ Elemente ein? Etwa bereits mit Antonin Artauds théâtre de la cruauté? Oder doch erst mit Samuel Beckett? Klessinger steigt zunächst auf den Urgrund des Begriffes hinab und stößt dort neben Gertrude Stein, welche sich auf das subjektiv-formalistische Theater fokussierte, auf Bertolt Brecht, was auf den ersten Blick aufgrund der gegensätzlichen Ausrichtung beider Autoren etwas überrascht. Es trifft jedoch zu, dass die Auffassung von Text als Material bei Brecht und Stein gleichermaßen angelegt ist. Die Postdramatik hat es vermocht, sowohl die strukturelle Offenheit, wie sie in den Steinʼschen Stücken angelegt ist, als auch die Brechtʼsche Episierung in Form von „Narrativierung“ zu absorbieren – Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ ist hierfür ein Beispiel.

Detailliert stellt Klessinger insbesondere die Brecht-Bezüge bei Handke, Elfriede Jelinek und Heiner Müller heraus. Sie verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass die Postdramatik in der Tat als produktive „Transformation des epischen Theaters und seiner Modellsituationen“ angesehen werden kann, selbst wenn diese Elemente nicht mehr wie noch bei Brecht als Teil eines konzeptionellen sozialkritischen Ganzen deutbar sind. Klessinger hat ihre Beispiele umsichtig gewählt, denn sie stützen ihre These und decken dabei den Zeitraum von der Frühphase der Postdramatik in den 1960er-Jahren bis hin zur Mitte der 1990er-Jahre ab. Die Verfasserin führt ihre Leser auf eine wohlstrukturierte und für eine Habilitationsschrift erfreulich gut lesbare Weise durch dieses Geflecht und scheut dabei auch vor Umkreisungen des Themas zum Zwecke der besseren Veranschaulichung nicht zurück.

In Handkes „Publikumsbeschimpfung“ sieht Klessinger den „Gründungstext“ der deutschsprachigen Postdramatik. Handke strebte zwar kein politisches Theater an, dennoch wirkte sein provokatives, gegen das traditionelle wie auch das epische Theater gerichtetes Formexperiment zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung durchaus politisch. Erst später wurde es als gegen alles und niemand gerichtete Provokation kritisiert.

Hinsichtlich Heiner Müllers „Hamletmaschine“ zieht Klessinger eine Parallele zur seriellen Kunstproduktion Andy Warhols. Wie beim Betreiber der „Factory“ werden Autor oder Autorin dabei zum Teil der Kunst, die er oder sie produziert. Aus der Ansicht Müllers, dass Kunst nicht dem Kopf, sondern dem Bauch entspringe, resultiert die Traumlogik, die seinen Stücken ab der „Hamletmaschine“ eigen ist; Text als Material ist einerseits durch seine hochgradige Subjektivität und Offenheit gekennzeichnet, bleibt andererseits als Allegorie allerdings auch politisch interpretierbar. Dies spiegelt auch Müllers eigene, in Bezug auf Jean-Luc Godard getätigte Äußerung wider, es gelte nicht, politische Kunst zu machen, sondern politisch Kunst zu machen.

Elfriede Jelinek hat ihr mitunter hochgradig intertextuelles Theaterschaffen selbst als „Parasitärdrama“ bezeichnet. Aus der verfremdenden Übernahme von Elementen aus dem Fundus beispielsweise des Volkstheaters wie auch aus dem Kokettieren mit dem schlechten Geschmack resultiert laut Klessinger zu einem Großteil die Aura des Skandalösen, die Jelinek seit der Uraufführung von „Burgtheater“ umgibt.

Etwas zu kurz kommt in diesem Zusammenhang Rainald Goetz. Klessinger hebt auf die Darstellung von Gewalt als ästhetisches Phänomen in dessen Trilogien „Krieg“ und „Festung“ ab. Dies hätte beispielsweise durch die Erörterung der Frage, inwieweit es sich bei Goetz’ Schaffen um ein Gesamtkunstwerk handelt, produktiv abgerundet werden können.

Klessinger hat sich die „Historisierung“ des Post-Dramas zum Ziel gesetzt. Natürlich verkennt sie dabei nicht, dass auch diese Theaterform mittlerweile an Elan eingebüßt hat, und Gegenbewegungen beziehungsweise Modifikationen hervorruft. Die Studentenbewegung, aufgrund ihrer antibürgerlichen Ausrichtung sozusagen eine der Geburtshelferinnen der Postdramatik, stellt im literarischen Diskurs nur mehr eine Reminiszenz dar. Die „Wiener Gruppe“ um Gerhard Rühm, Hans Carl Artmann und Konrad Bayer mit ihren damals radikalen dramatischen Formexperimenten ist heute Teil des Theaterbetriebs – beerbt gerade von Handke und Jelinek. Brecht sagte einmal, das Theater theatere alles ein. Bleibt also im Hinblick auf die „Postdramatik“ die Frage, ob das Pendel demnächst nicht wieder zurückschwingt, eine Rückkehr zwar nicht zum Illusionstheater, aber doch zur Mimesis-Konzeption oder auch zum klassisch-epischen Theater erfolgt. Das Warten auf die Post-Post-Dramatik hat begonnen.

Titelbild

Hanna Klessinger: Postdramatik. Transformationen des epischen Theaters bei Peter Handke, Heiner Müller, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz.
De Gruyter, Berlin 2015.
284 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110370027

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch