Lyrische Quickies
Zur deutschen Erstveröffentlichung von Henri Michaux‘ „Zeichen. Köpfe. Gesten“
Von Matthias Hennig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn Frankreich ist Henri Michaux (1899-1984) ein Name, der nicht nur in der Klassiker-Ausgabe der an Messbücher erinnernden Bibliothèque de la Pléiade verewigt ist, sondern auch auf andere Autoren und Künstler eine magische Anziehungskraft ausübt. Davon zeugen die Bücher von Schriftsteller-Kollegen wie André Gide, Maurice Blanchot (postum ediert), Michel Butor, Bernard Noël oder Jean-Michel Maulpoix. Seine 1972 bei Albert Skira in Genf unter dem Titel Émergences-résurgences erschienene Text-Bild-Sammlung liegt nun erstmals in einer deutschen Übersetzung vor, verantwortet vom Michaux-Kenner Helmut Mayer und liebevoll herausgebracht vom Zürcher Piet Meyer Verlag.
Michaux‘ als Auftragswerk entstandenes Buch feiert die Geste des Malens als Befreiung aus einer als erstarrt wahrgenommenen Welt der Schrift, der Zeichen und der Bedeutungen. Michaux ist Poet, kein professioneller Maler; als Autodidakt mussten ihm Pinsel, Zeichenstift und Tuschefeder erst nach und nach für die künstlerische Produktion zuwachsen. Sein Zeichnen versteht sich als eine Form dilettantisch „blinder Erkundung“, die sich ihrer eigenen Antriebskraft überlässt und weder Plan noch Ziel kennt. Die meisten der titellosen Zeichnungen enthalten keinen einzigen geraden oder glatten Strich. Als regellose „piktographierte Verläufe“, als „Phrasierung“ von Bewusstseins- und Lebensvorgängen sind sie rasch dahingekleckst: schraffiert, verwischt, zittrig, faserig, in ihren Wegen und Wendungen durchbrochen, ausgestellt in einem randlosen Nirgendwo, gerahmt nur vom Format des Papiers.
Mithilfe von Zeichen- und Schreibbewegungen werden paradoxe Gegenwelten entworfen, die zugleich Entstehen, Fixierung und Auflösung ihrer Sujets in Szene setzen. Poetisches Vokabular sowie Lineaturen und Punkte sind in Datenströme umgewandelt, die in ihrer skizzenhaften Anordnung diskontinuierlich bleiben, an den Rändern ausfransen, ins Diffuse verschwinden, mit ihren Linien und Vektoren ins Ungefähre, ins Gegenläufige, in eine Vielzahl von Richtungen verweisen. Als kompositorische ‚Ganzheit‘ können sich die Strich-und-Linienschwärme nur behaupten, indem sie als fortlaufende „desagrégation“ dekonstruiert und zerbrochen sind.
In „Zeichen. Köpfe. Gesten“ stehen weniger Gegenstände und Inhalte als Prozesse, Bewegungen und Existenzformen im Vordergrund des Zeichnens und Schreibens. Michaux‘ Texte, zumal diejenigen aus der zweiten Schaffenshälfte (den 1950-1980er Jahren), haben deshalb den Vorteil, dass man überall ein- und wieder aussteigen kann. Sie sind nicht daraufhin angelegt, der Chronologie eines Plots oder einer kontinuierlichen Versfolge streng Gehorsam zu leisten. Sie sind luftig, flirrend, porös – für lyrische Quickies geeignet, für eine kurze Spanne an Zeilen, die man zwischen zwei U-Bahn- oder Tramstops aufnehmen kann. Sie stehen sowohl homöpathischen als auch exzessiven Lektüren offen.
Henri Michaux ist ein meist melancholischer Dionysiker, dessen Poetik unter dem Zeichen der ewigen Lebendigkeit und Bewegtheit des Feuers steht. In der Abbildung und Nachzeichung von Denk- und Schöpfungsprozessen entwirft er eine Ästhetik des Va-et-vient, die die Flüchtigkeit und Energetik von Bewusstseinsvorgängen als Proto-Schriften und Proto-Formen inszeniert: weder sind sie ganz in die Welt ein- noch vollständig aus ihr herausgetreten; geisterhaft verkünden sie ihren Übergangszustand zwischen kreativer Genese und ästhetischem Ende. Auf autobiographische Bezüge von Michaux‘ sich über Jahrzehnte entwickelnder Hinwendung zur Malerei verweisen schließlich der kundige Kommentar sowie das kurze Nachwort Helmut Mayers. Mit seinen exzellenten Reproduktionen und seinem feinen Einband liegt der nicht zu schwere Band gut in der Hand – so werden Bücher gemacht, die man lesen will, auch des Inhalts wegen.