Der Titel von Bernd Stieglers Buch „Photographische Porträts“ ist eine Irreführung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bernd Stiegler ist Literaturwissenschaftler in Konstanz, vielfach vernetzt in Literatur- und Fotogeschichte und beider Theorie, ist Kurator, Katalogautor und Mitträger der Suhrkamp Kultur. Amazon notiert über 270 lieferbare Bücher von ihm, darunter das nun erschienene unter dem Titel „Photographische Porträts“. Auf dem Cover sieht man frühe Selfies des großen französischen Fotografen Nadar, angeordnet nach Art eines polizeilichen Kontaktstreifens, darunter also den auf Anhieb plausiblen Titel „Photographische Porträts“. Wer das Buch aufschlägt, sieht aber verwundert nahezu ausschließlich Architektur- und Stadtaufnahmen, zugeordnet den elf Fotografen, die hier behandelt werden. Allmählich dämmert es dem Leser, dass es hier nicht um visuelle Kunst sondern um biographische geht, also um elf von Stiegler verfasste Porträts bekannter Fotografen und Fotografinnen nach Art der Typologie von Elias Canettis „Der Ohrenzeuge“, wenn auch weniger originell. „Ein Kolibri der Moderne“, „Ein Nachgeborener der Kunstphotographie“, „Ein Photograph zwischen Form und Gegenstand“, „Ein Pionier der Photographie“ und so fort, heißen die Unterschriften – und wer sich noch tiefer ins Buch begibt, realisiert, es handelt sich um eine Sammlung neuerer Aufsätze aus den letzten 5 Jahren, geschmeidig komponiert, schnittig kommentiert und mit einem Titel versehen, der ganz falsche Erwartungen weckt.

Ein Essay über eine Person wird natürlich auch in der Literatur(wissenschaft) als „Porträt“ bezeichnet, um den biographischen Anteil des Textes hervorzuheben. Dass ein ausgewiesener Fährmann zwischen Literatur- und Fototheorie, zumal ein Herausgeber von Schriften Hans Blumenbergs, den Inbegriff des Indexikalischen oder wenigstens Identitären – nämlich ein historisch wie medizinisch wie auch kriminaltechnisch verwendbares Menschenfoto – in den Unrang einer Metapher erhebt, also als ikonisches Zeichen ausgibt, um seine Essays damit zu bezeichnen, oder es zulässt, dass ein Verlag dies tut, ist eine Irreführung.

Claudia Schmölders

Titelbild

Bernd Stiegler: Photographische Portraits.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015.
251 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783770559411

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