Eine Anormalisierung des normalen Erzählens

Über Clemens Setz’ Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der gute alte Suhrkamp Verlag inszenierte mit großem Aufwand das Erscheinen von Clemens Setz’ neuem, mehr als 1000 Seiten umfassenden Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Lang erwartet, in einem Auszug von Setz schon beim Suhrkamp-Kritikerempfang 2014 präsentiert, nun mit publizistischer Prominenz in den Feuilletons begleitet, von einem Projekt zum Begleiteten Lesen sekundiert und unverständlicherweise doch nicht auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis gelangt.

Clemens Setz schreibt die Geschichte von Nathalie Reinegger, die als Betreuerin in einem Heim für geistig Behinderte arbeitet und Alexander Dorm betreut, den ehemaligen Stalker von Christopher Hollberg, dessen Frau sich infolge der Dorm’schen Nachstellungen das Leben genommen hat. Seit Dorms Internierung in einem Heim hat sich eine seltsame Kooperation ergeben, denn Christopher Hollberg, das ehemalige Stalking-Opfer, besucht Woche für Woche den seligen Alexander Dorm, der sich nun dessen subtile Demütigungen gefallen lassen muss. Aber wie jede inhaltliche Zusammenfassung oder Reduktion eines Romans auf seine Handlung transportiert diese Beschreibung nichts von der Faszination und der erzählerischen Leichtigkeit, die von „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ausgeht. An dieser Stelle können nur die ersten Zentimeter des Bergwerks beleuchtet werden, dessen Existenz als seltsame Romanklassifizierung im Klappentext behauptet wird. Es sind mehrere Dinge erstaunlich an diesem Buch.

Setz’ Schreiben und Erzählen, die Dialoge, die exponierten Innenwelten und die in der Handlung dargestellten und aufgelösten Konflikte, die Strukturierung der Motive sind – wie man es bei seinen Büchern gewohnt ist – leichthändig, elegant und so, dass man aufgrund all der unterhaltsamen Beiläufigkeit des Erzählens die Machart kaum bemerkt. „Ach, wenn man doch nur so schreiben könnte wie der da“ habe Hans Magnus Enzensberger bei einem Aufeinandertreffen der beiden Schriftsteller in Schweden gesagt. Setz erschafft die Figurenwelt in seinem im Phantasie-Graz angesiedelten Roman derart beiläufig, dass man als Leser nur staunen kann, wenn man für Momente wieder aus der in aller Breite entfalteten Geschichte auftaucht.

Erstaunlich und verwunderlich ist gewiss eines – und diese Frage ist für den Rezensenten noch lange nicht befriedigend beantwortet: Wieso ist dieser Roman so chronologisch, so personal, so linear erzählt? Dass dies Teil einer Strategie ist, scheint sicher, ist doch „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ Setz’ Versuch, aus dem Kopf einer Figur zu erzählen. Er hat sich selbst das Ziel gesetzt, totale Einblicke in das Innenleben der Nathalie Reinegger zu geben. Erwartete man nach der ins Hochkomplexe und Unübersichtliche getriebenen „Disfunktionalität als literarische Strategie“ (Wilhelm Hengstler) – gemeint ist Setzʼ letzter Roman „Indigo“ – bei der Ankündigung von 1000 Seiten einen Wurf, der diese Zersplitterung und zur Romankunst synthetisierte Aufspaltung vieler Ebenen noch einmal mehrere Stufen erhöhen würde, kann man nun der vermeintlichen Einfachheit nur misstrauen.

Zur Meisterschaft getrieben ist Setz’ Integration der Populärkultur durch Textzeilen aus Popsongs, Anspielungen auf Filmklassiker und Autorreferenzen wie Stephen King und John Updike. Weltliterarische Streifzüge in den Motti von beispielsweise Ezra Pound oder Hinweise auf Samuel R. Delany und Christian Kracht in der Danksagung scheinen ebenso auf wie Internetfundstücke des Autors, die er ja schon in seine Gedichte integriert hatte. War Halldór Laxness noch die Lieblingslektüre des Mathematiklehrers Clemens Setz in „Indigo“, so ist sein Werk nun wiederum eine Referenz. Wir lesen von einer Mischung aus Hochsensibilität, der Begeisterung für ASMR-Videos, der Setz schon in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ nachgegangen ist, Grand-mal-Anfällen und etwas ungewöhnlichen Sexualpraktiken. Es scheint hier bei Nathalie Reinegger die Grenze zum Interessensgebiet von Clemens Setz äußerst durchlässig zu sein. Zwar ist ihr Interesse für Livesendungen und Blowjobstreifzüge wohl figurenspezifisch, aber Setz’ Manier, Stimmen mit dem iPhone aufzunehmen, seine hochsensible Wahrnehmung und der sanftmütige Hase, der im Roman wieder vorkommt und emblematisch für den Autornamen steht, scheinen verbürgt. In der Setz-Forschung ist noch nicht Konsens, was bei „Indigo“ in der Selbstpoetisierung des Mathematik-Lehrers Clemens Setz offenkundig war: Die Themen des Buches sind die Themen des Autors. The Artist is present, der Autor ist selbst Teil seines literarischen Projektes, ja wird mithilfe der Literarisierung zur Figur. Man darf angesichts dieses großen Wurfs gespannt sein, was Setz und Kathrin Passig in ihrer bevorstehenden Tübinger Poetikvorlesung dem Publikum mitteilen werden.

„Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ist ein Roman über Stalking, zumindest auf den ersten Blick, eine Beobachtung des Beobachtertums, das sich zwischen mehreren Figuren wiederholt. Natürlich greift der Roman auch auf den Leser über, gerade hinsichtlich seiner Normalisierung von Anormalitäten und hinsichtlich seiner Verwirrung, die angesichts des Bekannten und Normalen erzeugt wird. Er ist das Gegenteil von Nathalie Reineggers Praxis des sinnlosen Chattens, des „Nonseq“ (non sequitur), bei dem die Sätze der Gesprächspartner unverbunden und bedeutungsleer sind, wenn „das eine nicht auf das andere folgte“. Vielleicht ist diese Auflösung der Erzählstränge der eigentliche Haken des Romans. Denn von genau dieser Frage, wie all das erzähltechnisch und literarisch funktioniert, muss sich jeder Leser selbst stalken lassen.

Titelbild

Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
1019 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424957

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