Überraschende Einsichten

Das "Lexikon der Völkermorde"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mancher Zweifel wird sich geregt haben, als gegen Pinochet der Vorwurf des Völkermords erhoben und anschließend die Zahl von mindestens 3000 Opfern genannt wurde. Verglichen mit den von Deutschen getöteten Juden, den in der UdSSR Ermordeten, den in Ruanda Abgeschlachteten schien dies eine Verharmlosung, der Straftatbestand nicht zutreffend.

Die moderne Völkermorddefinition allerdings umfaßt - in Ausweitung der UNO-Völkermordkonvention - auch Vorsatz und Tat, eine Gruppe von Menschen zu vernichten, so die Vernichtung einer Führungselite im Politizid oder Ethnozid, also auch die Verfolgung der Linken in Chile.

Die Materie Völkermord ist umfangreich und kompliziert, sie betrifft keineswegs nur unser Jahrhundert, das als die Ära der schlimmsten Demozide seinen Platz in der Geschichte gefunden hat. In diesem Inferno, das überreich ist an historischen Vorhöllen (Inquisition, Hexenverfolgung) verliert man schnell die Orientierung. Die Forschung zur Massentötung der Juden allein ist selbst für den Historiker unüberschaubar geworden, wieviel mehr die über die gesamte Tradition des Tötens ganzer Völker.

Hierin liegt der Zweck der Enzyklopädie: für alle Nichtspezialisten der Genozidforschung fundierte Informationen über den Gegenstand zu geben von der Vor- und Frühgeschichte bis zum Sommer 1998. Eine umfangreiche Einleitung führt in die Forschung, ihre Geschichte und Probleme ein, gibt sehr notwendige "Hinweise zur Benutzung des Lexikons und zu den Fallstricken der Zahlen" sowie einen statistischen Überblick. Schon hier lichtet sich das Begriffsdickicht, werden überraschende Einsichten geboten wie die, daß die größte Opfergruppe bislang durchweg unbeachtet bleibt - die Eigentümer ( 40-50 Millionen). Artikel im lexikalischen Teil informieren über Fachtermini (Demozid, Genozid, Politizid, Ökozid), Opfer(-nationen), Täter(-nationen) - was häufig zusammenfällt -, über Orte, Waffen und Methoden des Völkermords (Gaswagen, Flächenbombardement, Machete), Täter- und Opferorganisationen (SS, Amnesty International), über Erklärungsmodelle, über politische Phänomene (Auschwitzlüge, Historikerstreit) und über einschlägige Gesetze und Institutionen, die zur Bekämpfung des Völkermords geschaffen wurden. Konventionen von der Haager Landkriegsordnung (1899/ 1907) über die Menschenrechtsdeklaration der UNO (1948) bis hin zum Statut des Internationalen Strafgerichts der UNO (1993) und viele andere können hier in einschlägigen Passagen nachgelesen werden. Der große Vorteil des Lexikons besteht in der Möglichkeit, im raschen Zugriff Völkermorde begrifflich, historisch, völkerrechtlich, psychologisch und qualitativ beurteilen zu können. Wer zu Themen oder Personen mehr wissen will, wird auf das 100seitige Literaturverzeichnis verwiesen.

Deutliche Kritik kann man dem verdienstvollen Buch dennoch nicht ersparen. Da ist zum einen die Sprache zu monieren: Der technizistische und damit euphemistische Jargon der Täter sollte nicht übernommen werden. Da werden "demozidale Aktivitäten abgeschlossen", da gibt es "Völkermordaktivisten", da werden "Häftlinge länger vernutzt", da "verbraucht der GULag weitere 20 Millionen" Menschen, ja zweimal verwendet Heinsohn sogar Ausdrücke launig-grausigen Offizierskasino-Tons, wenn er schreibt, durch die Feuerstürme wie in Hamburg wären die Menschen in den Schutzräumen "regelrecht gegart" worden. Kann man diese Formulierung noch als (untauglichen) Versuch verstehen, die Fürchterlichkeit des Geschehens zu fassen, erscheinen die anderen als zu wenig reflektierte Übernahmen aus den Quellen. Es fehlen immer wieder Querverweise, dagegen wären andere Hinweise verzichtbar. Unter "Pol Pot" erfährt man von seiner Verehrung durch den Kommunistischen Bund Westdeutschland, der teils bei den GRÜNEN untergekommen sei. Analog dazu könnte man unter "Hitler" Hinweise auf die CDU / CSU erwarten.

Wichtig wäre vor allem die Umarbeitung einzelner Artikel, die den hohen Standard des Lexikons in vielen Passagen unterlaufen. In dem über "Hitler" sind grundlegende Probleme zu erkennen. Bedenkt man den knapp bemessenen Umfang des Buches, ist nicht zu begreifen, wie ausführlich anekdotisch Heinsohn hier - wie an anderen Stellen auch - wird. Ein Ziegenbock, referiert er, habe Hitlers Hoden zur Hälfte abgebissen. Nun ja.

Dann tischt der Verfasser, obwohl er grundsätzlich fundierte soziologische, psychologische und historische Erklärungsmodelle bevorzugt, immer wieder hypothetische sexualpathologische und psychoanalytische Theorien auf. Auf sie sollte ebenso verzichtet werden wie auf seine raumgreifende literarische Vorliebe. Schließlich scheint, bei aller Freude über den provokanten Ton und allem Respekt vor dem Mut des Autors, ein Lexikon nicht der rechte Ort, eigene, vergleichsweise einfache Erklärungen anzubieten für komplizierte Forschungsfragen wie die nach der Ursache der maßlosen Völkermorde marxistisch-leninistischer Systeme und nach Hitlers Judenvernichtungspolitik oder die Frage, weshalb die Juden (historisch gesehen) Hauptopfer aller Genozide waren.

Gerade weil das wohlfeile Buch eine wichtige Aufgabe erfüllen kann, ist ausführliche Korrektur nötig. Das "Lexikon der Völkermorde" wird helfen, das leichtsinnige, unreflektierte und schlechtinformierte Reden und Schreiben über Massentötungen entlarven oder eindämmen zu können. Eine zweite durchgreifend verbesserte Auflage noch mehr. Sie soll noch dieses Jahr erscheinen.

Titelbild

Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998.
469 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3499223384

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