Lesen heißt lieben

Wenn sich der falsche Empfänger für den richtigen hält: Über Carola Saavedras Roman „Blaue Blumen“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines Morgens steckt in Marcos Briefkasten ein hellblauer Umschlag. Adressiert ist er jedoch an einen Fremden, offenbar den Vormieter der Wohnung. Als Absender findet sich nur ein einzelnes A., handschriftlich geschrieben mit schwarzer Tinte. Ein Liebesbrief von einer Frau?

Marco vermutet richtig – nur schreibt die Unbekannte nicht nur einen Brief, sondern jeden Morgen einen weiteren, neun Tage lang. Carola Saavedras Protagonist, der erst vor kurzem diese Wohnung gemietet hat, wird sie alle lesen, in einer Mischung aus „Indiskretion und Neugierde“. Wie sich herausstellt, wird die Lektüre dieser höchst intimen Schreiben sein Leben gewaltig aus der Bahn werfen. Was zum Teil an Marcos empfänglicher Disposition liegt: Bislang hat noch jede Frau dem geschiedenen Mittvierziger das Gefühl gegeben, „dass nichts, was er war oder tat, ausreichte“. Von seiner Ex-Frau bis zur aktuellen Freundin Fabienne: Sie alle sind in seinen Augen „Tentakelfrauen, Vampirfrauen, die ihn in die Mangel nahmen, ihn aussaugten, wo sie nur konnten, und ihn dann einen Egoisten nannten“.

Zum anderen Teil liegt die lebensverändernde Wirkung von Marcos unerlaubter Lektüre natürlich an den Briefen selbst. Von Beginn an ist klar, dass sich hier eine vom Liebesschmerz gebeutelte Frau an einer Trennung abarbeitet. Mit ihren Worten will die Unbekannte ihren „Liebsten“ zurückgewinnen, der sich eines Tages auf und davon gemacht hat. „Ich schreibe dir, damit du mich liest. Ganz einfach. Damit du mich liest und zurückblickst, damit du mich liest und denkst, dass es etwas verblüffend Schönes in mir gibt, etwas, das du nicht gesehen hast, etwas, das unbemerkt an uns vorbeigegangen ist.“

So folgt in diesen Briefen auf erotische Tagträume das Bekenntnis, schon seit Tagen die Wohnung nicht mehr verlassen zu haben (wer aber gibt dann die Briefe auf?), auf Rachefantasien Reflexionen über die Liebe, etwa darüber, ob das Ende einer Liebe nicht bereits mit ihrem Anfang beginnt. Vor allem aber wird in den Briefen wie unter Wiederholungszwang ausgiebig immer wieder (und immer etwas anders) die Trennung selbst erinnert: „Ich möchte glauben, eine Trennung kennt kein Ende, und der letzte Tag, die letzte Nacht wiederholen sich unaufhörlich“. Kommunikationsformen wie der Liebesbrief, denen die Beziehungsebene wichtiger ist als die des Inhalts, führen zwangsläufig zu Wiederholung und Redundanz: In den Briefen der Unbekannten weigern sich selbst die Sätze loszulassen, treiben einfach immer weiter, statt den abschließenden Punkt zu setzen.

Dass es aber um keine gewöhnliche Beziehung geht, sondern um einen Fall von Hörigkeit und Gewalt, wird erst allmählich klar. So nähert sich die Erinnerung an das Ende Brief um Brief einem schockierenden brutalen letzten Akt. Offenkundig handelt es sich bei dem eigentlichen Empfänger um einen empathielosen Sadisten, für den Sätze wie „Es erreicht mich nicht, wenn du weinst“ typisch waren. Seine Partnerin demütigte er mal durch verächtliches Schweigen, mal durch seine „flache Hand“. Was jedoch nur dazu führte, dass die Briefschreiberin anderntags ihren von blauen Flecken gezeichneten Körper im Spiegel betrachtete und in den „ausschweifenden Mustern“ seinen ultimativen Liebesbeweis zu erkennen glaubte.

„Blaue Blumen“ heißt dieser neue Roman Carola Saavedras; es ist ihr zweiter, das portugiesische Original erschien bereits 2008. Er bestätigt eindrucksvoll, wie sehr sich diese brasilianische Autorin, 1973 in Chile geboren, für die ganz großen Themen interessiert: Liebe, Tod und die Einsamkeit des Individuums. Und wie gern sie mit ambitionierten Erzählkonstruktionen arbeitet und sich dabei von Einsichten der Kommunikationswissenschaft anregen lässt – ein Fach, das Saavedra, die etliche Jahre in Europa verbracht hat, übrigens in Deutschland studiert hat.

So spricht in dem faszinierenden Künstler- und Liebesroman „Landschaft mit Dromedar“ (2013 auf Deutsch erschienen) eine Frau ihre Geschichte über Wochen hinweg auf Tonbänder; ob sie der Adressat je hört oder wer die Bänder am Ende transkripiert, bleibt offen. Auch die Briefe in „Blaue Blumen“ sind ein Liebesmonolog in Fortsetzungen – allerdings immer wieder unterbrochen von Marcos Geschichte, deren Ton sich dem Stil der Briefe bis in die Wortwahl hinein annähert, je mehr Marco von den intimen Schreiben infiziert wird.

Tatsächlich braucht es keine drei Briefe, bis dass Marco anfängt, privat wie beruflich den Halt zu verlieren. In einem Schnellrestaurant gegenüber dem Postamt hält er tagsüber Ausschau nach der unbekannten Briefschreiberin. Als er sich aber nach dem neunten und letzten Brief ernsthaft auf die Suche macht, erwartet ihn eine verstörende Entdeckung.

Natürlich ist für Marco diese Unbekannte alles andere als eine „Vampirfrau“ – eher eine gestaltgewordene Männerfantasie. Da lässt sich eine Frau wie den letzten Dreck behandeln und ist bereit, alles zu verzeihen: Das evoziert beim heimlich mitlesenden Marco, den „zum ersten Mal seit langer Zeit etwas wirklich berührte und erreichte“, nicht nur Empörung, sondern auch das Gefühl, diese Frau als einziger wirklich zu verstehen. Bis er bald schon glaubt, der wahre Empfänger dieser Briefe zu sein.

Eine Vorstellung, die sich erstaunlicherweise auch in den Briefen findet, versucht die Unbekannte doch ihren „Liebsten“ mit der Vorstellung zu provozieren, ihre Briefe könnten irrtümlich von einem Fremden gelesen werden: „Jemand, der so ganz anders ist, mich aber liest, wie ich mir wünschte, von dir gelesen zu werden.“ Damit freilich wird der Plot zu einer schönen Metapher auf die Literatur an sich: Denn was gewährt sie anderes als jenen „Zugang zur Intimität einer anderen Person“, den sich Marco verschafft, und die Möglichkeit, sich von Leid und Liebe anderer anstecken und, im besten Fall, aus der Bahn werfen zu lassen?

Titelbild

Carola Saavedra: Blaue Blumen. Roman.
Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
192 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406675676

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