Vom Ausfransen der Erinnerung
Joachim Meyerhoff gibt in „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ erneut humorvollen Einblick in seine Erinnerungen an die Zeit des Heranwachsens
Von Anna Stemmann
In dem mittlerweile dritten Teil seiner „Alle Toten fliegen hoch“-Reihe widmet sich Joachim Meyerhoff mit „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ einem weiteren Kapitel seiner Vergangenheit. Nach dem Schüleraustausch in den USA und seiner Kindheit im heimatlichen Schleswig, wo er auf dem Gelände einer psychiatrischen Anstalt aufgewachsen ist, steht nun seine Ausbildungszeit in München im Zentrum der Handlung. Die titelgebende entsetzliche Lücke ist dabei Dreh- und Angelpunkt: Es geht nicht nur um das Erinnern an die Zeit des Heranwachsens, sondern immer auch um damit verbundenen Verluste. Eine Lücke, die bereits Goethes Werther umgetrieben hat: „Ach diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle!“ Dass sich der Protagonist am Schluss genau mit dieser Rolle im Schauspielfach profiliert, schließt die kluge intertextuelle Klammer des Romans.
Zunächst erweist sich das Moment der Lücke aber als vielschichtige Schnitt- und Gelenkstelle des Textes auf anderen Ebenen. So entfaltet Meyerhoff eindringlich eine Familienchronologie, die von vielen Verlusten nahestehender Menschen gezeichnet ist. Frei nach dem ironischen Duktus des Untertitels geht diese Beschreibung aber immer auch mit einem ermutigenden Unterton einher. Meyerhoff schafft es, lakonische Beschreibungen und humorvolle Beobachtungen mit den großen Ereignissen des Lebens zu verweben. Neben der offensichtlichen Lücke, die diese Menschen aufgerissen haben, treibt das erzählende Ich aber auch noch eine subtilere Lücke um: die Suche nach dem eigenen Selbstbild und das Streben nach einem Moment des „Mit-sich-selber-eins-werdens“, also der Versuch, eine Leerstelle im eigenen Selbstverständnis zu füllen. Denn gerade in diesem Puzzle klafft für den Protagonisten eine immense Lücke. In der geschilderten Lebensphase – nach dem Abitur – ist diese besonders eklatant: Was soll man mit den sich bietenden Möglichkeiten anfangen?
Als die Hauptfigur Joachim völlig überraschend einen der raren Studienplätze an der Schauspielschule München ergattert, lässt er seinen Zivildienst sausen und quartiert sich kurzerhand bei den Großeltern – vermeintlich nur zum Übergang, dann aber doch für die gesamten drei Jahre – ein. Das Zusammensein mit ihnen schließt so zunächst eine familiäre Lücke, verschränkt sich aber ebenso unmittelbar mit den Erlebnissen an der Schauspielschule, die beinahe täglich neue Krisen aufwerfen. Der klar strukturierte und regulierte Alltag der Großeltern wird nonchalant und mit präziser Leichtigkeit geschildert. In ihren ureigenen Marotten und Schrullen bieten sie einen großen Halt, der der oft überfordernden Offenheit der Schauspielschule diametral entgegensteht. So fängt die allabendliche „butterweiche Landung im Großelternhaus“ immer wieder die Enttäuschungen des Tages auf.
In die Schilderungen des Alltags, die ein humorvolles Kaleidoskop des Zusammenlebens sind, schieben sich Erinnerungen an die Kindheit und die Großeltern ein, und der Roman wird – obwohl dieser primär von den Erlebnissen auf der Schauspielschule erzählt – vor allem zur Hommage an die geliebten Großeltern. Entsprechend endet die Erzählung mit dem Tod der beiden, und einer klugen Reflexion über die Konstruktion von Erinnerungen, deren Ausfransen und diffuser Zustand eine Lücke in die eigene Biographie reißt: „und mehr und mehr Ahnungen und Vermutungen mischen sich in meine Gedanken“.
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