Streifzüge durch die vornehme Gesellschaft Berlins

Günter Erbe portraitiert Repräsentantinnen der deutschen und europäischen Salonkultur

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Begriffe sind es, die das informative Buch des Soziologen Günter Erbe durchziehen: ‚Grande Dame‘ und ‚Salonnière‘. Sie stehen für Erscheinungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, verkörpern in mancher Hinsicht die Welt des Ancien Régime, ragen aber hinein in die der Moderne, die sie – zunächst noch schleichenden, dann zusehends rasanteren –Prozessen des Wandels unterwirft. Ähnlichkeiten sind nicht zu verkennen, im Blick auf Rolle und Bedeutung fließen die beiden Figuren jedoch nicht immer zusammen. Denn eine Frau aus den höchsten Sphären der Gesellschaft mußte nicht unbedingt einen Salon führen, und für diejenige, die einen solchen betrieb, war aristokratische Herkunft keine notwendige Voraussetzung. Tatsächlich jedoch fiel beides des Öfteren zusammen. Um über längere Strecken einen attraktiven Ort für regelmäßige gesellige Zusammenkünfte mit festen Terminen und eingespielten, gleichsam ritualisierten Formen der Konversation am Leben zu halten, bedurfte es jedenfalls einer anerkannten und privilegierten sozialen Position und gesicherter Wohlhabenheit, außerdem bester Kontakte in die verschiedenen Milieus von Politik, Wirtschaft und Kultur, zu denen selbstverständlich auch der Hof und die dort tonangebenden Kreise zählten.

Eine von denen, die den Typus der Großen Dame im 19. Jahrhundert in geradezu idealer Manier verkörperte, war Fürstin Marie Radziwill. Sie ist die eigentliche Protagonistin in Erbes Studie. Geboren 1840 in Paris, entstammte sie dem französischen Hochadel. 1857 heiratete sie den Fürsten Anton Radziwill. Dieser war Sproß einer traditions- und einflußreichen, verzweigten polnischen Familie, die über ausgedehnten Latifundienbesitz in Rußland, Österreich und Preußen verfügte. Er saß im Herrenhaus, der Adelskammer des preußischen Landtags, war General und Flügeladjutant, später Generaladjutant des Königs und Kaisers Wilhelm I., zu dem er enge, ja freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Das Ehepaar führte ein großes Haus, hatte unmittelbaren Zugang zum Zentrum der politischen Macht und kannte Gott und die Welt. Die Fürstin, die erheblichen gesellschaftlichen Ehrgeiz entfaltete, galt, wie Erbe hervorhebt, als „eine der in der Politik bestinformiertesten Frauen Europas“. Ihr Salon wurde rasch zur festen Institution. Abend für Abend empfing sie eine illustre Schar von Gästen: Hofleute, Minister und Parlamentarier, Offiziere und Angehörige der in Berlin ansässigen Botschaften. Gelehrte und Künstler waren dagegen nur selten anzutreffen, und wenn, dann kamen sie aus Frankreich. Für den heimischen Kulturbetrieb hatte sie wenig bis kein Sensorium, zumal sie das Deutsche nur unvollkommen beherrschte. Ihr Medium war und blieb das Französische, die lingua franca der europäischen Diplomatie.

Marie Radziwill war frei von der Enge und den bornierten Horizonten namentlich des ostelbischen Landadels, dessen Repräsentanten, nicht zuletzt in Gestalt des Kanzlers Otto von Bismarck, in den Zitadellen der Macht hockten. Davor wurde sie schon durch die Herkunft aus dem französischen Hochadel und die Ehe mit einem polnischen Magnaten im Dienst der preußischen Krone bewahrt, auch durch die Verwurzelung im katholischen Glauben, der manches im mehrheitlich protestantischen Deutschland in ein fremdes Licht tauchte. Zwar fühlte sie sich dem Land, das durch Heirat ihr Lebensmittelpunkt geworden war, in Loyalität verbunden, aber die gegen die polnische Bevölkerung in den Ostprovinzen gerichtete Germanisierungspolitik empfand sie als überaus schmerzlich. Sie war, ihrem Stand gemäß, Kosmopolitin, nationaler Enge, gar nationalem Chauvinismus abhold, vielmehr bestrebt, Brücken zu bauen, hier vor allem zwischen den sogenannten „Erbfeinden“, zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich.

Insofern war es kein Zufall, daß sie dem Frieden von 1871 mit tiefer Skepsis begegnete, überzeugt, daß es sich nur um einen „Waffenstillstand“ handele, der bereits den Keim des nächsten Krieges in sich berge. Ein hellsichtiger Blick nach vorn, der nach der Jahrhundertwende zusätzliche Nahrung erhielt. Sie habe, schrieb sie 1909, „das Gefühl eines drohenden allgemeinen Zusammenbruchs“. Die Erde bebe, die Monarchien seien durch die „Schuld der Souveräne“ ins Wanken geraten, die Rüstungen der Armeen würden immer mörderischer: „Man könnte meinen, das Ende der Welt nahe sich, so groß ist das Unbehagen.“ Kein Wunder, dass sie zu Kaiser Wilhelm II., für den sie anfangs Sympathien hegte, auf Distanz ging. Er nehme sich nie die Zeit, monierte sie, „sich eingehender mit einer Sache zu beschäftigen“, sei trotz seines autoritären Gehabes leicht zu beeinflussen, ermangele der Weltläufigkeit wie des Gespürs für Menschen und Situationen: „Er liebte es, sich durch grobe deutsche Wortspiele zu amüsieren, die oftmals seiner unwürdig waren.“

Die Figur der Fürstin Radziwill liefert in Erbes Buch das Maß für vergleichende Betrachtungen, die das Augenmerk auf andere Berliner Salons lenken, Weggefährtinnen und Konkurrentinnen portraitieren, Licht auf ähnliche Phänomene in den europäischen beziehungsweise europäisch geprägten Metropolen werfen, in Paris zum Beispiel auf Pauline von Metternich, Mélanie de Pourtalès oder Jeanne Prinzessin von Sagan, in London auf Dorothy Nevill oder Adeline Cardigan, in New York schließlich auf Caroline Astor. Dabei werden Netzwerke und Verkehrskreise, Denkgewohnheiten und Formen des geistigen Austausches sichtbar, in denen sich kultureller Habitus, politische Präferenzen, auch Ressentiments und Bedürfnisse nach sozialer Exklusivität spiegeln.

Während das „Berliner Bildungsbürgertum“ von den abendlichen Zusammenkünften im Hause Radziwill ferngehalten wurde, war es, wie der Autor betont, in anderen, weniger auf Segregation bedachten adligen Salons „hoch willkommen“. Das galt für die Gräfin Marie von Schleinitz, die sich als engagierte Anhängerin Richard Wagners mehr für Kunst als für Politik interessierte und auch Angehörige der nicht hoffähigen Gesellschaftskreise einlud; das galt gleichermaßen für die ewige Junggesellin Marie von Bunsen wie für Maria von Bülow, eine geborene italienische Prinzessin, die gemeinsam mit ihrem Gatten, dem späteren Reichskanzler Bernhard von Bülow, für eine Mischung aus „mondäner Eleganz“ und „geistiger Kultur“ Sorge trug. Eine mehr „bildungsbürgerliche Geselligkeit“ bevorzugte Anna von Helmholtz, die mit dem 1883 geadelten Physiker Hermann von Helmholtz verheiratet war und sich, wie ihr in Berlin bisweilen vorgeworfen wurde, nicht um „das Leitbild der bescheidenen, zurückhaltenden Professorenfrau“ scherte, sich jedoch einer dem Geburtsadel ebenbürtigen „Geistesaristokratie“ zugehörig fühlte.

Nikolaus Sombart, der Sohn des Soziologen und Nationalökonomen Werner Sombart, sah in der „Grande Dame“ ein „Produkt der Kultur“, die sie wiederum „tonangebend“ repräsentiere und organisiere: „Als Existenzform, als gesellschaftliche Instanz, als Zentrum eines Wirkungskreises, als Mittlerin von Menschen und Ideen“ setze sie „gültige Maßstäbe“. Bereits im späten 19. Jahrhundert geriet dieser Typus allerdings unter Druck. Als Konkurrentinnen etablierten sich Angehörige der ‚demi monde‘, die großen Kokotten, später dann, seit den 1920er-Jahren, die Stars des Kinos, die zu Mediatorinnen für Mode, Stilempfinden und Gewohnheiten der Zerstreuung avancierten. An die Stelle der „Tradition“ trat die „Sensation“, wie eine der Salonnièren kritisch anmerkte. Das war zum einen ein geläufiger Topos des damals grassierenden Kulturpessimismus, zum andern aber auch der Abglanz eines beginnenden und, wie sich rasch zeigte, tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels.

Dazu gehörten die anschwellenden Vermögen und der ostentative Luxuskonsum der Industrie- und Finanzbourgeoisie, die lieber die Rennbahn als den Salon aufsuchte. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang ferner die Emanzipationsbedürfnisse der Frauen, die Verlagerung selbst der gehobenen Geselligkeit in Vereine und Klubs, sich verändernde Rollen der Geschlechter. In Maßen geübte Galanterie und Koketterie erschienen als Werte und Umgangsformen von gestern. Die Aristokratie verlor durch Krieg und Revolution ihre gewohnte Geltung; deren internationale Verzweigungen gerieten im Zeitalter eines sich radikalisierenden Nationalismus unter Verdacht. „Aus der Kaiserstadt Berlin“ sei ein „Provinznest“ geworden, resümierte 1922 nicht ohne Wehmut der Schriftsteller Fedor von Zobeltitz, ein getreuer Chronist des gesellschaftlichen Treibens, den Erbe gegen Ende seiner Studie noch einmal zitiert: „Aller Glanz ist verblichen, und wo der neue Reichtum sich in Pelz und Seidenkleid an die Oberfläche drängt, kann dem Kavalier von gestern übel werden.“

Titelbild

Günter Erbe: Das vornehme Berlin. Fürstin Marie Radziwill und die großen Damen der Gesellschaft 1871–1918.
Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2015.
329 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783412224578

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