Husarenstücke aus einem abgewirtschafteten Europa

Walter Serners Kriminalgeschichten wurden neu aufgelegt

Von Kristian DonkoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristian Donko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Herumtreiber und Huren, Spitzel und Spieler, Projektemacher und Provokateure aller Nationen bilden das Personal von Walter Serners rund 100 Kriminalerzählungen. Zwischen 1921 und 1926 erstmals veröffentlicht, entwerfen sie das Panorama einer kriminellen Bohème in den Zehner- und Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Ihre Angehörigen verkehren in den mondänen Städten Europas und gelegentlich auch in Stuttgart. Bars, Bordelle und Absteigen sind ebenso wie Grand Hotels oder herrschaftliche Palais Schauplätze raffinierter Betrugsmanöver, skrupelloser Komplotte oder frivoler Verführungsplots.

Es sind Geschichten vom Leben auf Messers Schneide. Man ist auf alles gefasst und auf nichts vorbereitet. Nur das Hier und Jetzt zählt und damit die Fähigkeit, das Momentum auf seine Seite zu zwingen. Reaktionsschnell und instinktgetrieben wissen Serners Hasardeure kleinste Schwächen zu nutzen, um sich gegenseitig übers Ohr zu hauen oder ins Bett zu kriegen, um Häschern der Polizei zu entkommen oder Bonzen und deren Frauen und Töchter um ihr Geld zu bringen.

„Das Leben ist eine Rauferei. Wer immer aufrichtig wäre, läge bald auf der Nase“, sagt einer dieser Handlungsreisenden in Sachen Betrug und Täuschung. Serners rastlose Halbweltfiguren ziehen daraus die Konsequenz. Gespannte Aufmerksamkeit, Improvisation, Anpassungsfähigkeit und eine „Psychologie“, die darauf abzielt, „sich nichts gefallen zu lassen“, gehören zu ihrem unverzichtbaren Tugendkatalog. Für das bürgerliche Leben und seine Konventionen lassen sie sich daher nicht vereinnahmen. Name, Nationalität, Herkunft oder Beruf sind für diese „frei von geographischen und anderen Grenzen“ handelnden Glücksritter nur austauschbares Rollenrepertoire.

Überhaupt ist die gesellschaftliche Einrichtung als der größte Betrug von allen erkannt – und hier ist Serner ganz Moralist, ein Beobachter und Kritiker seiner Zeit. „Wie die sozialen Verhältnisse heute liegen, gibt es keinen Aufstieg mehr. Nur ein elendes Proletarierleben“, so der bündige Bescheid in einer der Stories. Wer sich unter diesen Umständen an die bürgerlichen Sollwerte – Beständigkeit, Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Treue zu Gesetz und Vaterland et cetera – hält, hat schon verloren. Denn was die braven Bürger für Moral und Sittlichkeit halten, ist in Wahrheit ein Mittel, sie „opferwillig“ zu machen.

Wer könnte diesen Bluff besser durchschauen als die Hochstapler und Betrüger vom Gesellschaftsrand? Im Gegensatz zum Spießbürger wissen sie, „was für eine Bubble die ganze Welt“ ist: „Jeder Mensch, jede Beziehung von Menschen untereinander ist ein gefundenes Fressen … Was für ein Irrsinn! Was für ein Vergnügen! Der Schleier der Bonzen zerreißt. Und was man sieht, ist – der Dreck.“ Hat man dies einmal erkannt, darf freilich munter drauflos gelogen, betrogen und gestohlen werden. Mit nonchalanter Verächtlichkeit gegenüber allem und jedem machen sich Serners Desperados die „Verblödungserscheinungen“ der „verbürgerlichten Menschheit“ zunutze, wollen Profiteure statt Opfer des allgemeinen Betrugs sein. Seine Figuren sind Spieler, um nicht Gespielte zu sein.

Serner ist ein Meister der reduzierten Form. Allesamt nur wenige Seiten kurz, vermitteln seine Geschichten ein prägnantes Bild vom beschleunigten Lebenstempo des frühen 20. Jahrhunderts: Es sind schnelle Geschichten für eine schnelle Zeit, knappe Situationsdarstellungen, meist ohne Kontext oder lange Vorgeschichte. Die Figuren werden ohne große Vorbereitung in eine Lage gebracht, die sofortige Entscheidungen verlangt. Wie Kippbilder geraten dabei die Dinge immer wieder ins Rutschen, sicher geglaubte Kontrolle droht zu entgleiten, Identitäten changieren, persönliche Beziehungen geraten heillos durcheinander. Die kalkuliert angezettelte Verwirrung der Verhältnisse wird dabei zur Quelle lustvoll ausgeschöpfter Täuschungsmöglichkeiten, die vom Opfer erst durchschaut werden, wenn es schon zu spät ist.

Oft geht es um den Typus des Hochstaplers, der den kultivierten Anstrich der Klassengesellschaft für seine Zwecke nutzt und im gleichen Zug als trügerische Kulisse bloßstellt. Verweigert er für sich selbst jede dauerhafte gesellschaftliche Platzanweisung, so baut er doch auf ihre Verbindlichkeit für andere – allerdings nur, um sie so besser aufs Kreuz legen zu können. Selbst hinter den angelegten Charaktermasken nach „Undurchschaubarkeit von nie noch erreichter Vollkommenheit“ strebend, empfindet der Hochstapler Sernerscher Prägung ein diabolisches „Vergnügen“ daran, „Sprengversuche“ an den „soliden Existenzen“ der Bürger vorzunehmen.

Eine Anhänglichkeit an Vergangenes, gar an die eigene Biographie, ist dabei unter keinen Umständen gestattet. Das Rollenspiel des Hochstaplers gelingt umso sicherer, je weniger Unverwechselbares und Eigenes sich hinter der polierten Oberfläche verbirgt. Wer sich daher auf ein permanentes Anderssein, auf eine chamäleonartige Anpassung an äußere Umstände verpflichtet, hat letztlich die Leere, die Substanzlosigkeit seiner Existenz als gewollt zu akzeptieren. Das Ich als wesenloses, dauerhaftes Provisorium und damit als Symptom einer krisenhaften Gesellschaft – hierin trifft sich Serners Phänomenologie des Hochstaplers mit maßgeblichen literarischen Menschenentwürfen seiner Epoche. Es dominiert bei Serner (und das verbindet ihn etwa mit Zeitgenossen wie Robert Musil oder Alfred Döblin) die Vorstellung eines Individuums, dessen Zentrum nicht in ihm selbst liegt, sondern das in der unvermeidlichen „Kreuzung sozialer Kreise“ (Georg Simmel) einen notorisch instabilen, je nach Zusammenhang wechselnden Standpunkt einnimmt.

„Um ein Leben zu schildern, braucht man einen Gesichtspunkt. Das Leben aber, das ich bisher geführt habe, hatte keinen. Ich führe es täglich anders. Oft stündlich“, so heißt es in einer seiner Geschichten. So könnte aber auch ein Kommentar zu Serners eigenem Leben lauten. Wie seine Figuren schöpft er offenbar seine Energie aus einem permanenten biographischen Unruhezustand. Als Sohn eines Zeitungsverlegers im böhmischen Karlsbad geboren, ändert er als junger Erwachsener Namen und Religion, studiert Recht in Wien, hält sich in Paris und Berlin auf, schreibt dreist eine fremde Doktorarbeit ab, was in Greifswald für die Promotion zum Dr. jur. reicht. Er findet Verwendung für den Titel und stellt im Dezember 1914 dem fahnenflüchtigen Dichterfreund Franz Jung ein ‚ärztliches‘ Attest aus. Die Köpenickiade fliegt auf, Serner flieht in die Schweiz und wird in Zürich einer der Rädelsführer von Dada.

Danach lebt er unter anderem in Neapel, Genf, Barcelona, Prag, München und nirgendwo besonders lange. Das dokumentieren später aufgetriebene Melderegister und Polizeiberichte. In Hotels, Pensionen und unterwegs entstehen Bücher, für die es gelegentlich Kritikerlob, aber kaum Publikumserfolg gibt. Kolportierte Gerüchte – Serner sei ein Berufsverbrecher und Bordellbesitzer – bringen ihn in Verruf. Die deutschnationale Presse hetzt und bereitet die spätere Verbrennung seiner Bücher durch die Nazis vor. Ab 1927 erscheinen keine weiteren Werke mehr. Auch Serners Spur verliert sich zunehmend. 1933 noch eine letzte überlieferte Zufallsbegegnung, danach nichts mehr. Erst Jahrzehnte später werden Serners letzte Lebensstationen rekonstruiert: Ganz zum Schluss – 1942 – die Deportation aus Prag nach Theresienstadt und von dort ins Baltikum, wo ihn die Nazis bei einer Massenerschießung ermorden.

Vielleicht ist es kein Wunder, dass das Werk dieses notorischen Ortewechslers und „Abreisers“ bald danach in Vergessenheit geriet. Wie sein Autor schlug es keine Wurzeln und blieb lange eine literaturgeschichtliche Marginalie. Doch inzwischen ist Walter Serner ein nicht mehr allzu gut behüteter Geheimtipp. Dafür haben allerdings weniger Serners Kriminalgeschichten gesorgt, als sein dadaistisches Manifest „Letzte Lockerung“ von 1920, das er später um einen zweiten Teil ergänzt und mit dem Titelzusatz „Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen“ veröffentlicht. Mittlerweile ist diese Sammlung von Aphorismen und Maximen geradezu ein Kultbuch für Liebhaber sinnstürzender Coolness und scharfkantiger Ironie geworden. Von minimalistischen elektronischen Klängen untermalt wurde es gar unlängst von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow als Hörbuch eingesprochen.

Solche popkulturellen Weihen haben seine Kriminalerzählungen noch nicht empfangen. Doch stehen sie dem Scharfsinn und der Lässigkeit der ‚Lockerungsübungen‘ in Nichts nach. 30 dieser kleinen bösartigen Geschichten sind nun im Manesse Verlag unter dem Titel „Der rote Strich“ erschienen. Eine gute Nachricht, denn frühere Ausgaben sind nur noch antiquarisch erhältlich. Im adäquaten handlichen Innentaschenformat der Reihe „Bibliothek der Weltliteratur“ offeriert Herausgeber und Serner-Spezialist Andreas Puff-Trojan einen repräsentativen Querschnitt aus den ursprünglich vier Bänden der Sernerschen Kriminalgeschichten. Dass die eindrucksvolle Authentizität, mit der Serner das Kriminellenmilieu des frühen 20. Jahrhunderts darstellt, für heutige Leserinnen und Leser erfahrbar bleibt, ist übrigens auch ein Verdienst der überaus nützlichen Stellenkommentare des Herausgebers. Sie übersetzen und erklären die fremdsprachigen Lästereien, Schmeicheleien und Obszönitäten, die der weltläufige Serner seinen Figuren in den Mund legt ebenso kundig wie das bunte Vokabular aus diversen europäischen Gaunerjargons und Gossensprachen. Abgeschlossen wird der Band von dem glänzenden Nachwort des Schriftstellers Xaver Bayer, das dem Phantom Walter Serner nachspürt: seinem abenteuerlichen Leben, dem rätselhaften Verschwinden und schrecklichen Ende. Was bleibt nun laut Bayer am Ende aller biographischen und literaturgeschichtlichen Annäherungen? „Was macht Walter Serner also zu Walter Serner? Dass sich die Lektüre seiner Texte nicht abnützt, dass er als Autor immer auf der Höhe der jeweiligen Zeit zu sein scheint“. Dem ist nichts hinzuzufügen – außer einer dringenden Leseempfehlung für diese „hahnebüchenen Geschichten“.

Titelbild

Walter Serner: Der rote Strich. Kriminalgeschichten.
Manesse Verlag, Zürich 2015.
444 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783717523901

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch