Frangipani-Loopings im Schnee
Thomas Kunst improvisiert in „Freie Folge“ mit System
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt ihn noch, den poète maudit, das verkannte Genie. Nicht als Pose, sondern als knallharte, unerbittliche Realität. Der Roman „Freie Folge“ von Thomas Kunst ist Avantgarde vom Feinsten und vom Schwierigsten. Und damit sind nicht die intellektuellen Höhenflüge eines poeta doctus oder die intertextuell angejazzten Digressionen eines einfach nur gut informierten Autors gemeint, das wäre mit ein bisschen Bildung ja noch halbwegs zu bewältigen. Nein, hier geht es ums Eingemachte, um eine ganz spezielle Auffassung von Literatur, um Schreibweisen, Sprachbewusstsein, um eine Poetik, die gnadenlos konsequent an sich glaubt.
Die Bücher von Thomas Kunst sind anspruchsvoll, gehören gewiss zum Besten und Avanciertesten, was die aktuelle deutschsprachige Literatur derzeit zu bieten hat. Dennoch ist sein Werk nach wie vor wenig bekannt, selten rezensiert, vermutlich zum Teil schon vergriffen. Und dies trotz der Bemühungen von Feridun Zaimoglu, Kunsts einzigartige Lyrik einem breiteren Publikum bekannt zu machen, das auch nach gut 25 Jahren, in denen Kunst ein gutes Dutzend Gedichtbände, Hörbücher, Brief- und Textsammlungen sowie nunmehr vier Romane publiziert hat, noch immer kaum Notiz von ihm nimmt.
Woran mag das liegen? Vielleicht weniger an den Büchern selbst als vielmehr am Status avantgardistischer Kunst ganz allgemein. Der von Zaimoglu gepriesene „furiose Überschwang“ seiner Gedichte führt im vorliegenden Roman unter anderem zu einer Ästhetik der Liste und des Loopings, die an Konkrete Poesie, an serielle Musik und an die radikalen narrativen Verfahren des Nouveau Roman erinnert. Kein Programm für eine breite Leserschaft, gewiss. Doch was genau macht die Lektüre des Roman so aufregend und so mühsam zugleich?
Als Lust-Leser hat man ein Problem mit diesem Roman. Doch dieses ist weder neu, noch besonders originell, nur stellt es sich im Fall von „Freie Folge“ mit außergewöhnlicher Vehemenz. Gemeint ist das altbekannte Avantgarde-Problem, literarische Positionen und Verfahren in einem extrem ausdifferenzierten ästhetischen Kontext, in dem – und da gehen die meisten Avantgarde-Theoretiker von Peter Bürger und Theodor W. Adorno über Niklas Luhmann, Alain Robbe-Grillet und Pierre Bourdieu bis zu den Ansätzen des heute gerne „French Theory“ genannten Poststrukturalismus konform – die Aufgaben des delectare und des prodesse längst von anderen, nicht-literarischen Medien erfüllt werden. Ob das Projekt der Avantgarde nun deswegen „gescheitert“ sei oder noch immer als Vorbild für radikale, kompromisslose Kunst zu gelten habe, darüber freilich gehen die Meinungen auseinander. Doch darauf zumindest wird man sich einigen können: Was sich mit Schlagwörten wie „Autonomie“, „Rätselcharakter“, „Leerstelle“, „Dekonstruktion“ und so weiter der realistischen beziehungsweise „versöhnten“ oder „affirmativen“ Mimesis widersetzt und dadurch „schwierig“ wird, stellt nach wie vor eine Herausforderung an die Leserschaft dar. Im Kontext der Avantgarde heißt „Verstehen“ nach wie vor, das Rätsel zu bewahren.
Man kann, wenn man sich diese literaturhistorische Perspektive zu eigen macht und als hermeneutische Rettungsweste umschnallt, durchaus einen Weg durch den Roman finden beziehungsweise sich einen solchen erarbeiten, Versatzstücke von „Handlung“ ausmachen, Schauplätze, Figuren, Haltungen, Rollen, Konflikte und so weiter und damit Inhaltliches identifizieren. Aber es soll hier gar nicht erst der Versuch gemacht werden, die „Handlung“ des Romans zusammenzufassen. Das Ergebnis wäre nämlich nur ähnlich konfus und nichtssagend wie die gängigen Inhaltsangaben zu Romanen von Arno Schmidt oder Alain Robbe-Grillet. Denn der anspielungsreiche Titel lautet nicht von ungefähr „Freie Folge“ und kündigt damit bereits sein ästhetisches Programm an. Doch wer nun glaubt, dieses erschöpfe sich in anarchischer Beliebigkeit, wird ein weiteres Mal überrascht: so „frei“, wie im programmatischen Titel ist die „Folge“ des hier angeordneten Materials keineswegs. Im Gegenteil: Sprachliche Obsessionen, lange, wortwörtliche Wiederholungen, strenge Parallelen, Analogien und leitmotivische Reprisen bezeugen einen geradezu manischen Zwang zur Ordnung.
Was nun in einem – gerne auch längeren – Gedicht meistens ganz wunderbar funktioniert, nämlich das Aufbrechen und Unterlaufen einer linearen, logisch und chronologisch stringenten Kommunikation, wird in einem 250-seitigen Roman allerdings zum Problem. Dafür kann man sich als Leserin vielleicht mit der Beschränktheit seines kognitiven Auffassungsvermögens entschuldigen, als Autor hingegen wohl nur mit dem Verweis auf Traditionen und Konventionen, von denen man sich – auf jeder Seite, bei jedem Satz – absetzen will und kann, vielleicht muss.
Das strukturelle Grundprinzip des Romans, dem eine CD mit den durchaus hörenswerten Kompositionen und Improvisationen des Autors beigefügt ist, stammt aus der Musik: Dieser Roman ist quasi „gesampelt“, zusammengesetzt aus kurzen, oft elliptischen Cut-ups, die in langen Loopingschlaufen den gesamten Text durchziehen. So erfahren wir beispielsweise circa zehn bis zwanzig Mal, dass die Kinder sich an die ständige Abwesenheit des Vaters längst gewöhnt haben, dass die Grönlandforscher, um nicht irre zu werden, immer gleich nach dem Frühstück ficken und essen, oder dass die Kinder sich zu Fasching als Bankkaufmann und als Übersetzerin verkleiden und so weiter und so fort. Dabei handelt es sich keineswegs um Varianten oder perspektivische Wechsel, sondern um wortwörtliche Reprisen.
Doch, so fragt man sich bei diesen (sehr zahlreichen!) Passagen des Romans: Erfüllt die Wiederholung in der Literatur tatsächlich dieselbe Funktion wie in der Musik? Ist diese Analogie von Literatur und Musik nicht schon vielfach überstrapaziert? Denn während in der Lyrik oder bei Kurzprosa unsere kognitiven Automatismen, der Zwang zur Hypothesenbildung und zur Bedeutungshuberei, kurzfristig außer Kraft gesetzt werden können (man vergleiche hier unter anderem die Mechanismen der poésie sonore oder gewisse dadaistische und surrealistische Experimente), wird das bei längeren Texten problematisch. Umso bewunderungswürdiger freilich der lange Atem des Lyrikers Thomas Kunst, der dieses hohe Niveau der sprachlichen und narrativen Verunsicherung über die Gesamtlänge des Romans hinweg weitgehend durchhält. – Ab einem gewissen Punkt gibt man dann tatsächlich mal auf. Irgendwann lässt man sich hypnotisieren, durchläuft widerstandslos und fraglos die immer gleichen Loopings, bis man – so vielleicht das dahinterstehende Konzept – jenen Zustand erreicht, in dem man der Epiphanie der Derridaschen „différance“ teilhaftig wird und das Nicht-Identische des Identischen erkennt. Ich gestehe: Mir ist das nicht gelungen. Für mich waren diese Reprisen auf Dauer eher irritierend.
Ein weiteres Problem ist das einer speziellen – an Verfahren des Nouveau roman angelehnten – „Kälte“ bei der Schilderung von zwischenmenschlichen Vorgängen. Natürlich ist „Kälte“ kein ernst zu nehmendes literaturkritisches Kriterium. Vielleicht wäre „Distanz“ der passendere Ausdruck. Doch auch das trifft es nicht wirklich, denn oft zoomt sich der Erzähler beziehungsweise die Erzählinstanz, oder wer oder was auch immer hier „spricht“, ja geradezu in den Mikro-Bereich heran, erzählt Vorkommnisse aus der Insektenperspektive oder geht pedantisch bis ins winzigste Detail. Wir erleben die Dinge zwar hautnah und aus nächster Nähe, doch sie berühren uns nicht. Gewiss, es ist durchaus von Gefühlen die Rede, es gibt Liebesbriefe, intime erotische Passagen, Geständnisse. Doch es ist eine seltsam anonyme, abstrakte Emotionalität, die sich hier artikuliert, und das ganz unabhängig von der stellenweise spürbaren Ironie. Es ist die Sprache selbst, das Stakkatohafte der Liste, die vielen Wiederholungen, die den Inhalt des Gesagten bei jedem Mal weiter entwerten und eine reale oder identifikatorische Emotionalität beim Lesen verhindern. Dies ist freilich als ganz bewusste Verweigerung des Erzählers zu verstehen, analog zu den wiederholten Behauptungen, es „führe zu weit“, diese oder jene Person beschreiben zu wollen.
Das Ergebnis dieser kunstvollen narrativen Verweigerung mündet dann zum Beispiel in folgende Litanei:
Ioanas Eltern und was weiß ich noch alles. Die Welpen in den heißen Teerbottichen und was weiß ich noch alles. Die ukrainische Grenze und was weiß ich noch alles. Dumitrus einzige Liebe und was weiß ich noch alles. Schnaps mit Zucker und was weiß ich noch alles. Schnaps mit Pfeffer und was weiß ich noch alles. Schnaps mit geraspelter Zitronenschale und was weiß ich noch alles. Das Trägerhemdchen Ioanas und was weiß ich noch alles. Diese unorthodoxen, feindseligen Brüste einer Fünfzehnjährigen und was weiß ich noch alles. Die beiden Tierärzte aus Waiblingen und was weiß ich noch alles. Die Toiletten in der Ciurea Scualo und was weiß ich noch alles. […] Die für ein paar Tage ruhende Produktion und was weiß ich noch alles. Die gestischen Yogaübungen des Kohleabbaus und was weiß ich noch alles. Die Unterweisung der Intellektuellen in der geheimen Kampfkunst des Kalari und was weiß ich noch alles. Das Wissen um die zwölf Tötungspunkte und was weiß ich noch alles. Unsere gefährlichsten Waffen sind unsere Finger und was weiß ich noch alles. Und dann bitte noch mal die Bergleute gegen die Studenten auf dem Universitätsplatz und was weiß ich noch alles.
Dieses (sich über fünf Seiten ziehende) Beispiel entspricht gewissermaßen der kleinräumigen, der syntaktischen Looping-Variante, andere Looping-Formen finden sich in größeren Abständen über mehrere Kapitel verteilt.
Dennoch ist dieser Roman selbstverständlich der Rede wert. Und zwar aus denselben Gründen, die ihn so problematisch machen. Denn es ist ein Roman, der sich ganz bewusst widersetzt, in avantgardistisch radikaler Neinsager-Manier widerspricht. Er widersetzt sich mit all seiner großen, ja gewaltigen Sprachkraft der Standardisierung, der Verkitschung und „Amerikanisierung“ der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hier verweigert sich ein Autor dem konventionellen „Wandtafelsatz“, wie Hermann Burger die leserfreundliche Simplifizierung einmal sarkastisch genannt hat. Hier spricht und dichtet und sampelt einer in ellenlangen, kaum erträglichen Loopings, aber auch in ganz wunderbaren selbstreflexiven Sonetten, in skurrilen Briefen und rätselhaften Langgedichten gegen den „lackierten Gemälde-Geruch in Gedichten“ und gegen die „Eitelkeit des Dechiffrierens“. Und wenn der Sog der Wiederholung funktioniert, wenn die Litanei zum spielerischen Ritual und zum Bild wird, dann entstehen dichte Passagen von großer Musikalität und Präsenz wie beispielsweise jene Beschreibung eines Grönlandaufenthaltes:
Unsere Sprache hier zu beschreiben, würde zu weit führen. Fallender Schnee. Am Boden liegender Schnee. Sich an die Stiefel festklammernder Schnee. Von den Robben durch die Eislöcher weggeblasener Schnee. Im Hundefell glitzernder Schnee. Von Augenbrauen durchzogener Schnee. Pudriger Schnee. Rau gewordener Schnee. Qanik. Pukak. Aputi. Schnee zum Herstellen von Getränken. Aniu. Schnee auf Expeditionsbilder. Schnee als Häuserrohstoff. Urin im Schnee gegen Zahnschmerzen. Schnee von der anderen Straßenseite. Schnee ohne Tundrazweige. Schneekristalle beim Umblättern der Bettbezüge. Welche Straßenseite. Überhaupt Schneekristalle. Sperma und Fischreligion. Urinverdacht und Innenschenkelmutmaßung. Schneespüler, Schneebevölkerungsdichte. Schneebewölkung.
Die meisten dieser Motive sind übrigens mehrfach verlinkt und bilden – zum Teil über weite Strecken – immer wieder neue Kombinationen.
Dieser radikale Partikularismus, die absolute Dominanz des isolierten Einzeldings, ist natürlich auch eine Quelle der Komik. Und zwar immer dann, wenn – wie in der folgenden Passage – versucht wird, dennoch einen Zusammenhang zu konstruieren:
Thi Soums Zunge betont ihre Halsschlagader wie den selten gewordenen Zweig eines Frangipanibaums in unmittelbarer Nachbarschaft einer Zuckerfabrik, die man in Kambodscha sofort zu den stupiden, unerlässlichen Gemälden einer florierenden Landwirtschaft gezählt hätte. In solchen innigen Momenten konnte der Bevölkerungsdruck auf die stadtähnlichen Ortschaften gesenkt werden. Das Mädchen muß noch einmal auf die Toilette. Seine Haare verlassen dieses Gebäude äußerst selten.
Der surreale Aberwitz solcher Passagen, diese auf mehrere Stockwerke getürmte, assoziative Metaphorik nähert sich bisweilen den eisigen Höhen der reinen Poesie: Entleerung durch Überfülle, Entleerung durch die überbordende, überschwappende dysfunktionale Gleichrangigkeit aller Phänomene, Personen, Orte und Dinge, deren Austauschbarkeit eine Art narrativen Schwindel erzeugt. Egal, ob eine Alltagsverrichtung, eine radikale Zerstörung oder eine heimliche Liebe erzählt wird, alles wird unterschiedslos gesampelt und im großen Kreis der Loopings x-mal um die eigene Achse gedreht.
Verstörend und mehr. Aufregend und mehr. Ungewöhnlich und mehr. Nachhaltig und mehr. Empfehlenswert. Punkt.
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