Heimat, schrecklicher Sehnsuchtsort

Zur Anatomie einer Ambivalenz

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

I. Schimmernde Vieldeutigkeit und Bedeutungsgeschichte

„Heimat“. Kaum ein anderes Wort löst so widersprüchliche Reaktionen aus, kaum ein anders ist so drückend voll von intimster Erinnerung an Angenehmstes und Unangenehmstes, kaum ein anderes rührt so unabweislich nah an frühen Schmerz, Urvertrauen und Angst. Heimat oder, besser, auf die Heimat bezogene Literatur umfasst alles von rosarotem Kitsch bis zu düsterstem Horror. Der erste Schauerroman, Horace Walpoles The Castle of Otranto (1764), spielt – wie dann viele weitere gothic novels, Schicksals- und Gruselgeschichten – in einem alten Familiensitz, auf dem ein Fluch ruht, welcher zurückgeht auf ungesühnte Verbrechen in der Familiengeschichte. Ortsbindung, stabilitas loci, kann in der Literatur dargestellt werden als identitätssichernde Einbindung in beruhigend Vertrautes, sie kann aber auch perhorresziert werden zum Ausgeliefertsein an die Schrecken einer übermächtigen Tradition, der das Individuum vergeblich zu entkommen sucht. Die einen empfinden alles, was im Wort „Heimat“ mitschwingt, als unerträgliche Zumutung, anderen bezeichnet es ein Objekt unerreichbaren Sich-Sehnens und erträumten Aufgehoben-Seins, während viele Menschen irgendwo zwischen diesen beiden Extremen Zustände besiedeln, die sie entschlossen „Heimat“ nennen und mit denen glücklich zu sein sie mehr oder weniger erfolgreich sich selbst befohlen haben.

Blickt man etwas genauer hin, was es überhaupt bedeutet, dieses Wort „Heimat“, so tun sich Abgründe auf: Im 19. Jahrhundert bezeichnete „Heimat“ nicht mehr bloß den Herkunftsort, sondern einen Rechtszustand, den Anspruch der Besitzenden auf ein Heimatrecht dort, wo sie über Grund und Boden verfügten. Dieses Heimatrecht beinhaltete den Anspruch auf Versorgung durch Dorf oder Gemeinde im Notfall und wurde deshalb nach Möglichkeit denen nicht gewährt, die ohnehin nichts besaßen. In der langen Sattelzeit um 1800 waren viele besitzlose Landbewohner im Zuge der sogenannten „Bauernbefreiung“ von alten Abhängigkeiten (die bis zu Leibeigenschaft reichen konnten) um den Preis „befreit“ worden, dass niemand mehr für sie zuständig war. Mit dem Recht auf die einstige Fürsorge durch den Feudalherrn verloren sie oft jeden Anspruch darauf, sich an ihrem Geburtsort als dem ihren aufzuhalten. Heimatlos zogen sie umher und bildeten bald in den wachsenden Großstädten und ihren Elendsvierteln den Bodensatz für die beginnende Industrialisierung. Den eindringlichsten Roman über die für die Armen und Heimatlosen erniedrigenden Verhältnisse auf dem Lande unter den sozial freilich in mancher Hinsicht besonderen Verhältnissen in der Schweiz publizierte 1837 Jeremias Gotthelf mit dem Bauernspiegel.

II. Migration und „Heimat“ im 19. Jahrhundert

Im Laufe des 19. Jahrhunderts gerieten immer mehr Menschen in Bewegung. Im Zuge von Elends- und Wirtschaftsmigration wanderten große Bevölkerungsteile aus dem ländlichen Raum in die Städte und Industriegebiete ab. Von diesen Zentren der Modernisierung aus wurde dann nostalgisch zurückgeblickt auf die zunehmend verlassenen Regionen, aus denen die Zuwanderer kamen. Das Genre der in den Städten entstandenen, dort und für diese publizierten „Dorfgeschichte“ lebte davon. Urbane Siedlungsverdichtungen entwickelten sich dadurch zu Zentren der nostalgischen Erinnerung an ein Verlorenes, an das immer häufiger in Text, Bild und Lied erinnert wurde. Den zuvor eher juristisch aufgeladenen Begriff „Heimat“ transformierte dies in ein Nostalgikum. Die Bewohner der Arbeiterviertel hängten sich als oft einzigen „Luxus“ billige Reproduktionen gemalter (zumeist völlig irrealer) Dorfszenen in ihre von Abgas und Ruß bedrängten Wohnungen, in Gesangsvereinen sang man Lieder von einer ländlich glücklichen Heimat, die so kaum einer der Sänger je erlebt hatte. Die wehmütige Note, diese Welt sei eine verlorene, gewährte aber vielen die Illusion, sie habe einmal wirklich existiert, wenn auch sie selbst sie nur in fiktionaler Form konsumieren konnten. Daran geknüpft waren Narrative von einem „wahren“ Leben, demgegenüber die augenblickliche eigene Existenz als falsch und uneigentlich abgelehnt werden konnte. Unzufriedenheit, Reibung mit den gegenwärtigen Verhältnissen und daraus erwachsende utopische Energie flossen ein in sozialistische Fortschrittsvisionen, christliche Heilserwartungen oder in konservatives Wähnen der Wiederherstellbarkeit einstiger Zustände.

Als „Heimat“ wurden bezeichnender Weise ausgerechnet solche Gebiete besungen und literarisch evoziert, in denen immer weniger Menschen lebten. Aus Masuren etwa waren während des Kaiserreichs zwei Drittel aller dort Geborenen ins Ruhrgebiet abgewandert. Die im Herkunftsgebiet zurückgelassene, unökonomisch gewordene Lebensweise der Eltern erschien aus räumlicher wie zeitlicher Retrospektive dann oft als Verkörperung einer (einst doch geflohenen) guten alten Welt. In enger Wechselwirkung damit entwickelte sich oberhalb der Migrationen (auch durch Austausch unter den Migranten) und der Bilder von den jeweils anderen Heimaten ein durch Erzählungen, Presse, Bücher, Bilder, Unterricht, Karten und Militär vermitteltes kollektives Vorstellungsmosaik von einem ganzen Deutschland. Dieses umschloss als Raum der Politik, Wirtschaft, Kommunikation und des Verkehrs die von Chancen und Nöten hin- und hergetriebene Bevölkerung und suchte sie zu einer (immer prekär bleibenden) Nation zu vereinen, die ihr Ganzes (bzw. die Vorstellung von ihm) erst noch zu erlernen hatte. Zu dessen mentalem Gesamtbild gehörte nun weniger die von kaum jemandem wirklich überblickbare reale Vielzahl der Städte, Provinzen, Täler, Mühlen, Dörfer, Fabriken und Provinzen, sondern ein ausgewählter Satz symbolisch aufgeladener, exemplarisch herausgehobener Regionen und Orte mit dem besonderen Wert ästhetisch eigenständiger Landschaften voll unterscheidbarer Charakteristika: der Rhein (schon seit der Romantik eine Art erster nationaler Urlandschaft), die Alpen, der Schwarzwald, der Brocken, Weimar, das Riesengebirge, Oberschlesien, die Lüneburger Heide, Rügen und anderes mehr. Gegenläufig dazu entwickelten sich idealtypische Vorstellungen über einige als „modern“ dargestellten Zuwanderungszentren wie Berlin, Hamburg, Leipzig, Köln oder dem Ruhrgebiet, die nicht Heimatlichkeit und Stabilität versprachen, sondern Beweglichkeit und Zukunftsoffenheit. Zuwanderungsregionen (Großstädte und industrielle Ballungszentren) und Abwanderungsgebiete waren so um 1900 in der Imaginations-Grammatik deutscher Regionen gleichermaßen vertreten und übernahmen darin die komplementär aufeinander verweisenden gegensätzlichen Bedeutungen von „Modernisierung“ und „Heimat“.

Seither ist „Heimat“ aufgeladen auch mit dem Versprechen, ein Refugium vor den Herausforderungen der modernen Großstadt zu sein, oder aber der Drohung zurückgebliebener Provinzialität. Im Laufe der Zeit gab es schließlich kaum eine Region, die nicht als „Heimat“ vertextet, dichterisch verbrämt und mit Elementen kindheitsseliger Nostalgie umflort worden wäre. Das gilt selbst für viele Metropolen, deren Heimatlichkeit als eine verlorene wehmütig in ihre Vergangenheit verlagert wurde. Über Berlin zum Beispiel gab es (und gibt es) nebeneinander Texte, die die Modernität Berlins preisen, und solche, die eines scheinbar „heilen“ Alt-Berlin gedenken. Heute gehört zu diesem „Alt-Berlin“ schon das damals von vielen als „Moloch“ empfundene Berlin der Kaiserzeit, von dem aus seinerseits nostalgisch auf ein noch älteres Berlin zurückgeblickt worden war.

III. „Heimat“ und Nation

Zahlreiche illustrierte Deutschland-Bücher entstanden im Kaiserreich, die das gesamte Staatsgebilde vorstellbar machen und zu einer Heimat emotionalisieren sollten. In oft prachtvoll ausgestatten Bildbänden wurde zwar Stolz auf Industrie, Militär und Kolonien gepredigt, Bilder einer idyllisch ländlichen Heimat jedoch waren auffallend überrepräsentiert. Sie sollten die Selbstdarstellung des neuen Deutschland durchsetzen mit Imaginationen, die den Rezipienten als urvertraut heimatlich antrainiert waren – selbst wenn sie eine solche Umgebung nie real kennengelernt hatten. „Heimat“ entwickelte sich zu einer mit literarisch-medialen Techniken erzeugten Simulation, deren Real-Existenz geglaubt werden sollte. „Heimatkunde“ wurde Schulfach. Die Schüler im ökologischen Katastrophengebiet des oberschlesischen Industriereviers zum Beispiel mussten in eigens für sie verfassten Schulbüchern die Landschaftsgedichte Eichendorffs als „Heimatliteratur“ rezipieren. Je weniger man in einer solchen „Heimat“ tatsächlich lebte, desto inbrünstiger sollte an ihre Existenz geglaubt werden.

Ein beträchtlicher Teil der Menschen, die in den Ballungsgebieten zusammen kamen, war aufgrund seiner regionalen Herkunft sprachlich, konfessionell oder schlicht und einfach durch Armut sozial auffällig. Zahlreiche Dialekte, aber auch Minderheitensprachen wie Polnisch, Französisch, Jiddisch, Litauisch oder Sorbisch wurden gesprochen. Liberale, Katholiken, Polen und Sozialdemokraten mussten sich von Bismarck als „vaterlandslose Gesellen“ beschimpfen lassen und sahen sich politischer Verdächtigung oder gar Verfolgung ausgesetzt. Die Gesellschaft des Kaiserreichs war ein buntes Flickwerk. Das sich herausbildende Vereinsleben, egal ob sozialdemokratisch, kirchlich oder konservativ, gewährte Gemeinschaftsgefühle, führte zu kulturellen Vereinheitlichungseffekten („Assimilation“) und gruppierte sich um gemeinsam produzierte und rezipierte Vorstellungsbilder dessen, wie die richtige „Heimat“ Deutschland beschaffen sein sollte. Das Wort „Heimat“ barg ein Integrationsangebot in sich – bei gleichzeitiger Exklusionsandrohung erkennbar „Anderen“ gegenüber. Jeder, der sich seinen Implikationen unterwarf, durfte hoffen, dazu gehören zu dürfen, als ‚richtiger‘ Deutscher Teil einer vorgestellten Gemeinschaft zu sein und sich als Teil des gemeinsamen Kultur-Innenraums zu empfinden. Im Ergebnis fand eine eigenartige Verquickung von „Heimat“, Nation, Anpassungsbedürfnis und Abgrenzung nach Außen und nach Innen (etwa in Form des zunehmenden Antisemitismus) statt, in dessen Folge das Wort „Heimat“ zusätzlich zu all seinen bisherigen Bedeutungsnuancen noch den Geschmack zwanghafter Selbstunterwerfung unter als „deutsch“ geltende Ordnungs-, Schönheits- und Verhaltensvorstellungen annehmen konnte. Die „Volksgemeinschaft“ des „Dritten Reiches“ lebte ebenso davon wie eine bestimmte Einrichtungsindustrie (die zum Beispiel den sogenannten „Gelsenkirchener Barock“ produzierte) und dann schließlich in den 1960er Jahren noch das Aufbegehren der revoltierenden Jugend gegen die mit dem „Heimat“-Bedürfnis ihrer Eltern einhergehenden Erwartungen an ihre Lebensführung.

Im Zuge der nationalen Vereinheitlichung insbesondere seit der Reichsgründung gab es jedoch auch widerständige Unzufriedenheit, die zur Ausbildung diverser Regionalismen führte, am sichtbarsten noch heute in Bayern. Doch selbst Preußen hatte seine „Altpreußen“, die gegen ein Aufgehen Preußens im Deutschen Reich waren, sich teilweise noch enger an der ursprünglichen Wortbedeutung von „Preußen“ ostpreußisch orientierten und sich dort wiederum womöglich gar von dem untergegangenen baltischen Volk der Prußen herleiteten (nach denen Preußen ja von den deutschsprachigen Eroberern benannt war), wie noch Paul Fechter in der kurz vor der Uraufführung von den Nazis 1941 verbotenen Komödie Der Zauberer Gottes. Regionalismus konnte die unterschiedlichsten politischen Färbungen annehmen und flottierte manchmal schwer kontrollierbar zwischen „links“ und „rechts“, je nachdem, gegen welche Reichsregierung er sich gerade positionierte. So konnte der langjährige Redaktionsleiter des Simplicissimus, Ludwig Thoma, lange Zeit als „links“ rezipierte bayerische Bauernliteratur (beispielsweise über den rebellischen Bauernführer Andreas Vöst im 1899 erschienen Roman gleichen Titels) schreiben, Militärsatire und autoritätsverspottende Lausbubengeschichten veröffentlichen, aber nach dem Ersten Weltkrieg im Miesbacher Anzeiger zum journalistischen Wortführer neu sich herausbildender völkisch-reaktionärer Politik gegen die nun sozialdemokratische Reichsregierung werden.

IV. Tourismus und Kritischer Regionalismus

Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten einige optisch besonders „heimat“-konform wirkende Abwanderungsgebiete touristische Angebote entwickelt, mit denen von Städtern gegen Geld die zeitweise Vortäuschung einer heimatlich heilen Welt erworben werden konnte. In einigen Dörfern führte dies zu einem eigenartigen Effekt: Um sich als „authentische“ Heimat verkaufen zu können, mussten sie sich verbreiteten Vorstellungen von „Heimat“ anpassen und sich in ein „Heimat“ vortäuschendes Gesamtkunstwerk verwandeln, indem sie so auszusehen versuchten, wie Literatur „Heimat“ beschrieb. Zugleich mussten Touristen und oft auch Einheimische dazu erzogen werden, den jeweiligen Ort auch so zu sehen.

Seither gibt es insbesondere in touristisch relevanten Gebäuden oft Bilder des Ortes, an dem die Besucher sich doch ohnehin befinden. Diese sollen jedoch den Ort auf bestimmte Weise sehen. Analog dazu gibt es eine wachsende Literatur, die nunmehr gezielt an den Orten verkauft wird, an denen sie spielt und an denen sie auch gelesen werden soll. Vorstellungsbilder des jeweiligen Ortes überdecken diesen, verdoppeln und vervielfachen ihn. Eines der erfolgreichsten Lustspiele der späten Kaiserzeit hieß nicht umsonst Das Theaterdorf (von Oscar Blumenthal und Gustav Kadelburg, 1902). Urlaubsort, Museum und Disneyland gehen bis heute unmittelbar ineinander über.

Spätestens seit Ludwig Thoma gibt es in der Literatur satirische Bissigkeit gegenüber dieser Zurichtung der jeweiligen „Heimat“ zur touristischen Traumwelt. Dieser wird ernüchternder Realismus durch Beschreibung der nicht-idyllischen und nicht-idealen Seiten der jeweiligen Region entgegengesetzt. Damit schleicht sich ein Bewusstsein von Inszenierung in den Begriff „Heimat“ ein, ein Schuss Ironie, mit dem sie seit den 1970er Jahren auch von Linksintellektuellen wieder vorsichtig genossen werden kann: Man erlaubt sich „Heimat“ im Modus gesellschaftskritisch auf sie blickender Uneigentlichkeit, was zugleich davor schützt, von ihren Zumutungen in Anspruch genommen zu werden. In der Literatur und spätestens seit Edgar Reitz auch im Film hat sich diese Tendenz als „kritischer Regionalismus“ etabliert. Zeitweise konzentrierte sich solch „kritische Heimatliteratur“ auf die Rekonstruktion vor Ort lange tabuisierter NS-Verbrechen, aufgrund der die Beschäftigung mit „Heimat“ moralisch legitimiert erschien. Seither breitet sich eine neue Flut auch begrenzt kritischer regionaler Literatur aus, die sich nun an eine mobil gewordene Gesellschaft wendet. Deren ständig reisende Mitglieder können sich mit Hilfe dieser Literatur in jeden Ort, an den sie gerade ziehen (oder mal zwischendurch zurückkehren) – sei es für zwei Wochen, für eine Jobphase oder für einige Studiensemester –, einlesen. „Heimat“ wird zu einem Vertrautheitsschema, das man überall erwerben kann. Die life-style-Zeitschrift Landlust verkauft die Vorstellung einer regional typischen Lebensweise, die unter Gleichgesinnten völlig unabhängig von der Region, in der sie sich gerade befinden, gelebt werden kann. Bayerische Trachtenjanker kann man auch in Hessen, Hamburg und Hiroshima kaufen. Oft fungieren sie nicht mehr als „bayerisch“, sondern als „regional“. Regionalität wird zur Ware. Das Genre des Regionalkrimis, an jedem größeren Bahnhof erhältlich, agiert deutschland- und europaweit mit weitgehend identischen Handlungsschemata, die sich vor allem durch ortsspezifische Variation der Handlungskulissen, eine Beimischung zu leichter Verständlichkeit abgeplatteten „Dialekts light“ und regionale Kochrezepte auszeichnen.

V. Migration und „Heimat“ im 20. Jahrhundert

Natürlich kann es auch literarisch herausragende Beispiele ortsgebundener Regionalkrimis geben. International (auch in Deutschland) sehr erfolgreich verkaufen sich etwa die Breslau-Romane um den Kommissar Mock, in denen der polnische Altphilologe Marek Krajewski zunächst für die Bewohner des heute polnischen Wrocław Figuren und Leser durch die – keineswegs idyllisierte – einst deutsche Stadt Breslau während der 1920er bis 1940er Jahre führt. Er trägt damit dazu bei, dass die Aneignung der Stadt und ihrer Geschichte durch ihre jetzigen Bewohner voranschreitet. Ähnliche literarische Aneignungstendenzen lassen sich auch in anderen Städten mit ausgetauschter Bevölkerung wie Kaliningrad feststellen. „Heimatliteratur“ ist aus dieser Perspektive eine Literatur, die mit ihren Beschreibungen Referenzen in die unmittelbare Lebenswelt der Leser produziert und das sinnlich Wahrnehmbare, diesen Fluss, dieses Gebäude, diesen Bau aufzuladen versucht mit poetisch vermittelter Erfahrung, die dem bloß geographischen Ort Charakter verleiht, Sinn und Bedeutung.

Gerade Literatur, die mit dem fundamentalen Kontinuitätsbruch von Migration oder gar einem völligen Bevölkerungsaustausch umgehen muss (oder will), ist in dieser Hinsicht lehrreich. 1834 veröffentlichte der politische Flüchtling Adam Mickiewicz in Paris das Vers-Epos Pan Tadeusz, das mit dem Anruf seiner Heimat Litauen beginnt. Es wurde zum  polnischen National-Epos. Durch die Aufrechterhaltung der im Hitler-Stalin-Pakt beschlossenen Grenzziehungen und die dadurch verursachte Westverschiebung Polens nach 1945 war Litauen für Polen endgültig verloren, die aus dem einstigen Ostpolen umgesiedelten Menschen mussten sich in zuvor deutschen Gebieten wie Schlesien einrichten. Franciszek Fenikowski veröffentlichte ein Gedicht, in dem er versuchte, die flache Landschaft Litauens ausgerechnet im Riesengebirge wiederzufinden:

Über mir sich wiegend die Wipfel der Bäume summen
– aus Pan Tadeusz sind sie, meine alten Bekannten…
Die Freude über das, was man gelebt, verloren und schließlich gefunden,
ihre Gedichte mich singend rührten und durchdrangen.

Vergleicht man damit die Heimatliteratur der ehemals deutschen Bewohner dieser Gebiete, eröffnet sich eine weitere Dimension von „Heimat“. Diese brachte Meisterwerke kritischer Heimatliteratur wie Günter Grass‘ Danziger Trilogie, Siegfried Lenz‘ Heimatmuseum, Johannes Bobrowskis Litauische Claviere und seine Lyrik, Horst Bieneks Gleiwitzer Tetralogie oder Manfred Peter Heins Fluchtfährte hervor, in denen die verlorene Heimat zugleich beschworen sowie als Ort des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen dargestellt und eingehend daraufhin befragt wird, wie sich dort nationalsozialistisches Denken überhaupt hat ausbreiten können.

Zu lesen sind diese Texte vor dem Hintergrund einer von und vor allem in den Vertriebenenverbänden verbreiteten Heimatliteratur, die immer demselben Schema folgte: Es war einmal ein Paradies namens „Heimat“, in das aus völlig unerklärlichen Gründen und wie aus dem Nichts Panzer der Roten Armee eindrangen und die dort lebenden Menschen vertrieben:

In den geheimnisvoll rauschenden Wäldern des Neisser Landes erlebte ich auch die Eichendorffsche Romantik. Sie lebte noch an diesen stillen Orten mit dem Ausblick über wogende, reifende Getreidefelder, wo die Lerchen hoch oben in den Lüften ihr Lied trillerten. […] Aber was kam dann 1945! Die Sowjet-Armeen überfluteten das schlesische Land. Es begannen Not, Tod, Schrecken, Flucht überall – auch in Neisse.

So Karl Wemmer 1981. In diesen Verbänden bildete sich die literarische Pflege einer virtuellen Heimat heraus, ihre Mitglieder, verstreut über ganz Deutschland, versuchten weniger, sich an ihren neuen Lebensorten schreibend neu zu orientieren (als Ausnahme hervorzuheben wäre Arno Surminski), als die – zunehmend von allem Unangenehmen bereinigte – Vorstellung einer verlorenen glücklichen Kindheitswelt aufrechtzuerhalten, deren tatsächlichen Verlust man sich nie so recht eingestehen wollte. Bis heute werden – allerdings in rapide abnehmender Zahl und nun oft von ihren Nachkommen – Lebensweisen aufrechterhalten, denen ihr Ort längst abhanden gekommen ist. Hans-Ulrich Treichel (Heimatkunde, 2000) und Andreas F. Kelletat (Molscher Pfirsich, 2010) haben eindringlich beschrieben, was es für in Vertriebenenfamilien herangewachsene Kinder bedeutete, von ihren Eltern in eine mentale Heimat hineinerzogen zu werden, der keine reale Lebenswelt entsprach. 1985, noch zur Blütezeit dieser virtuellen „Heimat“, schrieb Joachim Reimann: „Die Landsmannschaften richteten, wie in einem Operettenstaat, Kreis- und Städtetage aus, konstituierten ‚Abgeordnetenversammlungen‛ und ‚Exilparlamente‛ mit Ausschüssen und Ältestenräten, ernannten Minister und komplette Kabinette.“ Arno Schmidt, selbst aus Schlesien kommend, hatte bereits lange davor gespottet: „Müssen ja ganze behördengroße Apparaturen sein; mit Tausenden von Angestellten, die davon leben, daß sie nichtmehrexistierende schlesische oder pommersche Ortschaften rekonstruieren ‚als wäre nichts geschehn‘.“

VI. „Heimat“ als Kunstwerk

Von heute aus betrachtet wirkt dies wie eine allenfalls noch kulturhistorisch interessante Skurrilität. Die Erinnerung daran vermag aber zu verdeutlichen, dass Heimat auch völlig fiktional sein kann. Das Heimat-Erlebnis wird ausgelöst durch Signifikanten, die Vertrautheit implizieren – ob dies ein konkreter Baum oder ein diesen Baum nur evozierendes Wort (oder Bild) ist, bleibt dabei völlig gleichgültig. Heimat war immer schon mehr als ein nur Gegebenes – Heimat war und ist ein Konzept, das über Gegebenes gelegt wird und dort Vorstellungen von Heimat erweckt. Diese sind verbunden mit der Erinnerung an eine real erlebte oder auch nur ersehnte Kindheitswelt, an oft eher vermisstes als wirklich erfahrenes Eingebunden-Sein in bergende Zusammenhänge, an nachträglich imaginierte frühe Berührungen, ersehnte Sinneseindrücke, Wind auf der Haut, „ein Streicheln, Grüße, / Blitz unterm dunkelnden Lid / Und in der Brust jenes Ziehn, / noch als Umarmungen stärker“ (Bobrowski). Heimat evoziert archetypische Urmuster des Erlebens, die oft zu keiner gelebten Wirklichkeit fanden. Erwachsene Phantasie über frühkindliches Erleben mündet in Vorstellungen einer verlorenen Ganzheit. „In der Kindheit also und nirgendwo sonst ist das angelegt, was wir Heimat nennen. Wie aus dem Anbeginn der Schöpfung, mit allen seinen Sinnen nimmt ein Kind die Umgebung in sich auf, neben Auge und Ohr, nahe am Ertasten, am Greifen und Begreifen mit seinen Händen, ist sogar die Nase wichtig, die Vielfalt, die Eindringlichkeit der Gerüche.“ (Christian Graf von Krockow)

Nun ist der Verlust jeder (angenehmen oder schrecklichen) Kindheitswelt unvermeidlich, „Deprivation“ (Hubert Orłowski) findet aufgrund der Mobilisierung und Flexibilisierung der Lebensverhältnisse seit dem 19. Jahrhundert in der Mehrzahl aller Biographien oft mehrmals statt. Dem setzt die in Heimatliteratur oft eingenommene Kindheitsperspektive den Aufbau einer das schreibende Subjekt in Traum- und Märchenwörter hüllenden Textwelt mit „Waldtiefe, versponnene[r], gefährliche[r] Zauberhöhle“ (Heinz Pionek) entgegen, die das Ich in vorgestellte Welten rettet. „Die Imagination macht erst die Landschaft“ (Baudelaire), und dies nicht primär deshalb, weil das Erinnerte oft falsch erinnert ist, sondern in erster Linie deshalb, weil das Erinnerte Bedeutung für den sich Erinnernden erst aus dem Sinn gewinnt, den er ihm verleiht, aus der schweifenden Phantasie, die den sich Erinnernden durch imaginierte Landschaften führt. Diese waren vielleicht nie die Heimat eines erinnerten früheren Zustands des eigenen Ich, sind aber auf jeden Fall Bewusstseinszustände des sich erinnernden jetzigen Ich.

Ob jemand in Butzbach Butzbacher Heimatliteratur liest, um sich dort mit dem Erlebnis des von ihm gewollten Beheimatet-Seins aufzuladen (was freilich den Ärger mit dem Nachbarn am nächsten Morgen nicht mindert), oder ob ein Japaner auf Honshū bayerische Heimatliteratur liest, bayerische Bauernhäuser im seinerseits künstlichen bayerischen „Heimat“-Stil in seinem Bonsai-Garten nachbaut und ein japanisches Oktoberfest in Tokyo mitveranstaltet, bedeutet keinen grundsätzlichen Unterschied: Heimat ist ein Konzept, das in ästhetischer Rezeption erlebt und von dieser aus über davon (mehr oder weniger) abweichende Lebenswelten gelegt wird. Zum Terror insbesondere für Heranwachsende kann ein solches Konzept werden, wenn von ihnen verlangt wird, elterlichen Idealvorstellungen eines heimatlich richtigen Lebens zu entsprechen. Gerade die virtuelle Dimension von Heimat ermöglicht die Angestrengtheit, mit der sie gewollt werden kann, das Unangenehme, dumpf Drückende, das mit „Heimat“ von Opfern dieses Konzepts oft verbunden wird. Vielleicht sind ihre verschiedenen Seiten, die von dem Wort allein schon ausgelöste Erinnerungssehnsucht nach dem Ort, „worin noch niemand war: Heimat“ (Ernst Bloch am Ende von Das Prinzip Hoffnung) und der absurd-schreckliche Zwang, der der Willenspflicht zu tatsächlichem Beheimatet-Sein innewohnt, gar nicht so verschieden voneinander. Sind sie vielleicht sogar ein und dasselbe?