Wiederentdeckung eines Vergessenen

Arno Schmidts Radioessay über Barthold Hinrich Brockes in einer Neuaufnahme

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, die 1950er-Jahre – da konnte Radio noch etwas bewirken. Heute ist es zum Rieselmedium herabgesunken, das die Hits der 60er, 70er, 80er, 90er und natürlich das Beste von Heute im Karussellmodus der ewigen Wiederkehr kreisen lässt, auf dass man noch die hinterletzte Drogeriefiliale in aufgeräumter Kauflaune durchqueren möge. Die Leitmedien, denen man sich mit Aufmerksamkeit widmet und die man bewusst konsumiert, sind längst andere: Streaming-Dienste wie Netflix, die sozialen Netzwerke, unter Umständen noch das Fernsehen. Die Adenauer-Ära im Westen war aber bekanntlich eine Zeit, in der für künstlerisch anspruchsvolle Hörspiele und Radioessays ein erstaunlicher Freiraum existierte. Und diese fanden – aus heutiger Sicht noch erstaunlicher – durchaus ein aufmerksames und relativ breites Publikum. Arno Schmidts Funkdialoge, die ab 1955 bei verschiedenen Sendern als Nachtprogramme liefen, gehören zu den Legenden dieser Ära. In Dialogform gehalten, verteilen sich die meisten von ihnen auf zwei Gruppen: Entweder sie propagieren die Neuentdeckung von damals weitgehend vergessenen Autoren wie Johann Gottfried Schnabel und Karl Philipp Moritz, die man allenfalls noch als Leser von Literaturgeschichten kannte – was nicht immer erfolgreich war. Oder aber das Werk bekannterer Autoren wird einer kritischen Revision unterzogen: In Klopstock oder Verkenne dich selbst! wird der Autor des Messias-Epos zugunsten der Prosa, besonders der Gelehrtenrepublik von 1774, verworfen. Karl Mays kaum gelesene Spätwerke Ardistan und Dschinnistan und Im Reiche des Silberlöwen kommen zu neuen Ehren und Christoph Martin Wieland wird als Avantgardist der Prosaformen gefeiert.

Die meisten dieser Nachtprogramme entstanden bis Anfang der 1960er-Jahre beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart, der mittlerweile im SWR aufgegangen ist. Allein die Liste der Betreuer lässt aufhorchen: Alfred Andersch, Martin Walser, Helmut Heißenbüttel und Hans Magnus Enzensberger sind es, die in die Produktion involviert sind, Walser sogar als Regisseur. Ab etwa 1963 floss der Strom der Texte spärlicher, nach 1966 entstanden bis zu Schmidts Tod nur noch drei weitere Arbeiten, die letzte 1974. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass Schmidt mit Großprojekten wie dem monumentalen Zettel’s Traum (1970) und umfangreichen Übersetzungen beschäftigt war, sondern auch an Schmidts verbesserter finanzieller Lage. Eigentlich war die Form des Nachtprogramms aus der finanziellen Not entstanden, in der sich Schmidt und seine Ehefrau Alice lange Zeit befanden. Besonders in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre finanzierte Schmidt ihr Leben fast ausschließlich über Übersetzungen, kurze Feuilletons und eben Rundfunkarbeiten.

Schmidt tastete sich erst allmählich an dialogische Formen heran: Das 1949 entstandene Massenbach über eine Figur der napoleonischen Kriege blieb ein Lesedrama und wurde erst zehn Jahre später publiziert. Der erste genuine Radioversuch über Lederstrumpf-Autor James Fenimore Cooper arbeitete mit so vielen Figuren, dass die Redakteure entsetzt „Siebzehn sind zuviel!“ ausriefen – was dann bis heute Titel des Stückes blieb.

Bereits der dritte Versuch zeigte dann aber fast in Reinform, wofür Schmidts Funkdialoge stehen: „Nichts ist mir zu klein!“, im Oktober 1955 unter Walsers Regie aufgenommen, beschäftigt sich mit Barthold Hinrich Brockes (1680 –1747), dem Autor der neunbändigen Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott (1721–1748), die mehr als 5000 Seiten umfasst. Die Originalaufnahme war eine Zeit lang auf der CD-Box Nachrichten von Büchern und Menschen (2003) zugänglich, die aber derzeit nur antiquarisch zu haben ist. Umso erfreulicher ist es, dass der Verlag Hoffmann & Campe pünktlich zum 60-jährigen Jubiläum des Radioautors Arno Schmidt eine komplette Neuaufnahme vorlegt. Allerdings nicht unter dem Originaltitel „Nichts ist mir zu klein“, sondern unter dem direkter auf Brockes verweisenden Namen „Irdisches Vergnügen“.

Für Schmidt, der sich als sprachlicher Avantgardist versteht und öffentlich große Stücke auf den Expressionismus hält, ist der Hamburger Patrizier Brockes auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Wahl. Oder auch wieder nicht: Die meisten der Autoren, über die Schmidt schreibt, stammen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Er selbst sieht sein Schreiben bis gegen 1960 explizit in der Tradition der Aufklärung. Warum also nicht über den Mann schreiben, der neben dem Schweizer Albrecht von Haller als wichtigster Lyriker aus der Frühzeit dieser Epoche gilt? Was Schmidt an Brockes fasziniert, ist seine Liebe zur detaillierten Naturbeobachtung im Vers. Dass sie auf Kosten der Handlungsdichte geht, schadet nichts, denn „das Verfahren des echten Realisten ergibt sich ihm aus der Erkenntnis, daß ‚In Wirklichkeit‘ viel weniger ‚geschieht‘ als die katastrophenfreundlichen Dramatiker uns weismachen wollen. […] [A]lso verweigert man sich als Realist […] der Fiktion pausenlos=aufgeregter Ereignisse (wobei die radikalste Kühnheit in Denkweise, Sprache, Architektonik, sehr wohl mit solcher, nur dem oberflächlichen Beurteiler befremdlichen, Handlungsleere gepaart sein kann).“

Tatsächlich spielt Brockes virtuos mit der Sprache und zählt damit durchaus zur Avantgarde seiner Zeit. Das eigentlich Charakteristische an seinen Gedichten ist jedoch der durch Fernrohr und Mikroskop geschulte, „händereibend=sammlerhafte“ Blick fürs Detail, bis hin zur Aufzählung einzelner Tulpensorten in seinem Garten in Ritzebüttel, wo Brockes lange Jahre als Amtmann tätig war. In seinen Radioarbeiten gibt Schmidt Zitaten viel Raum, etwa wenn er den „Silber=Weiße[n] Nebel=Dufft“ über einem Schneefeld beschreibt, „der recht wie einen weiße Fluth / auf dem dadurch erquickten Grase ruht. / Es schien das Welt mit Wasser überflossen, / und recht als hätte sich, / ein starcker Fluß ergossen, / der Alles eingeschluckt“. Er vergleicht die Beschreibungskraft und den Detailreichtum mit der langsamen Prosa Adalbert Stifters und bemerkt die Menschenleere in Brockes’ Gedichten.

Brockes hängt der Physikotheologie an, einer Denkrichtung der frühen Aufklärung, die Gottes Größe in der sichtbaren Natur ausgedrückt sieht. Wenige Jahrzehnte zuvor hatte die Dichtung noch einen Gegensatz zwischen der unvollkommenen Welt, die nur Oberfläche ist, und dem wahren Sein nach dem Tode postuliert. Hier vollbringt Brockes etwas durchaus Neues. Wenn der überzeugte Atheist Schmidt in diesem Lob der Natur einer Verweigerung religiösen Denkens sieht, und die Möglichkeit ins Spiel bringt, Brockes habe in Wirklichkeit gar nicht an einen Schöpfer geglaubt, ist wahrscheinlich der Wunsch Vater des Gedankens. Solche Projektionen haben etwas Programmatisches an sich und haben wohl mit dem Widerspruch zu tun, der in den meisten seiner Radioarbeiten steckt: einerseits den Hörern seiner Zeit die Literatur vergangener Epochen nahezubringen, andererseits, wie es im 1958 entstandenen „Vorspiel“ heißt, „Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln!“ Dass hier ein gebürtiger Hamburger über einen zweiten schreibt, mag ein weiterer Grund für die Wahlverwandtschaft sein.

Eine Neuaufnahme von Schmidts Text wäre an sich nicht nötig gewesen. Man hätte einfach die Originalaufnahme neu herausgeben können. Die Doppel-CD, deren Herzstück er ist, bietet jedoch viel mehr. Zu empfehlen ist vor allem der zweite Teil, der eine von Jan Philipp Reemtsma getroffene Auswahl aus Brockes` Lyrik mit Musikstücken von Johannes Sebastian Bach bis Astor Piazolla kombiniert. Reemtsma, Bernd Rauschenbach und Joachim Kersten lesen unter der Regie von Charlotte Drews-Bernstein. Wally Haase an der Flöte und Gitarrist Thomas Müller-Pering steuern die Musik bei. Hier kann man sich auch ohne den Schmidtschen Kommentar noch einmal von der Schönheit von Brockes` Gedichten überzeugen. Weniger nötig gewesen wäre Reemtsmas Einführung zu Beginn der ersten CD. Viele Informationen zu Leben und Werk des Hamburger Dichters sowie zentrale Thesen Schmidts werden ohne Not verdoppelt. Stattdessen hätte man lieber etwas über die Anfänge des Radioautors Schmidt und seine Arbeitsweise gehört. Dass Reemtsma seine Einführung mit eigenen Trouvaillen aus Brockes` Werk anreichert, gleicht diesen Eindruck aber zum Teil wieder aus.

Schmidts Missionierungsversuche hatten in einigen Fällen durchaus Erfolg. Seine Arbeiten haben direkten und indirekten Einfluss auf die Wiederentdeckung von Autoren wie Schnabel und Wieland ausgeübt. Die von ihm nicht erfundene, aber popularisierte These, dass Karl May homosexuell gewesen sei, schlägt sich sogar in denkbar Schmidt-fernen Gefilden wie in der Figur des schwulen Inidianers Abahatschi in der May-Parodie Der Schuh des Manitu (2001) nieder. Bei Zweitausendeins gibt es sogar die Buchreihe Haidnische Alterthümer, die ausschließlich Reprints und Neuausgaben von bei Schmidt behandelten Texten herausgibt. In anderen Fällen blieb der Autor kontrovers, etwa wenn er die Apologie des Nazi-Dichters Gustav Frenssen betrieb. Hier wollten ihm selbst viele seiner Leser nicht mehr folgen. Weder Samuel Christian Pape (1774–1817) noch Leopold Schefer (1784–1862) oder Carl Spindler (1796–1855) haben die Resonanz gefunden, die Schmidt ihnen verschaffen wollte. Schön, dass zumindest seine Hommage an Barthold Hinrich Brockes für uns wieder zugänglich ist.

Titelbild

Arno Schmidt / Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen.
Mit Joachim Kersten, Bernd Rauschenbach und Jan Philipp Reemtsma sowie Wally Hase (Querflöte) und Thomas Müller-Pering (Gitarre).
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
2 CDs (141 Min.), 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783455310306

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