Trends und Tendenzen

Ein Blick auf die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur nach der Jahrtausendwende

Von Jana MikotaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Mikota

Gattungsvielfalt, Mehrfachadressierung, aber auch Begriffe wie Comicroman, Dokufiktion, fiktives Sachbuch oder Future-Fiction charakterisieren den kinder- und jugendliterarischen Buchmarkt der letzten Jahre. Anhand ausgewählter Beispiele aus der Kinder- und der Jugendliteratur sollen einzelne Trends und Tendenzen aufgezeigt und vorgestellt werden.[1] Die im folgenden Beitrag vorgestellte realistische Kinder- und Jugendliteratur kann als zeitdiagnostisches Medium gelten, denn es werden aktuelle Diskurse aufgegriffen – etwa im Rahmen der Darstellung der Interkulturalität, aktueller Ereignisse wie Kriege und Flucht, den Geschlechtern und der Heterogenität von Familien- und Kindheitsbildern. Ausgeklammert wird die phantastische Kinder- und Jugendliteratur, aber ein Blick auf die Neuerscheinungen lässt die vorsichtige These zu, dass der realistische Kinder- und Jugendroman ein Comeback erlebt.

Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur

Im deutschsprachigen Raum entstand eine originäre Kinder- und Jugendliteratur, also eine Kinder- und Jugendliteratur, die ausdrücklich an Kinder adressiert war, im ausgehenden 18. Jahrhundert. In die entstehende Kinder- und Jugendliteratur gingen die Vorstellungen der aufgeklärten Pädagogen über Erziehung ein. Damit wurde auch die Funktion der Texte festgelegt: Sie bestand zunächst darin, „an die nachwachsende Generation die etablierten Normen und Werte zu vermitteln“: Sie sollte erziehen, belehren und unterweisen und damit entwickelte sich die entstehende Kinder- und Jugendliteratur im engen Bezug „zum Erziehungssystem der Zeit“[2]. Eine solche Funktion erfüllten kinderliterarische Texte in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert:

Während die Allgemein- bzw. Erwachsenenliteratur sich zunehmend von dem Zwang befreite, bestimmten Interessen zu dienen, sich von Religion, Philosophie und Moral, Recht und Politik, Wissenschaft und Pädagogik abgrenzte und – trotz gesellschaftlich ‚eingreifenden‘ Intentionen etwa im Rahmen von Konzepten einer littérature engagée – einen Autonomieanspruch formulierte, war die Literatur, die sich an Kinder wandte, bestimmten ‚Zwecken’ verpflichtet.[3]

Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhundert wandelte sich die Kinder- und Jugendliteratur, sie hat sich – grob formuliert – hinsichtlich der Formmerkmale und  Themen der Erwachsenenliteratur angenähert. Dennoch beteiligt sich auch nach dem Jahr 2000 die Kinder- und Jugendliteratur an der Modellierung von Kindheits- und Familienbildern, greift pädagogische Diskurse wie Heterogenität und Inklusion auf. Bettina Kümmerling-Meibauer stellt in ihrem Band Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung zu Recht fest, dass insbesondere Übersetzungen aus dem skandinavischen Raum zu einem solchen Wandel beigetragen haben. Der Erzähler verzichtet beispielsweise auf Kommentierungen als literarischer Erzieher und lässt sich teilweise als neutraler Erzähler bezeichnen. Selbstverständlich wird auch der Ich-Erzähler in die moderne Kinder- und Jugendliteratur aufgenommen, was zahlreiche Leerstellen sowie Mehrdeutigkeiten ermöglicht. Zugleich kann ein solches Erzählen die Zerrissenheit der kindlichen und jugendlichen Protagonisten in einer postmodernen Gesellschaft entwerfen. Hinzu kommen innere Monologe, Rückblenden, rasche Wechsel der Zeitebenen und Tempusformen, aber auch ein multiperspektivisches Erzählen. Der Schluss bleibt oftmals offen und liefert den kindlichen Lesern keine klaren Antworten.

Auch der Wertungsstandort hat sich in der Kinder- und Jugendliteratur gewandelt: Nicht der heterodiegetische Erzähler kommentiert und wertet das Handeln der Figuren, sondern jetzt sind es die Kinder und Jugendlichen selber, die als Wertungsinstanzen eingeführt und sich nicht immer an den Normen und Werten der Gesellschaft orientieren. Selbst wenn ihr Standpunkt nicht den Normen entspricht, wird er nicht korrigiert. Dies bleibt letztendlich dem Leser selbst überlassen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Roman Elefanten sieht man nicht (2012) von Susan Kreller, der unter anderem 2013 für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Jugendbuch nominiert wurde. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Mascha, das ihre Ferien bei ihren Großeltern verbringt. Diese leben in einer gutbürgerlichen Siedlung, in der alles nach festen Regeln geschieht. Als Mascha bemerkt, dass die Geschwister Max und Julia zu Hause misshandelt werden, die Gemeinschaft jedoch absichtlich darüber hinwegsieht, um sich Ärger zu ersparen, beschließt sie zu handeln, und entführt in einer Kurzschlussreaktion beide Kinder. Ihr Verhalten wird unterschiedlich bewertet, und es bleibt schließlich dem Leser selbst überlassen, ihre Tat einzuordnen. Der Roman beginnt wie folgt:

Die Sache, die im blauen Haus passiert ist, hat mir viele böse Blicke und meinen Vater beschert. Die Blicke blieben bis zum Ende der Ferien, aber mein Vater ist schon nach zwei Stunden wieder abgereist. Ich hätte ihn gern noch länger hier gehabt und irgendwann vielleicht von ihm erfahren, dass das Falsche, das ich getan hatte, gar nicht falsch war, oder nur ein bisschen falsch, fast richtig. Aber alles, was ihm im Garten meiner Großeltern einfiel, war, ob das bitte schön nicht anders gegangen wäre.[4]

Erzählt wird die Geschichte, die hier unmittelbar einsetzt, in einer Rückblende aus der Sicht Maschas. Auf der Darstellungsebene erfolgen keine Lösungsangebote. Ähnlich wie Mascha muss auch der Leser selbst über das Geschehen urteilen. Pädagogische Unterweisungen, also genau das, was zu Beginn der Entstehung einer originären Kinder- und Jugendliteratur charakteristisch war, löst diese als Sozialisationsliteratur auf. Daraus ergibt sich eine Dichotomisierung der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1990er-Jahren: Es existiert eine unterhaltsame und eine anspruchsvolle Kinder- und Jugendliteratur[5]. Hinzu kommt noch das, was Dieter Wrobel als „Zielgruppen-Literatur“[6] bezeichnet: Dazu gehört beispielsweise die Reihe Freche Mädchen – Freche Bücher aus dem Planet Girl Verlag, der zu Thienemann gehört, sowie Serien wie Die wilden Fußballkerle (2002ff.).[7] Diese Texte besitzen zudem einen breiten Medienverbund, der ebenfalls charakteristisch für die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur der letzten Jahre ist.

Die moderne Kinder- und Jugendliteratur ist nicht nur für unterschiedliche Leserkreise konzipiert, sie entzieht sich auch tradierten Genrezuschreibungen und greift auf postmoderne Erzählweisen zurück. Ähnlich wie auch die Erwachsenenliteratur vermischen kinder- und jugendliterarische Texte Versatzstücke, ordnen diese neue und stellen intertextuelle Bezüge her. Als ein neues und seitdem äußerst populäres hybrides Genre ist die so genannte Steampunk Novel zu nennen, in der Science-Fiction-Elemente und eine historische Kulisse, insbesondere das viktorianische England, miteinander verbunden werden. Jugendromane wie die Trilogie The Hunger Games (2008–2010) von Suzanne Collins, Ashes (2011–2012)von Ilsa J. Blick oder Das verbotene Eden (2011–2013) von Thomas Thiemeyer vermischen wiederum dystopische Elemente mit einer ökologischen Fragestellung und werden entweder als Future Fiction oder als eco-tragedies bezeichnet. Auch hier werden unterschiedliche Genrebezeichnungen miteinander kombiniert.

Der gegenwärtige moderne Kinderroman entzieht sich den tradierten Subgattungen, also den problemorientierten, psychologischen oder komischen, und vermischt diese. Prominente Beispiele dürften die Romane von Salah Naoura und Andreas Steinhöfel sein.

Thematische Öffnung und Veränderungen in der Kinder- und Jugendliteratur nach 2000

Bereits seit den 1970er-Jahren zeichnet sich die Kinder- und Jugendliteratur durch eine thematische Öffnung aus und reagiert damit auf den Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Kinder- und Jugendliteratur modelliert und konstruiert Mädchen-, Jungen- und Erwachsenenbilder, setzt sich mit gesellschaftlichen Diskursen zur Interkulturalität auseinander und leistet mit Romanen wie Halbe Helden (2015) von Erin Jade Lange auch einen wichtigen Beitrag zur Inklusion. Themen wie Krieg, Flucht oder Ökologie sind selbstverständliche Bestandteile der Kinder- und Jugendliteratur nach 2000 und leisten einen wichtigen Beitrag im Kontext der Debatten.

Von Jungen und Mädchen in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur

2001 stellte Anita Schilcher in ihren Untersuchungen von 82 aktuellen Kinderromanen fest, dass weibliche Protagonisten dominieren: Mädchen werden als emanzipierte und selbstständige Figuren entworfen und entsprechen somit einem modernen Mädchenbild. Zum Jungenbild heißt es in der Studie, dass das Klischee des Abenteuerhelden verschwunden, aber der Kampf gegen Rollenerwartungen an den Jungen nach wie vor gegeben sei. Zugleich, so Schilcher, litten die Jungen, wenn sie bestimmten Rollenmustern nicht entsprächen. Aber, auch das zeigt die Kinder- und Jugendliteratur, die Jungen wehren sich im Vergleich zu den Mädchenfiguren nicht gegen die von ihnen erwarteten Rollenmuster. Während sich das Mädchenbild seit den 1970er-Jahren in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur gewandelt hat, und durchaus das emanzipierte und selbstbewusste Mädchen die literarische Welt eroberte, scheint es, als ob die Jungenfiguren noch in den 1990er-Jahren hinter diesem Trend hinterherhinkten und tatsächlich mit dem „gender trouble“ kämpfen. Hinzu kommen die sensiblen Jungen, die nicht in einer Gruppe von Jungen skizziert werden, sondern tatsächlich überwiegend in der Freundschaft mit Mädchen, die jedoch die „Unmännlichkeit“[8] akzeptieren. Tatsächlich zeigt sich besonders in den Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen, die noch unschuldig sind, dass den Jungen hier die Möglichkeit gegeben wird, eine Nähe und Wärme zu spüren, die so in einer rein männlichen Freundschaftsgruppe scheinbar nicht möglich ist. Sie wurden oftmals als sensible Freunde der Mädchen entworfen. Ralf Schweikart konstatiert daher Mitte der 1990er-Jahre:

Die eine Seite sind die sensiblen, nachdenklichen Jungenfiguren, die sich in Zweifeln und Selbstspiegelungen ergehen. Die andere Seite sind die Angeber und Prahler, die mit ihrem Getue entweder auf die Nase fallen oder so nur Schwäche und Unsicherheit überspielen.[9]

Einen großen Einfluss auf das veränderte Jungenbild hatte neben Gregs Tagebuch (dt. 2008, engl. Diary of a Wimpy Kid, 2007) von Jeff Kinney vor allem der Kinderroman Rico, Oskar und die Tieferschatten (2008) von Andreas Steinhöfel, der nicht nur das Jungenbild der nachfolgenden Romane prägte, sondern durchaus auch das Genre des Kriminalromans.[10] Im Mittelpunkt stehen Rico und Oskar, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Rico ist ein tiefbegabter, Oskar ein hochbegabter Junge. Beide leben in Berlin, lernen sich zufällig kennen und werden im Laufe der Handlung zu besten Freunden. Es wird eine gleichwertige Freundschaft skizziert, in der beide durchaus auch ihre Sorgen und Ängste miteinander teilen sowie die Schwächen und Stärken des jeweils anderen akzeptieren. Trotz seiner Tiefbegabung ist Rico auch ein selbstständiges Kind, das den im Roman entworfenen Kriminalfall um Mister 2000 trotz seiner Behinderung lösen kann und zum Teil selbstständiger erscheint als der hochbegabte Oskar, der sich aufgrund seines Wissens immer wieder vor bestimmten Dingen ängstigt. Zugleich ist Rico ein verantwortungsbewusstes Kind, ohne langweilig zu sein. Er entspricht dem ‚Typ Musterknabe‘, den man aus dem Kästnerschen Werk kennt. Den männlichen Lesern wird in Rico, Oskar und die Tieferschatten ein alternatives Modell zu den bis dahin gängigen Bildern von Männlichkeit angeboten.

In den letzten drei Jahren erschienen Romane, in denen Jungen die Hauptrolle spielen und Mädchen gar nicht, oder nur am Rande auftreten: Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums (2011) von Salah Naoura, Anton taucht ab (2010) von Milena Baisch, Der Junge, der Gedanken lesen konnte (2012) von Kirsten Boie sowie Außerirdisch ist woanders (2012) von Susan Oppel-Götz. Die ‚neuen‘ Jungenfiguren können sensibel sein, aber auch Helden – und durchaus auch großspurig, ohne dass es vom Erzähler kritisch hinterfragt wird. Oder anders gesagt: der Wechsel zwischen Rollenerwartungen, Sensibilität und Großspurigkeit müssen sich nicht widersprechen, sondern werden in der Kinder- und Jugendliteratur aufgenommen und diskutiert. Die Erzählungen entwerfen widersprüchliche Jungenbilder – und gerade diese Widersprüche machen die Texte sicherlich auch für männliche Leser interessant.

In Jugendromanen wie Auf Umwegen (2015) von Andrew Smith kämpfen zwei 17-jährige Freunde, Finn und Cade, mit den alltäglichen Irrungen und Wirrungen ihrer männlichen Adoleszenz. Im Mittelpunkt des Romans Halbe Helden, der ebenfalls adoleszente Probleme männlicher Jugendlicher thematisiert, steht der 16-, fast 17-jährige Dane, der alles andere als ein Musterschüler ist. Er prügelt sich oft und muss daher trotz sehr guter Noten immer wieder nachsitzen. Seine Tage auf der Mark-Twain-Schule scheinen gezählt zu sein, und damit auch seine Chance, ein College zu besuchen. Doch nicht nur das: Er lebt mit seiner jungen Mutter zusammen, das Geld ist knapp, weshalb er als einziger Jugendlicher in seinem Umfeld kein Auto besitzt. Mehr zufällig lernt er dabei Billy D. kennen, seinen neuen Nachbarn mit Downsyndrom und Schüler der Mark-Twain-Schule. „Hast du ein Glück, dass ich keine Mongos zusammenschlage.“[11] Mit diesem Satz setzt ein Gespräch zwischen den beiden Jungen ein. Doch Billy D. lässt sich nicht so leicht einschüchtern und macht Dane klar, dass er „kein Mongo“ sei. Er sucht Danes Nähe, der sich mit der Schulleitung darauf einigt, Billy D. zur Schule zu begleiten. Sie freunden sich an – bald sieht Dane in Billy weitaus mehr als nur den Jungen mit einem Handicap.

Doch auch die Mädchenfiguren unterliegen einem ständigen Wandel. In Anlehnung an TV-Serien wie The Big Bang Theory finden sich in aktuellen Romanen Mädchenfiguren, die an die Nerds aus der bereits erwähnten Serie erinnern. Sie sind witzig, schlagfertig, klug, aber weder an Mode noch sonstigen Mainstream-Produkten interessiert. Romane wie Die wahre Geschichte von Regen und Sturm (2015) von Ann M. Martin, Glück ist eine Gleichung mit 7 (2015) von Holly Goldberg Sloan, Mein Sommer mit Mucks (2015) von Stefanie Höfler,  Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess (2015) von Anna Woltz oder Die Anarchie der Buchstaben (2015) von Kate de Goldi stehen exemplarisch für diese neue Entwicklung.

Von Großeltern und Urgroßtanten

In der Kinderliteratur der letzten Jahre tauchen Großelternfiguren auf, die mit tradierten Vorstellungen brechen. Elisabeth Pries-Kümmel konstatiert dazu: „Die Art, wie ältere Menschen im Kinder- und Jugendbuch dargestellt werden, ist von enormer Bedeutung für die kindlichen Vorstellungen vom Alter sowie für die Einstellungen zum Älterwerden und zu älteren Menschen.“[12] Die Kinder- und Jugendliteratur kennt seit dem 19. Jahrhundert Großelternfiguren und zeichnet dabei unterschiedliche Bilder nach. In Romanen wie Heidi (1880/1881) von Johanna Spyri wird die innige Beziehung zwischen Heidi und ihrem Großvater geschildert, das Älterwerden selbst wird jedoch nicht ausführlich thematisiert. Veränderungen setzen erst mit dem Paradigmenwechsel in den 1970er-Jahren ein: Krankheit und Älterwerden werden nun konkret beschrieben – beispielsweise in Oma. Die Geschichte von Kalle, der seine Eltern verliert und von seiner Oma aufgenommen wird (1975) von Peter Härtling. Ebenso wird dargestellt, wie sich Großeltern von vorgegebenen Rollenmustern befreien und ihr Leben neu entdecken: In Vera Ferra-Mikuras Roman Die Oma gibt dem Meer die Hand (1982) verlässt eine Großmutter ihre Familie, um ans Meer zu fahren. Außerdem werden in den Kinderromanen seit den 1990er-Jahren auch Krankheiten wie Demenz oder Alzheimer aufgegriffen.

Insbesondere Salah Naoura präsentiert in seinen Romanen einen neuen Blick auf die Großelternfiguren. Oma Olga aus den Olga und Holger-Bilderbüchern (2004 & 2005), Oma Frieda aus den Superhugo-Erstlesegeschichten (2014 & 2015) und Oma Cordula aus den Hilfe!-Kinderromanen (2014 & 2015) von Salah Naoura sind sehr agile, mode- und selbstbewusste, sowie ausgesprochen lebensfrohe Großmütter, die nicht den bisher bekannten Großmutterfiguren in der Kinder- und Jugendliteratur entsprechen. Die Großeltern führen ein selbstständiges Leben, möchten reisen und die Welt entdecken. Oma Cordula beispielsweise stiftet in der Familie jede Menge Unruhe; dass sie anders ist, als man erwarten würde, wird gleich zu Beginn des Romans geäußert:

Manche alte Damen sind wirklich großartige Omas. Sie kaufen ihren Enkeln schöne Geschenke, streicheln ihnen übers Haar und sagen „Mein Augenstern“ und andere nette Dinge. […]
Aber Oma Cordula gehörte leider nicht zu dieser Sorte alter Damen – ganz bestimmt nicht.[13]

Genau das ist es aber, wovon nicht nur der Ich-Erzähler Henrik profitiert, sondern die ganze Familie. Die aktive und kluge Großmutter, die manchmal im Hintergrund und manchmal direkt agiert, mischt sich nämlich geschickt ins Familienleben ein, ohne dabei ihre eigenen Ansprüche oder gar ihre Lebensfreude aufzugeben.

Großeltern in der Kinderliteratur erfüllen zwar unterschiedliche Funktionen, bedeuten aber in der Regel Schutz und Geborgenheit. In der Polleke-Reihe von Guus Kuijer (dt. 2001–2003) etwa flüchtet Polleke, die bei ihrer Mutter lebt, immer wieder zu ihren Großeltern und findet hier Ruhe und, im Vergleich zur Großstadt, eine ‚Schonraum-Welt‘.

Diese ‚Schonraum-Welt‘ bieten die Großmütter in Naouras Büchern nicht mehr, auch ihnen wird ein eigenes Leben zugestanden. Sie stehen – auch als Außenseiter – mitten im Leben und sind gerade deshalb ihren Kindern und Enkeln eine Stütze. Oder aber sie sind krank und brauchen, zumindest zeitweise, die Hilfe der jüngeren Generationen. Die agile, lebensfrohe Oma-Figur trifft man auch in Romanen von Antje Szillat (beispielsweise in der Rick-Serie, 2011ff.) oder in den Krimis um Die wilde 7 (2014ff.) von Lisa-Marie Dickreiter und Winfried Oelsner, die in einer Seniorenresidenz spielen und ein Detektivquartett aus Jung und Alt vorstellen.

In Die Anarchie der Buchstaben oder Der Himmel kommt später (2015) von Angelika Glitz wird dagegen das Altern selbst thematisiert. Hier müssen die jungen Protagonisten erfahren, dass Menschen altern und teilweise in Heimen leben. Während Perry ihre Oma im Heim besucht, schildert der Kinderroman Der Himmel kommt später die Freundschaft eines 11-jährigen Mädchens mit ihrer 97-jährigen Ur-Großtante, die sie liebevoll „Oma Hilde“ nennt. Im Mittelpunkt der Handlung steht Lulu, die mit ihren Eltern und ihrem Bruder Ben in einem Haus lebt und dort das Leben einer 11-Jährigen führt. Als die Ur-Großtante nicht mehr alleine leben kann, zieht sie in die Nähe ihrer Familie. Eine Altenpflegerin kümmert sich und Lulu soll lediglich dienstags helfen. Lulu ist zunächst skeptisch, denn was soll sie mit einer 97-Jährigen erleben. Das ändert sich jedoch schnell, denn sie erkennt, wie sehr Oma Hilde ihr altes Leben vermisst. Es kommt auch zu Streitigkeiten zwischen Lulu und ihren Eltern, denn diese sehen in Hilde die gebrechliche Frau, die ihnen auch zur Last fällt. Sie nehmen sich keine Zeit, sich mit ihr zu unterhalten oder sie kennenzulernen. In ihrem Leben hat Hilde keinen Platz und genau das wirft Lulu ihren Eltern auch immer wieder vor.

Interkulturalität

Im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert ist eine interkulturelle Gesellschaft selbstverständlich, und auch ein demokratisches Miteinander gehört zur Alltagswelt der Kinder. Besonders beliebt in der Kinderliteratur ist daher der Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft, die scheinbar funktioniert. Dennoch haben auch diese Kinderromane die Funktion, den Kindern unterschiedliche Lebensweisen vorzustellen und das Fremde als etwas Positives zu betrachten. Allerdings wird das Miteinander nicht idealisiert, sondern es werden auch Probleme wie Rechtsradikalismus und Ausgrenzung angedeutet.

Zoran Drvenkar, 1967 in Krizevci (Jugoslawien) geboren, zog mit seiner Familie im Alter von drei Jahren nach Berlin, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Diese Zeit hat er in seinen beiden Romanen Niemand so stark wie wir (1998), zugleich sein erster Roman, der mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis prämiert wurde, und Im Regen stehen (2000), mit dem er für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, beschrieben. Heute lebt der Autor in Potsdam und schreibt mittlerweile auch Romane für Erwachsene.

Im Mittelpunkt der Geschichte Niemand so stark wie wir (1998) steht Zoran, der im Berlin der 1970er-Jahre aufwächst und etwa 12 Jahre alt ist. Er ist mit Adrian, Eli und Karim befreundet, die ihre Freizeit miteinander verbringen und nur vereinzelt über ihre Herkunft nachdenken. In der Kindergruppe findet sein eigentliches Leben statt, Familie und Schule sind unwichtiger und werden sogar als störend empfunden. Zoran ist sich bewusst, dass er in unterschiedlichen Welten lebt:

Schließlich war da noch ich, der vier Leben lebte. Eines fernab von zu Hause mit meinen Jungs, ein anderes, das sich auf dem Hochbett abspielte und zu dem ein Haufen von Büchern gehörte, eines, das Terri allein gehörte, und zu guter Letzt ein viertes, das meine Familie beinhaltete und durchzogen war von Sehnsucht und Distanz.[14]

In Zorans Familie geht es wie folgt zu: Seine Mutter kocht weiterhin jugoslawisch und schimpft serbokroatisch, während sein Vater die Heimat vermisst, gleichzeitig jedoch versucht, seiner Familie ein gutes Leben in Deutschland zu ermöglichen. Eigentlich möchte die Familie jedes Jahr nach Jugoslawien fahren, doch aufgrund von Geldmangel müssen sie in Berlin bleiben. Zoran genießt es, seine Sommerferien mit seinen Freunden zu verbringen und vermisst seine frühere Heimat kaum.

Doch weitaus bedeutender als der jugoslawische Alltag zu Hause ist das unmittelbare Umfeld Zorans in Berlin: Er ist mit seinen Freunden auf den Straßen unterwegs, sie spielen gemeinsam Fußball, sprechen über Mädchen und das Erwachsenwerden. Obwohl die Jungen in unterschiedlichen Familien mit verschiedenen Sprachen aufwachsen, sprechen sie untereinander Deutsch, zu Hause dann die Muttersprache. In der Jungengruppe, so könnte man vereinfacht sagen, erfährt Zoran eine Sozialisation, die ihn sicherlich genauso stark, wenn nicht sogar stärker prägt als seine Familie und damit seine jugoslawische Herkunft.

Seine Familie selbst spielt in dem Roman nur eine Nebenrolle, Zoran kommt lediglich zum Essen heim, doch sein (wirkliches) Leben spielt sich draußen ab. Oder anders gesagt: Interkulturalität spielt in Drvenkars Romanen eine wichtige Rolle, dominiert diese jedoch nicht und wird auch nicht problematisiert: Das Interkulturelle gehört fast selbstverständlich zum Aufwachsen der Jugendlichen dazu. Drvenkar zeigt die ausländischen Jungen – es ist ein Jungenroman, Mädchen kommen kaum zu Wort – weder als Opfer noch als Helden, verfällt auch nicht in Stereotype, sondern konzentriert sich auf das Heranwachsen der Jungen, und macht so deutlich, dass sich die Schwierigkeiten in der Pubertät ähneln, egal ob es sich um Kinder mit Migrationshintergrund handelt oder nicht. Seine Texte verknüpfen die Darstellung der Adoleszenz mit seinen autobiografischen Erfahrungen, was sich unter anderem auch an der Namensgleichheit des Protagonisten mit dem Autor zeigt. Migration ist nicht die einzige Problematik in seinen Romanen, sondern wird eingebunden in zahlreiche andere Themenfelder, denen sich Heranwachsende – unabhängig davon, ob sie Migranten oder Nichtmigranten sind – stellen müssen. Es geht auch um die Suche nach der eigenen Identität – ein Thema, das sich durch die Jugendliteratur zieht und eben nicht ausschließlich auf die „Interkulturelle Literatur“ bezogen werden kann. Hier liegt auch die Stärke des Romans, denn es zeigt an einem Beispiel, wie Jungen aufwachsen und worüber sie sprechen.

Neben Zoran und seinen Freunden existiert eine Gruppe von türkischen Jungen, die einen Streit mit ihnen beginnen. Plötzlich spielt die Gruppenzugehörigkeit und Nationalität eine Rolle. Karim ist Türke, gehört aber nicht zu der Gruppe der Türken, sondern verbringt seine Freizeit mit Zoran, Adrian, Eli und anderen Jungen, zu denen auch Deutsche gehören. Allerdings wird Karim von seinem Vater gezwungen, sich auf die Seite der Türken zu stellen und so seine Freunde zu verraten:

Auch Karim wurde zu einem Problem. Einmal ließ er fallen, dass er sich am liebsten aus der ganzen Sache heraushalten würde. Druck von oben. Sein Vater ging jeden Abend nach Ladenschluss in eine Kneipe, wo sich nur ältere Türken trafen und Karten oder Backgammon spielten. Dort hatte er von einigen seiner Kumpels gehört, dass ihre Söhne sich mit uns Jungs aus der Philippistraße anlegen würden. Seine Kumpels wollten wissen, auf welcher Seite Karim stand.[15]

Die Elterngeneration verlangt Loyalität gegenüber der alten Heimat, die von den Jugendlichen so nicht mehr wahrgenommen wird. Der Kampf zwischen Zorans Clique und den Türken ist eine Bewährungsprobe, die zugleich auch ihre Identität formt und ihnen Selbstvertrauen gibt.

Zugleich macht der Text deutlich, dass Berlin immer mehr zu Zorans Zuhause geworden ist. Trotzdem zeigt Drvenkar eindringlich, wie das Aufwachsen zwischen den Kulturen aussieht, ohne jedoch das Fremde in den Mittelpunkt zu stellen. Die unterschiedlichen Kulturen werden als ein selbstverständlicher Bestandteil Berlins betrachtet. Nicht die Jungen mit den unterschiedlichen Migrationsgeschichten sind im Roman die Außenseiter, sondern der Junge Sprudel, der nicht spricht und unter anderem von Adrian als „Spasti“ beschimpft und voller Misstrauen beäugt wird. Er wird aus der Gruppe ausgeschlossen, rettet aber am Ende den Fußballplatz und wird zu einem Helden.

Drvenkar hat mit seinen Romanen, das stellt Annette Kliewer treffend fest, neuen Boden betreten und den Weg für eine neue Migrantenliteratur geebnet, aber auch einen anderen Umgang mit Interkulturalität innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur ermöglicht. Die deutschsprachige Autorin Antonia Michaelis, 1979 in Norddeutschland geboren, setzt die Idee Interkulturalität in ihrer Reihe Kreuzberg 007 (2009–2011) ganz selbstverständlich um. Aufgenommen wird eine multikulturelle Kindergruppe, die im Berlin des 21. Jahrhunderts operiert. 2012 erscheint der Kriminalroman Der Junge, der Gedanken lesen konnte von Kirsten Boie, der sich hinsichtlich des Genremusters an Steinhöfel orientiert, aber neue Wege innerhalb einer interkulturellen Kinder- und Jugendliteratur beschreitet. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des Jungen Valentin, der mit seiner Mutter aus Kasachstan nach Deutschland kam. Er ist nach einem weiteren Umzug neu in der Stadt; dazu kommt, dass Sommerferien sind. Valentin durchstreift seine neue Umgebung, lernt den Jungen Mesut, dessen Eltern aus der Türkei kamen, kennen, mit dem er gemeinsam einen Kriminalfall löst. Neu ist hier der Perspektivenwechsel, denn es ist ein Kind mit Migrationshintergrund, das die Geschichte erzählt. Kirsten Boie setzt damit konsequent das fort, was Zoran Drvenkar bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts begonnen hatte.

Neben einer inter- beziehungsweise transkulturellen Kinderliteratur existiert auch eine Jugendliteratur, in der die multikulturelle Gesellschaft reflektiert wird. Ein Großteil der Texte zeigt ein meist friedliches Miteinander, ohne zu vereinfachen oder zu idealisieren. In Romanen von Deniz Selek beispielsweise wird anhand von Familienmustern das Leben zwischen den Kulturen nachgezeichnet. Die Autorin nähert sich mit Witz der Thematik, entwirft oft Liebesplots und zeigt in ihrem aktuellen Roman Aprikosensommer (2015) auch das Leben in der Türkei. Sie konfrontiert ihre Leser mit einem modernen und offenen Land, ohne bestimmte Probleme zu verharmlosen.

Ein Teil der aktuellen Jugendliteratur wendet sich dem Thema Rassismus zu und stellt brutale Übergriffe auf Migranten und Asylsuchende in den Mittelpunkt der Handlung. Dabei wird nicht nur aus der Perspektive der Opfer erzählt, sondern auch aus der Sicht der Täter. Exemplarisch soll der Jugendroman Dreckstück (2015) der Autorin Clémentine Beauvais vorgestellt werden, in dem der brutale Übergriff von französischen Jugendlichen an einem dunkelhäutigen Mädchen geschildert wird. Erzählt wird aus der Sicht der Täter, gelangweilte Jugendliche der französischen Oberschicht, die in Paris eines Tages die Schule schwänzen und den Unfalltod ihres Freundes versuchen zu verarbeiten. Sie sind arrogant, fühlen sich überlegen und schikanieren gerne ihre Umwelt. Obwohl sie reich sind, in großen Wohnungen respektive Häusern leben, machen sie Migranten für vieles, was im Land schlecht läuft, verantwortlich. Damit entwirft die Autorin keine Rechtsradikalen aus den unteren Schichten, die aufgrund ihrer geringen Bildung auf Ausländer schimpfen, sondern zeigt, dass auch Jugendliche mit einer guten Ausbildung und vielen Chancen im Leben zu fremdenfeindlichen Übergriffen neigen.

Spontan entführen sie ein dunkelhäutiges Mädchen, das sie zufällig treffen. Der Grund ist eine Laus, die sie im Haar des Mädchens sehen. Sie bringen es in die nahe gelegene Wohnung, in der einer der Jugendlichen, Gonzaque, lebt, fesseln es, und überlegen, was sie machen. Schließlich werden ihre Haare rasiert, sie wird geschlagen und im Aufzug, immer noch gefesselt, in den Keller gefahren. Dort soll sie bleiben. Die Tat geschieht seltsam emotionslos. Mitleid empfindet lediglich einer der Jugendlichen, der später die Wohnung verlässt, um die Nachbarn vor möglichen Schreien abzulenken. Das Mädchen steht als Opfer für andere gequälte und geschlagene Migranten, bleibt namenlos und wendet sich erst drei Jahre später an einen ihrer Peiniger. Die Jugendlichen werden gefasst und bekommen trotz Reichtum und Einfluss Haftstrafen. Dieser Roman steht damit exemplarisch für eine Jugendliteratur, die keine einfachen Lösungen präsentiert, und dadurch die jugendlichen Leser zum Nachdenken zwingt.

Die Darstellung der Flucht

Das Thema Flucht ist kein neues in der Kinder- und Jugendliteratur, sondern blickt auf eine lange Tradition zurück. Im Kontext der Exilliteratur etwa entstanden Kinder- und Jugendromane, in denen die Flucht von Kindern aus dem nationalsozialistischen Deutschland erzählt wird. Exemplarisch können die Romane von Lisa Tetzner, Erika Mann oder auch Adrienne Thomas genannt werden.

Seit 2000 erscheinen vermehrt Kinder- und Jugendromane, in denen aktuelle Fluchten aus Kriegsgebieten erzählt werden. Verknüpft sind diese mit den Themen Bedrohung durch Kriege, Terror und Naturkatastrophen. Exemplarisch vorgestellt werden Kinderromane wie Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor (2012) von Joke van Leeuwen, Vielleicht dürfen wir bleiben (2015) von Ingeborg Kringeland Hald, Jenseits des Meeres (2015) von Jon Walter  oder Mein Freund Salim (2015)von Uticha Marmon sowie Jugendromane wie Das Schicksal der Sterne (2015) von Daniel Höra, Kinshasa Dreams (2012) von Anna Kuschnarowa und Zeit der Wunder (2011) von Anne-Laure Bondoux.

In Kinderromanen wird auf unterschiedliche Art und Weise über flüchtende Menschen erzählt: Zum einen werden die Geschehnisse in konkrete historische Ereignisse eingebettet (zum Beispiel in Vielleicht dürfen wir bleiben), zum anderen werden Kriegshandlungen und die daraus resultierende Flucht geschildert, ohne diese in konkrete Ereignisse einzubetten (zum Beispiel in Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor oder in Jenseits des Meeres).

Der Kinderroman Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor greift Themen wie Krieg, Flucht, Schlepperbanden und Mehrsprachigkeit auf. Im Mittelpunkt steht die namenlose Erzählerin Tonda, die aufgrund eines Krieges ihre Heimat verlassen muss und in die Heimat ihrer Mutter flieht. Zurück bleiben ihre Großmutter sowie der Vater, der vor dem Krieg Feinbäcker gewesen ist, und jetzt als Soldat kämpfen muss. In Episoden schildert Tonda ihre Flucht, ohne jedoch Land und Krieg genauer zu benennen. Im fremden Land angekommen, weiß sie die Adresse ihrer Mutter nicht mehr, landet in einem Heim und muss die neue Sprache lernen, die ihr fremd ist – und auch fremd bleiben wird. Erzählt wird konsequent aus der kindlichen Perspektive, in der Manches unklar und unvollständig bleibt. In dem neuen Land kennt Tonda zwar die Buchstaben und kann Sätze lesen, sie versteht aber nicht deren Sinn. Menschen helfen ihr nur bedingt und erst im Heim bekommt sie Sprachunterricht, der ihr den Zugang zum neuen Leben ermöglicht. In kleinen Schritten erzählt sie, wie sie sich der Sprache nähert, wie sie zunächst einzelne Gegenstände lernt, dann ganze Sätze und sich schließlich allein auf die Suche nach ihrer Mutter macht.

„Es war Abend, als der Junge und der alte Mann beim Hafen ankamen.“ Mit diesem Satz beginnt der Roman Jenseits des Meeres, der die Flucht des 10-jährigen Malik schildert. Malik musste seine Heimat verlassen, doch es werden weder die Gründe dafür noch das Land an sich benannt. Er wuchs bis zu dem Tag, an dem die Soldaten seine Mutter holten, er sich im Kleiderschrank verstecken musste und schließlich von seinem Großvater gefunden wurde, wohlbehütet auf. Zu seinem Leben gehörten regelmäßige Mahlzeiten, Bücher, Musik und Schule. Dann brach ein Krieg aus, Malik musste mit seinem Großvater fliehen und hat viele Fragen, die ihm dieser nicht beantwortet. Schließlich darf nur Malik an Bord des Schiffes gehen, das ihn in ein unbekanntes Land bringen wird, der Großvater bleibt zurück. Ähnlich wie auch Joke van Leeuwen in Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor verzichtet hier auch Walter auf eine genaue Verortung.

Der Roman Vielleicht dürfen wir bleiben thematisiert Abschiebung. Der 11-jährige Albin, der vor fünf Jahren mit seiner Mutter und seinen jüngeren Schwestern aufgrund seiner Religionszugehörigkeit aus Bosnien nach Norwegen fliehen musste, hat in Norwegen ein Zuhause gefunden und soll dennoch nach Bosnien zurück. Obwohl in Bosnien Frieden herrscht, sind sie dort nach wie vor als Muslime bedroht und fürchten die Rückkehr. Albin versteckt sich in einem Auto, fährt in die Berge und findet im tiefsten Winter eine einsame Hütte. Er streift durch die Wälder, beobachtet zwei Mädchen mit ihren Großeltern, hungert und friert. In Rückblenden erinnert er sich an sein Zuhause in Bosnien, an die Ermordung seines Vaters und die Flucht der Familie. Er halt all die Grausamkeiten miterlebt, die andere höchstens aus der Zeitung kennen. Albin möchte in Oslo bleiben, hat bereits Freunde gefunden und spricht auch die Sprache. Die Autorin nähert sich sensibel der Thematik Flucht und Abschiebung an und wählt die Perspektive eines Kindes, der als 6-Jähriger den Krieg in Bosnien er- und überlebt hat. Vor allem mit seinen dichten und genauen Beschreibungen der Flucht, der Ängste und Gefahren vermag das Buch zu überzeugen.

Alle drei Bücher wählen die kindliche Erzählperspektive, um die Erfahrungen des Krieges, der Flucht und der Ankunft in einem neuen Land zu schildern. Es sind keine Freundschaftsgeschichten zwischen ausländischen und deutschen Kindern, sondern die Romane konzentrieren sich ausschließlich auf die Erfahrungen der Flüchtlingskindheit.

Mit Romanen wie Train Kids (2015) von Dirk Reinhardt, Kinshasa Dreams (2012), Zeit der Wunder oder Das Schicksal der Sterne wird das Thema Flucht auch für Jugendliche auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen aufgearbeitet. Train Kids zeigt anhand einer Gruppe mexikanischer Jugendlicher, wie diese aus ihrem Heimatland in die USA fliehen möchten. Auch sie müssen sich mit Grenzkontrollen, Schlepperbanden, Misstrauen und Geldfragen auseinandersetzen. In Kinshasa Dreams ist es dann die Flucht eines Jungen aus Afrika, der dort für sich keine Zukunftschancen sieht. Neben den bereits erwähnten Themen wird hier auch die Frage des Fundamentalismus gestreift, denn die Hauptfigur begegnet auf ihrer Flucht radikalen Islamisten.

Daniel Höra, der in seinen Romanen immer wieder aktuelle Probleme aufgreift, schildert in seinem Roman Das Schicksal der Sterne von zwei Flüchtlingsschicksalen. Da ist zunächst der Junge Adib, der mit seinen Eltern und seinen Brüdern in Afghanistan lebte. Als sein Vater von den Taliban ermordet wurde, musste er mit seiner Mutter und seinen Brüdern fliehen. Schließlich kamen sie nach Berlin, beantragten Asyl und leben seitdem in einem Flüchtlingsheim. Zufällig lernt Adib den fast 90-jährigen Karl kennen, der ebenfalls als Flüchtling nach Berlin kam, und zwar unmittelbar nach Kriegsende. Seine Flucht wird in einem zweiten Erzählstrang geschildert. Beide, Adib und Karl, kommen sich näher, und es ist vor allem Karl, der immer wieder bestimmte Vorurteile revidieren muss und sich mehr und mehr öffnet.

Fazit

Die Vorstellung der Kinder- und Jugendliteratur seit der Jahrtausendwende zeigt nicht nur die vorhandene Vielfalt derselben, sondern auch Trends und Tendenzen sowohl auf der narratologischen als auch auf der inhaltlichen Ebene auf. Die Kinder- und Jugendromane verbinden Elemente der literarischen Moderne und Postmoderne: Den Kindern werden verschiedene Erzählebenen zugetraut und auch postmoderne Erzählformen finden in die Texte verstärkt Eingang wie etwa intertextuelle sowie intermediale Bezüge. Sie besitzen einen offenen Schluss, der verschiedene Lesarten ermöglicht, unterschiedliche Sprachstile werden miteinander verknüpft. Die kurze Vorstellung der Romane deutet an, dass tragische und humoristische Elemente miteinander verknüpft werden und so eine klare Gattungszuordnung nicht mehr möglich ist. Bettina Kümmerling-Meibauer stellt in ihrer Einführung zur Kinder- und Jugendliteratur fest, dass ein solches Vorgehen auch die Mädchenliteratur beeinflusst hat. Das ist sicher richtig, doch greift sie damit zu kurz, denn nicht nur die Mädchenliteratur, sondern die Geschlechterrollen insgesamt wurden dadurch beeinflusst und haben sich merklich verändert. Tatsächlich gehören auch die kinder- und jugendliterarischen Texte zu jenen Romanen, die mit Begeisterung ebenso von Erwachsenen gelesen werden. Die moderne Kinder- und Jugendliteratur lässt sich zudem nicht auf bestimmte Gattungskonventionen festlegen, sondern entzieht sich ihnen und bildet so neue Genres heraus. Eine weitere Tendenz, die sich jedoch nicht nur auf deutschsprachige Bücher beschränkt, sondern auf internationaler Ebene betrachtet werden kann, ist die der Serialität. Diese ist, zumindest teilweise, auch bei den hier betrachteten Romanen zu erkennen.

Anmerkungen:

[1] Ausgeklammert werden hier Lyrik, Theater und Sachliteratur, um nicht den Rahmen zu sprengen.

[2] Gansel 2012, S. 2.

[3] Ebd.

[4] Kreller 2012, S. 9.

[5] Vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, S. 73.

[6] Wrobel 2010, S. 7.

[7] Innerhalb der Kinder- und Jugendliteraturforschung und Literaturdidaktik werden diese Bücher im Kontext einer Leseförderung diskutiert (vgl. u.a. Wrobel 2008 und 2010).

[8] Schilcher 2004, S. 13.

[9] Schweikart, hier zit. nach Schilcher 2004, S. 26

[10] Doch es ist nicht nur die Kinderliteratur, die mit neuen Jungenbildern spielt, auch die realen Jungen wurden als Leser beziehungsweise Nichtleser nach der Jahrtausendwende spätestens mit dem PISA-Debakel entdeckt. Im Kontext der Literaturdidaktik und der Lesesozialisationsforschung wurden Thesen aufgestellt, warum Jungen nicht lesen. Es wurde diskutiert, dass Jungen anders und auch anderes lesen und der Kinderbuchmarkt, aber möglicherweise auch die Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis haben auf die Klagen reagiert: Immer mehr männliche Protagonisten bevölkern nicht nur die phantastische, sondern auch die realistische Kinderliteratur und entwerfen einen Jungen, der wenig gemeinsam mit den Jungen zu tun hat, die seit den 1970er-Jahren die Kinderliteratur dominieren.

[11] Lange 2015, S. 9.

[12] Pries-Kümmel 2003, S. 71 [Hervorhebungen im Buch].

[13] Naoura: Hilfe! 2014, S. 18.

[14] Drvenkar 32004, S. 263.

[15] Ebd., S. 260.

Primärliteratur

Drvenkar, Zoran: Im Regen stehen. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 42007.

Drvenkar, Zoran: Niemand so stark wie wir. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 32004.

Kreller, Susan: Elefanten sieht man. Carlsen: Hamburg 2012.

Lange, Erin Jade: Halbe Helden. Magellan: Bamberg 2015.

Naoura, Salah: Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums. Beltz & Gelberg: Weinheim 2011.

Naoura, Salah: Hilfe! Ich will hier raus! Dressler: Hamburg: 2014.

Naoura, Salah (2015): Hilfe! Oma kommt zurück! Dressler: Hamburg: 2015.

Opel-Götz, Susan: Außerirdisch ist woanders. Oetinger: Hamburg 2012.

Sekundärliteratur

Daubert, Hannelore: „Es verändert sich die Wirklichkeit …“ Themen und Tendenzen im realistischen Kinder- und Jugendroman der 90er Jahre. In: Raecke, Renate (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. München: Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. 1999, S. 89-105.

Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. Fink: München 2000.

Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Cornelsen: Berlin 42010.

Gansel, Carsten: All-Age-Trends und Aufstörungen in der aktuellen Literatur für junge Leser. In: Der Deutschunterricht H. 4, 2012, S. 2-11.

Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. WBG: Darmstadt 2012.

Mikota, Jana: Interkulturalität in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. In: Literatur im Unterricht, 3, 12, 2012, S. 207-223.

Pries-Kümmel, Elisabeth (2003): Alte Menschen in Kinder- und Jugendbüchern. Entwicklungslinien und Tendenzen. In: kjl & m, H. 8, S. 71-78.

Schilcher, Anita: „Du bist wie alle Weiber, gehorsam und unterwürfig, ängstlich und feige“ – Geschlechterrollen im Kinderbuch der 90er Jahre. In: Kliewer, Annette / Schilcher, Anita (Hg.): Neue Leser braucht das Land! Zum geschlechterdifferenzierenden Unterricht mit Kinder- und Jugendliteratur. Schneider: Hohengehren: 2004, S. 1-22.

Wrobel, Dieter: Individualisiertes Lesen. Leseförderung in heterogenen Lerngruppen. Theorie – Modell – Evaluation. Schneider: Baltmannsweiler 2008.

Wrobel, Dieter: Kinder- und Jugendliteratur nach 2000. In: Praxis Deutsch, Nr. 224, 2010, S. 4-11.