Widerständige Poesie

Boualem Sansals dystopischer Roman „2084. La fin du monde“

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Überwachung, Spitzelwesen, konsequente Vernichtung Andersdenkender, Konstruktion eines Feindes, der ständigen Kriegszustand rechtfertigt, Ausrichtung des gesamten Staates auf eine Führerfigur, gleichgeschaltete Propaganda, umfassendes Beschäftigungsangebot für die Bevölkerung: Es sind die bekannten Ingredienzen vieler totalitärer Systeme, die „Abistan“ ausmachen, den Ort des Geschehens in Boualem Sansals Roman 2084. Die Anspielung auf Orwells 1984 ist mithin nicht nur im Titel gegeben, sondern auch inhaltlich explizit. Sansal geht sogar so weit, das Orwell’sche „Neusprech“, die „novlang“, wie sie in 2084 heißt, als Basis des abistanischen Systems auszugeben, eine Sprache, die den Willen und die Neugierde der Sprecher vernichte und zu Pflichterfüllung und Gehorsam anleite. Sie unterscheidet sich insofern von der „sehr ziselierten“ Schrift, die die Hauptfigur des Romans Ati in Abistan auf alten Hinweisschildern entdeckt und hinter der man das Arabische vermuten muss. In dieser Schrift, so wird Ati erklärt, sei die heilige Schrift verfasst worden, die dem Gkabul (der heiligen Schrift Abistans) voranging. Eine schöne, reiche, suggestive Sprache sei das gewesen, die man in Abistan allerdings aufgrund ihrer rhetorischen und poetischen Potentiale vernichtet habe.

Diese recht unscheinbar wirkende Passage gegen Ende des Romans fasst vieles von dem zusammen, was Abistan kennzeichnet und was Menschen wie Ati so sehr bedrückt. Denn, so ließe sich etwas plakativ formulieren, wo Poesie verboten ist, da ist kein Leben, sondern Leerlauf, ein mechanischer Ablauf von Handlungen, die Erfüllung vorgegebener Normen, die die Existenz der Menschen in Abistan vollständig erfasst und erschöpft. Neun Mal tägliches Beten, regelmäßige Besuche des Stadions, um den Exekutionen beizuwohnen, kontinuierliche Gewissensprüfungen, die Vorbereitungen auf die Pilgerfahrt, die in Abistan die einzige Möglichkeit der Ortsveränderung darstellt, all dies sind äußere Anzeichen dieser „Mechanik“. Viel entscheidender sind jedoch die „unsichtbaren“ Folgen einer Lebensweise, die einzig auf Gehorsam beruht und die Ati am eigenen Leibe spürt, als er anfängt, sich Fragen zu stellen. Dabei ist es zweitrangig, welche Fragen dies sind, entscheidend ist vielmehr, dass es eigene Fragen sind, deren Antworten im System noch nicht gegeben sind. Und so genügen einfache Träume, von der eigenen Kindheit, eigenen Lebenserfahrungen, um Ati zu verunsichern. Individuelle Erinnerungen, Phantasien, sie sind der Kern dieses seltsamen Begriffs, den Ati murmelt, aber dessen Bedeutung er noch nicht recht versteht, nämlich „liberté“, „Freiheit“.

Freiheit ist ein häufig verwendeter Begriff dieser Tage, in Sansals Roman kommt er leise daher, geflüstert, aber nicht aufzuhalten. Ati spürt, dass er nicht mehr zurück kann, die eigenen Fragen und Zweifel machen ihm Angst, doch die Suche hat begonnen, wonach ist unklar, aber es wird seine Suche sein. Dieser individuelle Antrieb, der noch gar keine Kritik am System impliziert, ist ausreichend, um ihn aus dem Kollektiv Abistans auszuschließen. Als er aus dem Sanatorium entlassen wird, in dem ihn zum ersten Mal die verstörenden Träume heimsuchen, steht in seiner Akte ein Vermerk, der ihn als zu überwachendes Subjekt ausweist.

Dass Ati sich in Gefahr begeben hat, ist ihm völlig klar, ein eigenes Leben, welch‘ verrückte Idee! Aber der Entschluss, über dieses zu verfügen, mit vielen Einschränkungen zwar und vielleicht nur in Gedanken, verleiht ihm das Gefühl, lebendig zu sein. Lebendig ja, aber auch glücklich? Diese Frage bekümmert Ati nicht, deutlich nimmt er aber zur Kenntnis, dass seine Landsleute mit ihrem rhythmisierten Leben und der Ausrichtung auf den anzubetenden Yoläh durchaus „glücklich“, mitunter sogar euphorisch scheinen. Das kollektive Beten, das ihr Denken ausschaltet, damit aber ihre Körper öffnet für das Eingehen in die Gruppe, verleiht ihnen fast schon „selig“ blickende Augen. Den Gesetzen Yolähs, die ihr ganzes Leben bestimmen, folgen sie gerne, auch wenn Menschen aufgrund dieser Gesetze mitunter grausam behandelt werden. Es steht den Menschen in Abistan nicht zu, zu entscheiden, was gut und was böse ist. Sie sollen nur wissen, dass Yoläh für sie sorgt. Mit diesem „Glauben“ ist auch Ati aufgewachsen. Er wundert sich nicht, dass seine Landsleute alles hinnehmen, wie sollten sie sich wehren, wo ihnen doch nichts „gehört“, nicht mal das eigene Denken? Es braucht Wissen, eigenes Wissen und ein Leben, das zum Maßstab werden kann, um die schreckliche Konfusion von Gut und Böse zu entwirren, die sich in Abistan etabliert hat. Das spürt Ati, aber wo soll dieses Leben herkommen? In Abistan wandelt man auf Leichen. Mehrere heilige Kriege, darunter ein Nuklearkrieg, große Flüchtlingsströme, hervorgerufen durch Klimaveränderungen, ständige Armut (außer in den Machtzentren der Regierung): der Tod ist im Land allgegenwärtig.

Und doch gibt es in Abistan unterschiedliche Arten und Weisen, mit dieser unwirtlichen Ausgangslage umzugehen. Nur eine Art ist freilich erlaubt, nämlich die, die den Gesetzen Yolähs folgt. Da Kollektive aber besser zusammenhalten, wenn sie sich abgrenzen können, hat man in Abistan ein sogenanntes Ghetto eingerichtet. In diesem abgetrennten, tabuisierten Gebiet leben die Ungläubigen – und wie! Es türmt sich allenthalben der Müll, da das Ghetto von allen öffentlichen Leistungen abgeschnitten ist, die Dunkelheit und der Schmutz sind unbeschreiblich. Aber das gottlose Völkchen in diesem Ghetto lässt sich nicht unterkriegen. Man improvisiert, handelt, diskutiert, gönnt sich einen Schluck, Frauen laufen hier, für Ati unvorstellbar, frei und ohne Vermummung umher, an den Wänden stehen Graffiti: „Yoläh, c’est du vent!“ („Yoläh, das ist heiße Luft!“) Ati, der auf seiner Erkundungsreise durch Abistan, die ihn eindeutig als Abtrünnigen ausweist, das Ghetto betritt, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, schwankt zwischen Schock und Faszination. Wozu die vielen Freiheiten, die sich diese Menschen nehmen, gut sind, erschließt sich ihm nicht wirklich. Aber anders als in der durchsichtigen Mechanik der abistanischen Ordnung scheint das Leben hier nicht einfach „abzulaufen“, sondern gezwungen, sich seine Wege zu suchen.

Sansal, daran lässt der Roman keinen Zweifel, hat Sympathien für dieses Leben und lässt seine Figur Ati ein solches „freies“ Leben suchen. Dass er damit scheitern wird, ist klar. Man ist nie frei, man kann nur sein Leben lang versuchen, es zu werden. Aber es zu versuchen, so begreift Ati, wird ihm einen Tod bringen, der sein Tod ist und den ihm kein System und kein Abistan wegnehmen kann. Wie viel Sansal in der Figur Atis steckt, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist jedoch, dass Sansal trotz Todesdrohungen und zunehmender Isolation in seiner Heimat Algerien bleibt und schreibt. Statt der Eindeutigkeit wählt er weiterhin die Poesie.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Boualem Sansal: 2084. La fin du monde.
Éditions Gallimard, Paris 2015.
273 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9782070149933

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