Innerweltliche Beichte und Versuch einer Selbsttherapie

Joan Didions „Blaue Stunden“

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joan Didion ist eine bedeutende amerikanische Essayistin und Schriftstellerin. Das Buch Blaue Stunden hat sie mit 75 Jahren geschrieben – fünf Jahre nach dem Tod ihrer Tochter Quintana. Diese war einer schweren Krankheit erlegen – ein halbes Jahr, nachdem Didion ihren Mann ganz plötzlich verloren hatte, und zeitgleich mit dem Erscheinen ihres Buches Das magische Jahr, worin sie dessen Tod und ihre Trauer beschreibt. „Blaue Stunden“ – so bezeichnet sie die wenigen Wochen zu Sommerbeginn, „in [denen] die Dämmerungen lang und blau werden“. In dieser Zeitspanne „glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert, erlebt man ein Frösteln“, mit „den kürzer werdenden Tagen“ begegnet man „der Unausweichlichkeit des Vergehens“. In diesem Buch äußert Didion Selbstzweifel und Selbstvorwürfe, legt Schuldbekenntnisse ab, berichtet in schonungsloser Offenheit von eigenen Versäumnissen und Fehlern. Es quält sie die Frage, ob sie eine gute Mutter war. Sie weiß, dass dies eine verbreitete Frage ist: „Ich kenne nicht viele Leute, die glauben, dass ihnen die Elternschaft gelungen ist.“ Doch aus einer Reihe von Gründen erfährt sie das Problem verschärft.

Sie ist hoch reflektiert und sensibel. Schon bei den kleinsten Schwierigkeiten mit ihrer Tochter fragt sie sich: „Bin ich das Problem? War ich immer das Problem?“ Und weiter: „Habe ich ihr ganzes Leben dafür gesorgt, dass es eine schalldichte Mauer zwischen uns gab? Zog ich es vor, das, was sie wirklich sagte, nicht zu hören?“

Auch als das Kind noch klein war, hat sie nicht aufgehört zu arbeiten – und das in einer Zeit, in der das bürgerliche Familienmodell mit der allzeit verfügbaren Mutter und dem Vater als Alleinverdiener normativen Vorrang beanspruchte. Betty Friedan hat das pointiert kritisiert, als sie als Weiblichkeitswahn (1963) anprangerte, „was immer es war, […] das Schuldgefühle bei uns hervorrief bei allem, was wir nicht als Frau unseres Mannes, nicht als Mutter unserer Kinder taten, sondern als eigenständige Person“. Doch selbst bei kritischer Distanz bleibt man in herrschenden Normen gefangen. Umso mehr schmerzt es Didion, als Quintana eine Liste von „Mamas Sprüchen“ aufhängt: „Putz dir die Zähne, kämm deine Haare und sei still, ich arbeite“.

Didion übte eine anspruchsvolle Tätigkeit aus – sie arbeitete als Journalistin, schrieb Romane, verfasste Drehbücher mit ihrem Mann. So fielen Drehtermine in Hollywood und Vortrags- und Lesereisen an, die sie und Quintana in viele Städte dieser Welt und ausgesuchte Hotels führten. Die Folge? Die Tochter hatte „keine gewöhnliche Kindheit“; sie war „privilegiert“. War sie überfordert? Wurde sie ihrer Kindheit beraubt? Stets versuchte sie, „eine überzeugende Erwachsene zu sein, in einem Alter, in dem sie noch das Recht hatte, ein kleines Kind zu sein“.

Vor allem aber: Didion und ihr Mann hatten die Tochter – unmittelbar nach deren Geburt – adoptiert. Dies verstärkte die Ängste noch: „Was, wenn ich dieses Baby nicht liebe?“ Didions Schwägerin hatte das Kind vermittelt. Sie hatte intuitiv erfasst, wie sehr Didion das brauchte, denn sie hatte „ein übermächtiges Bedürfnis nach einem Kind“. Und nun fürchtete sie, dieses „schöne, perfekte Kind“ zu verlieren. So versuchte sie, das Risiko einer Begegnung der Tochter mit deren biologischer Mutter auszuschalten. Beiden Momenten haftet Ambivalenz an: Adoptionsvermittler empfehlen, zu prüfen, ob man ein Kind um seiner selbst willen oder aufgrund eigener Bedürfnisse anzunehmen wünscht. Jedes Kind hat einen menschenrechtlich verbürgten Anspruch auf Kenntnis seiner biologischen Herkunft.

Im Verlauf von Quintanas Entwicklung traten Probleme auf: „Impulsivität“, „Affektlabilität“, „Diffusion der Identität“. Letztlich lautete die Diagnose: „Borderline Persönlichkeitsstörung“. Und Quintana ist gestorben. Studien zeigen, dass der Tod des eigenen Kindes die schlimmste Erfahrung für Eltern ist und dass Hinterbliebene sich häufig mit Schuldgefühlen quälen.

Doch nicht nur Schuld und Reue empfindet Didion. Sie hat auch Angst, namentlich vor „der Unausweichlichkeit des Älterwerdens“, vor Krankheit und Tod. Sie spürt, dass ihr „das Schreiben nicht mehr leicht fällt“. Sie erlebt einen „kognitiven Verfall“: „Erst gestern beherrschte ich die Arithmetik noch, erinnerte mich an Telefonnummern“, doch „Namen verschwinden, entziehen sich mir heute“. Die Angst vor dem Schwinden des Gedächtnisses ist auch Angst vor dem endgültigen Verlust der Tochter: „Noch gibt es keinen Tag ihres Lebens, an dem ich sie nicht sehe“.

Für Didion kündet der Blick in die Zukunft das Ende. Im Nahen von Herbst und Winter schwingt keine Ahnung vom Wiedererwachen der Natur im nächsten Frühling mit: „Das unerbittliche Fallen der Blätter, das gleichmäßige Dunklerwerden der Tage, die blauen Stunden selbst verweisen nur auf den Tod.“ Auch Kinder stehen nicht für Hoffnung: „Wenn wir von Sterblichkeit reden, reden wir über unsere Kinder“. Die Trostlosigkeit dieser heillosen Verfallsperspektive ist verknüpft mit – oder Ausdruck von? – der Angst, das eigene Leben versäumt zu haben. So dienen alte Erinnerungsstücke, Fotos, Karten „nur dazu, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.“

Einige amerikanische Rezensent*innen (etwa Meghan Daum, Rachel Cusk, John Banville, Audrey Shafer, Clare McHugh) haben Kritik angebracht: Didion lasse Demut vermissen – dazu gleich. Der Text wimmle von name dropping. Das stimmt: Immer wieder werden Namen genannt von berühmten Filmschauspieler*innen und Regisseur*innen, mit denen sie gearbeitet hat, von exquisiten Geschäften und Hotels, die sie besucht hat. Aber das war ihr Leben, und man kann darüber hinwegsehen. Anders als in dem Buch über den Tod ihres Mannes behandele sie keine allgemeinen, sondern höchst individuell-partikulare Probleme. Dem muss man nicht zustimmen: Elterliche – besonders vielleicht mütterliche – Versagensängste, Angst vor dem Alter, Reue über ungelebtes Leben sind durchaus allgemeine Probleme.

Das Buch lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln lesen: Wer Anteil nimmt, mag sich berühren lassen von der Art und Weise, wie jemand mit Lebenskrisen umgeht. Wer literarisch interessiert ist, wird sich an der rhythmischen Durchgestaltung des (von Antja Strubel wunderbar übersetzten) Textes, an der klaren Sprache und den eindrücklichen Schilderungen erfreuen. Aber auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist die Lektüre ein Gewinn. Das Buch liefert eine plastische Illustration der soziologischen These, dass Ich-Erzählungen mit dem Abbau einer „für alle Bereiche verbindlichen Kosmologie“ entstehen. Mit der Erosion kollektiv gültiger Orientierungssysteme – so Brose/Hildebrand in ihrem Buch Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende (1988) – erfährt das Individuum „die Notwendigkeit ständiger eigener Orientierungsleistungen zur Selbstvergewisserung“. Mit dem Verschwinden der tradierten Praxis der Gläubigen, vor dem Priester die Beichte abzulegen und so Vergebung zu erlangen, fühlt sich der Einzelne zunehmend gehalten, sich selbst bis in den letzten Winkel der Seele zu erforschen. Mit „der nun aus dem sakralen Horizont entlassenen und damit selbstreferentiellen Selbstthematisierung und Selbstoffenbarungsregel“ – so Söffner in seiner Analyse Luther – Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherisch-protestantischen Individualitätstypus (1988) – expandieren „Märkte von Autobiographien“, in denen „Selbstbeobachtung, Selbstbeurteilung und Rechtfertigung zu einem infiniten Prozess zusammenwachsen“. Die von US-Kritikern geforderte Demut ist nun nicht eben typisch für diese säkulare Selbstbemächtigung des Menschen.

Aus dieser Sicht lässt Didions Buch sich als innerweltliche Beichte und als Versuch einer Selbsttherapie verstehen: Verzweifelt schreibt sie gegen Schuld und Angst an. Wie in der Traumatherapie werden Schlüsselsätze – knapp formuliert und kursiv gesetzt – immer und immer wieder repetiert. Und vielleicht trifft Jörg Hagenaus Anmerkung (zu einem von Peter Kurzeck nachgelassenen Romanfragment) auch auf diesen Text zu: „Er hat […] eine eigene, musikalische, geradezu singbare Sprache gefunden. Sein wichtigstes Stilmittel ist die Wiederholung. Die […] immer wieder zu repetierenden Worte und Szenen sind sein persönlicher Widerstand gegen die Vergänglichkeit. Das hat in seiner rosenkranzhaften Unerbittlichkeit durchaus die Qualität eines Gebets.“ Allerdings wäre dieses Gebet bei Didion eines ohne die Hoffnung auf Erhörung. Verzweiflung hat das letzte Wort. Dies ist nicht zwingend Folge des Gottesverlustes. Auch innerweltlich ist Aussöhnung möglich. Dies bezeugen Brechts im Angesicht des Todes geschriebenen letzten Zeilen seines letzten Gedichts: „Jetzt gelang es mir, mich zu freuen, alles Amselgesangs nach mir auch.“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Joan Didion: Blaue Stunden. Roman.
Aus dem Englischen von Antje Rávic Strubel.
Ullstein Verlag, Berlin 2012.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783550088865

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