Dass du nicht enden kannst
Von Alexandra Pontzen
„Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß“ – der erste Vers aus Goethes Gedicht Unbegrenzt aus dem Westöstlichen Diwan bezeichnet als Kalauer und Spottvers auch eine spezifische Schwäche von Texten und Autoren. Meist ist sie auch eine ästhetische Schwäche, seltener – etwa in Wolfgang Herrndorfs Roman Sand – sind die immer neuen Wendungen, die alles noch schlimmer machen, eine kunstvolle Tortur, die den Rezipienten moralisch hoffen lässt, was er ästhetisch fürchtet, dass nämlich das Schreckliche ein Ende finden möge. Kafkas „Es war als sollte die Scham ihn überleben“ dehnt das Leiden von Figur und Leser noch über das (Fragment-)Ende hinaus, gerade indem er es nicht weiter beschreibt. Vielmehr macht er in einer jener raffinierten ‚als ob‘-Konstruktionen die Einbildungskraft der Lesenden zum Komplizen dabei, die Leidenserfahrung auf Dauer zu stellen – über das Textende hinaus. Das ist so eindrücklich wie bedeutend, aber empfehlen möchte ich ein anderes Ende: ein Romanende wie ein sehr kleiner, sehr schlichter Schlussstein zu einem großen und ausladenden Gebäudekomplex. Flauberts letzter abgeschlossener Roman L’éducation sentimentale (1869) erzählt die Geschichte einer Desillusionierung, einer politischen, amourösen, einer der hochfliegenden Träume, die sich als „untätige“ Leidenschaften selbst entkräften. Die deutschen Übersetzungen mit Titeln wie Die Erziehung der Gefühle, Die Erziehung des Herzens, Lehrjahre des Gefühls, Lehrjahre des Herzens, Die Schule der Empfindsamkeit lassen dieses Erzählprojekt ziemlich pathetisch erscheinen. Das Gegenteil ist indes bei Flaubert der Fall – sein Blick auf die großen Erwartungen und großen Gefühle seiner Figuren (und Leser) ist nüchtern und ironisch zugleich und die Sprache von einer matt glänzenden Lakonie. Frédéric Moreau, der junge Mann, der aus der Provinz nach Paris aufbricht, voller Pläne, die er nicht umsetzt, und gebannt von der unerfüllten Liebe zur verheirateten Madame Arnoux, blickt am Ende seines Lebens zusammen mit einem Jugendfreund auf ein frühes gemeinsames Erlebnis zurück, einen missglückten Bordellbesuch, und resümiert: „Das war doch das Schönste, was wir erlebt haben!“ Und weil diesem Satz noch die Zustimmung des Freundes folgt, er also nicht ganz am Ende steht, sei ein zweites Zitat erlaubt. Es beschließt das vorletzte Kapitel des Romans: Der Held hat die lebenslang begehrte, nie erreichte Frau wiedergesehen, sie scheint bereit, sich ihm hinzugeben; er jedoch weicht zurück, aus Angst vor Entweihung, Enttäuschung oder auch ihrem weißgewordenen Haar. Der Abschied – für immer, eine abgeschnittene Locke zur Erinnerung, ein „Leben Sie wohl“, eine Kutsche, „Sie stieg ein. Der Wagen verschwand. Und das war alles.“ Im Französischen „Et ce fût tout“ – noch ein bisschen entschlossener, im Passé simple endgültiger, zugleich literarischer – weil man diese Form nur schreibt, nicht spricht – und klanglich schlichter. Ein großer, kleiner Satz mit dem verweigerten Pathos der Antiklimax.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen