Die Aktualität des Religiösen

Der Sammelband „Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert“ von Tim Lörke und Robert Walter-Jochum zeigt, warum ein Abgesang auf die Religion auch in der Literaturwissenschaft unangebracht ist

Von Sandy LunauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Lunau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Essay Kunst und Religion beschreibt Heinrich Böll, der sich Zeit seines Lebens zum katholischen Glauben bekannte, das Verhältnis des Gläubigen zur Kunst mit den Worten: „Ein Christ der sich einer der Künste verschrieben hat, bleibt ihr gegenüber als Christ allein“ (Heinrich Böll: Kunst und Religion. In: Werke. Essays 1, S. 322). Böll bekennt sich so trotz seines Glaubens zum Primat der Kunst und dem Imperativ, sich einer Vereinnahmung als Künstler durch irgendwas der Kunst Äußerliches zu erwehren. Diese Aussage scheint die These Tim Lörkes und Robert Walter-Jochums von der literaturwissenschaftlichen Tendenz, eine enge Verbindung zwischen Dichtung und Religion infrage zu stellen oder gar zu ignorieren zu bestätigen. Dem widerspricht aber die emsige Veröffentlichungstätigkeit zu eben jenem Thema, wie etwa ein Forschungsbericht von Georg Langenhorst aus dem Jahr 2013 zeigt, der zahlreiche neue Veröffentlichungen zum Stichwort Religion und Literatur verzeichnet. Auch lassen sich ohne große Schwierigkeit namhafte Wissenschaftler finden, die die Grundannahme des Sammelbandes einer intensiven Prägung der Literatur durch religiöse Sedimente bis in die Gegenwart hinein bestätigen. So attestiert Albrecht Schöne schon 1968 in Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, sich der religiösen Sprachen und ihrer Formen zu bemächtigen und weist außerdem nach, dass Aspekte der Poetik einzelner Autoren der Theologie bzw. dem religiösen Bereich entstammen, und zwar unbeschadet des weit verbreiteten Misstrauens moderner Autoren gegenüber der Religion. Auch Heinrich Detering bescheinigt in seinem Beitrag im Handbuch Literaturwissenschaft der Theologie und der Literaturwissenschaft ein gegenseitiges Aufeinanderangewiesensein. So benötigt die Theologie zur Analyse von Texten literaturwissenschaftliche Methoden (Hermeneutik, hist. Methodik etc.) während die philologische Auseinandersetzung mit der Bibel als Vorläufer der Literaturwissenschaft angesehen werden kann. Literatur bleibt auch im Zeichen der Säkularisierung von religiösen Sprachformen, Diskursen oder Textmodellen geprägt, bezieht sich auf religiöse oder theologische Themen und schafft Konzepte von Kunstreligion.

Von einer Ignoranz des innigen Verhältnisses zwischen Religion und Literatur innerhalb der Literaturwissenschaft zu sprechen greift also offensichtlich zu weit und die Forschungslücke, die die Herausgeber mit der Zielsetzung, das Verhältnis zwischen Religion und Literatur und verwandten Künsten zu reflektieren schließen wollen, ist sicherlich mitnichten so groß, wie sie suggerieren. Dies tut aber der Qualität der Beiträge und dem breiten Einblick, den die Autoren in das weite Feld liefern keinen Abbruch, was selbstverständlich auch der offensichtlich sorgfältigen und innovativen Auswahl der Beiträge durch die Herausgeber geschuldet ist. Dafür gebührt ihnen Lob, denn es gelingt ihnen ein unverbrauchter, zeitgemäßer und thematisch vielgestaltiger Zugang zu einem komplexen Themenbereich, der anspruchsvolle und Trivialliteratur, Pop- und Hochkultur sowie neue und klassische Medien gleichermaßen berücksichtigt. So stehen Artikel über Thomas Mann und die Religion neben solchen über die Auseinandersetzung mit der Passion Christi in Texten der Popmusik, Beiträge über die religiöse Dimension der Gedichte Gottfried Benns werden ergänzt durch Analysen der religiösen Elemente der Twilight Saga und der Untersuchung des Verhältnisses zwischen bildender Kunst und Religion stehen Betrachtungen der Rolle von Religion in digitalen Spielen gegenüber. Auch innerhalb von einzelnen Artikeln gestaltet sich die Bandbreite der Betrachtung oft sehr weit und vorbehaltlos, wie etwa in Hans Richard Brittnachers Beitrag über „Judas oder: Die Unvermeidlichkeit des Bösen“, in dem die Legenda aurea, Dantes Divina Comedia, Texte Carl Sternheims und ein Musikvideo von Lady Gaga vergleichend betrachtet werden.

Strukturiert wird der Band durch die Unterteilung der Beiträge in drei Themenblöcke, übertitelt mit den Schlagworten „Motive“, „Sprechweisen“ und „Medien“. In ersterem werden insbesondere die intertextuelle Bezugnahmen von Literatur auf Religion, die sich nach dem Verständnis der Herausgeber aus großen Erzählungen speist und daher immer auch schon selbst Literatur ist, thematisiert. In der Sektion „Sprechweisen“ betrachten die Autoren vornehmlich, inwiefern Literatur auf religiös vorgeprägte Strukturen religiöser Gedankenbildung und Rede Bezug nimmt und weisen dabei nach, dass Begriffe wie das Heilige, der Mythos, das Phantastische oder Immanenz und Transzendenz auch in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts noch zentral sind. Und schließlich gehen die Beiträge im Abschnitt „Medien“ der Frage nach, mithilfe welcher medialen Formen religiöse Diskurse im 20. und 21. Jahrhundert verhandelt werden, wobei insbesondere auf die Rezeption religiöser Gehalte mithilfe der Massenmedien ein Fokus gelegt wird. Die fehlende Festlegung auf einen inhaltlichen Schwerpunkt und die bewusste Einbeziehung anderer Kunstformen hat dabei nicht wie vielleicht zu befürchten wäre eine zu große Unschärfe oder unüberschaubare Heterogenität der Zugänge zur Folge, sondern ermöglicht es erst ein umfassendes Abbild der vielgestaltigen Auseinandersetzungen im Spannungsfeld Kunst und Religion zu liefern. Die Beiträge schaffen es für ihren jeweiligen Bereich überzeugend, die Effekte, die sich aus der Beziehung der beiden Systeme ergeben darzustellen.

So zeigt der bereits erwähnte Brittnacher „literarische Lösungsversuche des theologischen Rätsels“ um den Verrat Jesu durch Judas, welche die Rolle der zur Verkörperung des Bösen stilisierten Jüngers auch vor dem Hintergrund der theologischen Auseinandersetzung zum Beispiel mit der Frage nach der messianischen Notwendigkeit des Verrats umschreiben. Modernere Interpretationen präsentieren Judas als Macher, der den Zauderer Jesus zu seiner Erlösungstat antreibt, da er dessen Passivität als Affront erlebt, wie etwa im Musical Jesus Christ Superstar. Andere Autoren sehen ihn als Patrioten und Freiheitskämpfer, der enttäuscht vom Pazifismus Taten fordert und Beispielsweise Michail Bulgakow bedient sich in Meister und Margarita der Argumentation, der Verrat sei erlösungstheologisch notwendig gewesen und Judas deshalb als Märtyrer anzusehen. Hier zeigt sich die rege Auseinandersetzung der Literatur nicht nur mit biblischen Motiven, sondern auch mit theologischen Problemen, zu deren Lösung sie Beiträge zu liefern durchaus in der Lage ist. Markus Schleich gelingt es in seinem Beitrag zur Passion Christi bei Tom Waits, Nick Cave und Johnny Cash den Vorwurf zu wiederlegen, die Populärkultur zeige eine Tendenz der Trivialisierung  von Religiösen Elementen insofern als Motive in der Form populärer Sujets nur noch als Zeichen ohne Sinn für ihren Ursprung fungieren, was zu einem Abebben der Auseinandersetzung mit ihnen führt. Schleich zeigt, dass entgegen diesem Vorwurf die untersuchten Popsongs komplexe Auseinandersetzungen mit dem Christus-Mythos liefern, von einer sogenannten Disneyfication der Jesusfigur in den vorliegenden Fällen also keine Rede sein kann. Der Mythos fristet ihm zufolge eher ein Randbereichsdasein, das bei Bedarf aktualisiert wird, im Bewusstsein der Lied-Protagonisten wie auch im popkulturellen Bereich selbst. Und letztlich zeigt die Auseinandersetzung von Brigitte Schwens-Harrant mit den strukturellen Ähnlichkeiten der Litanei und der Literatur den langen Schatten des Katholizismus bei vielen dezidiert postmodernen und religionskritischen Autoren wie etwa Peter Handke und Elfriede Jelinek. In ihrer Argumentation schärft die Kindheitserfahrung der Liturgie, die für viele Autoren die „erste Fremdsprache“ darstellt, da sie traditionell auf Latein und daher völlig unverständlich war, den Sinn für Musikalität und Rhythmik angesichts dieses vom Verstehen entkoppelten Wörterrauschens. Literatur wird für diese Literaten zur Litanei, übernimmt strukturelle Ähnlichkeiten wie Musikalität, Rhythmik und Wiederholung und kommt in ihrer performativen Bedeutung und sinnlichen Wirkung dem religiösen Vorbild nahe. Auch sieht sie in der Erfahrung der Liturgie einen möglichen Motivator für die poetische Betätigung, da diese eine erste Begegnung mit einer Sprache darstellt, die aus der Alltagspragmatik herausfällt und somit den Blick auf die Sprache als Material freigibt. Die Freude an sprachlichen Variationen, die Lust am Laut, das Spiel mit der Sprache, ganz allgemein die Thematisierung der Möglichkeit von Sprache sieht sie in dieser frühen religiösen Prägung begründet und weist damit die tiefe Verwandtschaft von Kunst und Religion nach.

Der Band liefert also einen umfassenden und die Komplexität sowie Vielgestaltigkeit des Themas abbildenden Einstieg in die Auseinandersetzung mit den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Religion. Da die einzelnen Beiträge dabei aber nicht an der Oberfläche bleiben, sondern differenzierte Analysen sehr konkreter Fragestellungen sind, ist er nicht nur Einsteigern in den Forschungsbereich, sondern auch in diesem akademischen Feld bewanderten Lesern durchaus ans Herz zu legen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Tim Lörke / Robert Walter-Jochum (Hg.): Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien.
V&R unipress, Göttingen 2015.
714 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783847103752

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