Willkommen im Berghof – Der verhängnisvolle Schatten des „Zauberbergs“

Ein kritischer Feuilletonspiegel zu Paolo Sorrentinos Film „Youth“

Von Emily JeuckensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Emily Jeuckens

Wer bei Oscar-Preisträger, Fellini-Verehrer und Juryliebling Paolo Sorrentino auf die Suche nach Referenzen und Zitaten gehen will, hat es nicht unbedingt schwer: Mitunter überdeutlich setzt der 45-Jährige seine Werke in die Tradition großer italienischer Regisseure. Mit Hollywood-Größen (Michael Cane, Harvey Keitel, Jane Fonda) und zarter Indie-Musik versehen, ergibt dies ein verlässliches Erfolgsrezept. Seit dem 26. November füllt sein neuer Film unter dem irritierenden deutschen Titel Ewige Jugend die Programmkinos. Schlicht Youth lautet der Filmtitel im Original, was eine interessantere Dichotomie aufspannt zwischen dem Titel und den altersweisen Gesichtern Caines und Keitels, zwischen Gesundheitswahn und Sex, letzten Werken und früh verglühten Jungstars. Sorrentino zeigt zwei alte Freunde, zu Gast in einem von gleißendem Licht durchfluteten Luxushotel in den Schweizer Alpen. Doch so viel es zu sagen gäbe über einen engagierten Film voller Leichtigkeit, so krampfhaft wird in der Feuilleton-Rezeption versucht, einen anderen Zugang zu finden: Die Stichworte „Davos“ und „Kurort“ reichen bereits, um scheinbar ohne Zweifel festzustellen, dass Youth nur eine Neuverfilmung von Thomas Manns Der Zauberberg sein kann. Eine gewagt dünne Argumentationskette, die es zu überprüfen gilt.

Zwei alte Freunde verbringen ihren jährlichen Sommerurlaub im Schweizer Luxushotel Schatzalp, wo vor beinahe einem Jahrhundert Thomas Mann an Der Zauberberg arbeitete. Sie führen mäandernde Gespräche über ehemalige Liebschaften und versuchen ein möglichst würdevolles Finale ihrer internationalen Karrieren zu finden. Der Starkomponist Fred Balinger versucht, bühnenabstinent zu bleiben, der Starregisseur Mick Boyle feilt mit einer Gruppe seltsam uninspirierter junger Protegés am Drehbuch seines letzten Films. In mystisch schönen Bildern treffen die beiden Männer auf skurrile Gäste und erfahren, dass ihre Kinder, Balingers Tochter und Boyles Sohn, seit einigen Jahren scheinbar glücklich verheiratet, nun keine gemeinsamen Urlaube in Polynesien mehr verbringen werden – die Reize einer Sangeskünstlerin (Paloma Faith als Paloma Faith) haben die Ehe zum Erliegen gebracht.

Wo der Film inhaltlich schwächelt, da besticht er durch eine berauschende Ästhetik. In der surrealen Alpenkulisse gelingt dem Duo Sorrentino und Bigazzi (Kamera) eine Flut an einzigartigen Bildern. In einer wabernden Grotte bewegen sich stumm und versunken die Umrisse der Badegäste, in ärmlichen Räumen tanzen selbstvergessene Pflegerinnen vor Spielekonsolen und harmonisch wandeln die Gäste im immer gleichen Takt durch die verglasten Flure und über die marmornen Stufen. Die verfallende Fassade des alten Prachtbaus wird von monochromen Tempeln des 21. Jahrhunderts ergänzt, vor denen in der flirrenden Hitze zwei alte Herren dösen und über Freundschaft fabulieren.

Doch die ergreifende Schönheit, zu der Youth sein Publikum verführen will und die in La grande bellezza (2013) sogar titelgebend war, scheint dem Feuilleton nicht zu genügen, das einen besorgniserregenden Kult um Der Zauberberg pflegt. Keine deutschsprachige Rezension, die über eine bloße Inhaltsangabe hinaus geht, scheint ohne diesen Vergleich auszukommen, der sicherlich eine gewisse Belesenheit des Kritikers beweist – aber auch die Frage aufwirft, ob die Kombination der Sujets „Schweiz“ und „Kurhotel“ für alle Zeiten im europäischen Kulturgedächtnis mit Clawdia Chauchat, guten Russen und Röntgenbildern verwoben sein müssen. Es steht außer Frage, dass es Parallelen gibt und dass Sorrentino mindestens auch Geissendörfers filmische Annährung an den Roman kennt, da diese ebenfalls in Davos spielt. Jedoch auch, dass der deutsche Thomas-Mann-Zentrismus skurrile Züge annimmt, wenn auf einen italienischen Film, der sich sicherlich am Stärksten an Fellinis Achteinhalb orientiert, mit aller Macht die Schablone eines der am häufigsten nicht durchgelesenen Werke des 20. Jahrhunderts gestülpt wird.

Die Protagonisten machten es sich im „Zauberberg-Hotel“ gemütlich, so Felix Zwinzscher in der Welt und als „Update von Thomas Manns ‚Zauberberg’“ bezeichnet Gian-Philip Andreas in den Westfälischen Nachrichten den Sommerurlaub der beiden Protagonisten. Sie beziehen sich damit vor allem auf die Lokalität, die von einem Sanatorium für Lungenkranke in ein Luxushotel mit Schlammbädern verwandelt wurde. „Jedes Jahr verbringen sie gemeinsame Tage in genau jenem Schweizer Sanatorium Schatzalp, in dem Thomas Mann seinen Zauberberg schrieb. Sorrentino inszeniert es zeitgemäß als luxuriöses Wellnesshotel, in dem die beiden alten Freunde über die Zukunft philosophieren […]“, so Wenke Husmann in der Zeit. Hier verschwimmen bereits die Trennlinien zwischen Manns realem Urlaubsort, dem zeitgenössischen Sanatorium, dem fiktiven Ort Berghof und Sorrentinos filmischen Spielort. Insgesamt kommt es bei der Trennung von Handlungsebene des Films, dem real-geographischen Ort Davos und der literarischen Ebene des Romans häufig zu Verwirrungen: „Sie sind auf Thomas Manns legendären „Zauberberg“ gereist, um dort über den Tod, die Liebe und die Jugend zu plaudern“, so Julia Weigl.

Doch hier liegt ein zentraler Unterschied: Youth spricht nicht vom Tod, nicht von Leid oder Krankheit – selbst die freundschaftlich besprochenen Prostataprobleme werden am Ende des Films vom einzig anwesenden Arzt als irreal abgetan. Der körperliche Verfall der über 80-jährigen Protagonisten wird nur im Vergleich zu strahlend gesunden, jungen Menschen wie der aktuellen „Miss Universe“ (Madaline Ghenea) sichtbar. Weder der in den Mühlen Hollywoods geräderte Schauspieler Jimmy Tree (Paul Dano) noch die apart leidende Tochter Lena (Rachel Weisz) wirken frischer, kreativer, lebensfroher, waghalsiger – insgesamt jünger als die betagten Herren. Das Schweizer Hotel in Youth ist ein Sammelbecken mondän Unglücklicher, jedoch weder das im Zauberberg porträtierte Zwischenreich zwischen Leben und Tod, noch der Inspirationsort, der die Schatzalp für Mann gewesen soll.

Auf letzteren Aspekt spielt auch Rüdiger Suchsland an: „[…] zum Nachdenken über Krankheit, Tod und den Verfall der europäischen Zivilisation, auf den hier wohl auch offen angespielt werden soll“ – doch eben dies passiert in Youth nicht. Hans Castorp, der sich im Zauberberg mehr als einmal mit dem Tod konfrontiert sieht, hätte eher seine Freude an diesem klinisch-idyllischen Ort gehabt, der keinen Schmerz, keine Angst vor der Zukunft kennt. Selbst der einzige Todesfall passiert gesittet off-screen, selbstbestimmt, unaufgeregt und schnell vergessen. Davos ist keine Enklave der modernen Medizin mehr, die Totgeweihte am Leben hält – es ist ein Paradies der Langeweile.

Phillip Holstein beklagt ebendies in der Rheinischen Post, da auch er „natürlich sogleich an den Zauberberg denkt“. Er erwägt die Übertragung eines Motivs Manns vom späten 19. ins 21. Jahrhundert: „Es gibt Massagen und Badekuren, aber ansonsten ist allen langweilig, und zwar auf diese existenzielle Art langweilig, die in den Romanen der Dekadenz ,ennui‘ genannt wird und eine fließende Grenze zum Weltekel hat.“ Nun ist allerdings die Schatzalp weder hermetisch versiegelter Rückzugsort des Müßiggangs, während im Tal der Krieg ausbricht, noch machen die Protagonisten den Eindruck, als sehnten sie sich nach einem aufregenderen Leben.

Auch metaphorisch wird der Referenzroman gern verwendet: „Gemeinsam bilden sie eine große Sinfonie der Jugend, die an diesem Zauberberg in den Schweizer Alpen widerhallt“ – schön wäre darüber hinaus ein Hinweis auf die Magie, die Manns Protagonisten „verwandelte“ und die Frage, ob ein Ort wie Sorrentinos Kurhotel noch als zauberhaft gelten darf, wenn in ihm höchstens sechsjährige Geigenschüler noch lernen und reifen, die zufällig die Komponisten ihrer Stücke kennenlernen.

Patrick Wellinski vermutet im Deutschlandradio, ein bei Mann abgeschautes Konzept der am Ruhm zerbrochenen Nebenfiguren: „Schade nur, dass (…) diese – an Thomas Manns Zauberberg angelehnte – Atmosphäre leider nichts über unsere Welt oder die Welt der Promis aussagt.“ Ob dies mit Manns Vorbild überhaupt realisierbar wäre, ist eine andere Frage. „Die Überlebenden des Zauberbergs lassen grüßen“ betitelt Andreas Kilb in der FAZ eine nachdenkliche Rezension und legt die Spur gleich ein zweites Mal aus, ohne sie referentiell zu füllen: Rachel Weisz als Lena halte „dieses Zauberberg-Puzzle“ in Bewegung. Doch Balinger und Boyle sind keineswegs die gealterten letzten Besucher des Mann’schen Sanatoriums und auch ihre Bekanntschaften verdienen nur durch das Hotel-Setting die verwendete Bezeichnung.

Wer wegen der Ansiedlung in Davos kulturphilosophische Erörterungen erwartet, der kann von einem Film, der radikal entschleunigt und auf der Sprachebene gelassen trivial ist, nur enttäuscht werden. Youth hat den augenzwinkernden Verweis auf hypochondrische Décadence-Literatur im Spiegel der Rezensionen teuer bezahlen müssen. In die Reihe Cheyenne – This must be the place (2011) und La grande belezza (2013) fügt sich diese magische, absurde Oper ideal ein, noch bereichert um die ätherische Musik David Langs. Zu bedauern bleibt nur die Last der bildungsbürgerlichen Referenzen, die auf den Kritiken zu liegen scheint und Youth damit vieles an Leichtigkeit nimmt, die dieser Schweizer Bergspaziergang zu bieten hat.

Regie: Paolo Sorrentino
Mit: Michael Caine, Harvey Keitel, Rachel Weisz, Paul Dano, Jane Fonda
Kinostart: 26.11.2015
Länge: 118 min
Produktionsjahr: 2015
Label: Wild Bunch Germany
FSK: 6

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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