Swetlana Alexijewitsch, die Ohren-Zeugin

Aus Anlasss der Verleihung des Literaturnobelpreises am 10. Dezember 2015

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

1.

„Swetlana Alexijewitschs Bücher sind sehr schreckliche Bücher, die man nicht ohne seelische Erschütterung lesen kann“, konstatierte Maja Turowskaja in ihrer Laudatio, als Alexijewitsch 1998 den Leipziger Buchpreis erhielt. Tatsächlich leiht die Literaturnobelpreisträgerin von 2015 besonders denjenigen Menschen ihr Ohr, die Schrecklichstes zu erzählen haben.

Alexijewitsch sammelt Stimmen, Lebensgeschichten, Schicksale. Sie sucht die Nähe der Menschen, hört sie an, erträgt ihr Verstummen, das Ringen nach Worten für nie verblassende Erinnerungen. Fast stumm bleibt sie selbst dabei, während die Worte der anderen von ihr Besitz ergreifen: geflüsterte Worte, geschriene, von Weinen begleitete, von Verzweiflung erstickte. Keine Tonart schreckt sie ab. Sie nimmt das Wort hin wie etwas Unabänderliches. Sie leidet unter ihm, manchmal weint sie seinetwegen.

Alexijewitsch nimmt lange, strapaziöse Reisen auf sich und setzt ihre physische Gesundheit aufs Spiel. So hielt sie sich zum Beispiel immer wieder in verstrahltem Gebiet auf, um mit den Leidtragenden der Tschernobyl-Katastrophe zu sprechen: mit Bauern, Soldaten, Feuerwehrleuten und Ärzten. Drei Jahre war sie unterwegs und befragte Betroffene für ihr Buch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, das 1997 auf Russisch erschien. Am Ende ihrer Reisen litt die Weißrussin an einer Gesichtslähmung und musste lange behandelt werden.

Auch ihre psychische Gesundheit setzt sie aufs Spiel: Sie sucht Krisen- und Kriegsgebiete auf und scheut sich nicht, sich vor Ort mit den grausamsten Realitäten vertraut zu machen. So in Afghanistan, als ein Oberst ihr Leichenteile junger Soldaten zeigte, die einer Mine zum Opfer gefallen waren. Beim Anblick der menschlichen Überreste, die man mit „dem Löffel“ vom Panzer „abkratzen“ musste, „damit man etwas hat, was man den Müttern schicken kann“, so seine Worte, fiel sie in Ohnmacht. Aber später sagte sie sich: „Wie muss es einem Krebsarzt ergehen, der einer Mutter mitteilen muss, dass ihr Kind sterben wird? Und ich habe weitergemacht.“ Das Grauen des Afghanistankrieges, das besonders die ganz jungen Männer traf, die Achtzehn-, Neunzehn- und Zwanzigjährigen, hat Alexijewitsch in ihrem Buch Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen von 1991 festgehalten.

Wie können wir uns Swetlana Alexijewitsch vorstellen? Eine Frau die Jahrzehnte ihres Lebens Tag für Tag Grauenhaftes anhört oder protokolliert, die diese Arbeit als eine nicht endende Lebensaufgabe ansieht. Ist sie eine Frau, die davon besessen ist, herauszufinden, „wieviel Menschliches im Menschen steckt“, und die deshalb immerzu die dunkle Seite des Menschen auszuleuchten versucht? Oder ist sie eine ‚Beichtmutter‘ und Therapeutin, die den Traumatisierten die Absolution und Heilung durch ein Gespräch bringt? Oder eine Aufklärerin, wie die Kulturwissenschaftlerin Turowskaja sie sieht, die Mechanismen des Bösen aufdeckt, um es in Zukunft zu verhindern?

Alexijewitsch selbst betrachtet ihre Beschäftigung mit der Zerstörung des Menschen durch den Menschen als „Mein Weg. Meine Kreise der Hölle.“ Diese Selbstaussage ist wörtlich zu nehmen, denn Alexijewitsch macht sich dann auf den Weg, wenn das Leben überschattet wird vom Tod, vom frühzeitigen, sinnlosen, unnatürlichen, schmutzigen Tod. Sie spricht mit Soldaten und verstümmelten Kriegsveteranen; mit Strahlenopfern und deren Ärzten, sowie mit Wissenschaftlern, die Auskunft darüber geben können, welche Strahlendosis einen Menschen tötet – und wie sie ihn tötet. Sie spricht mit Witwen, deren Männer im Lager umgekommen sind; mit Waisen, die die Exekution ihrer Eltern als Kinder mit ansehen mussten. Sie zieht die ins Gespräch, die als Kinder den ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ erlebt, und die, die einen nahen Verwandten durch Selbstmord verloren haben und für ihr Leben gezeichnet sind.

Sie sucht moderne Wohnblocks auf, um Arbeiter zu interviewen, arme Bauernhütten, um Landarbeitern ihre Geschichte zu entlocken. Sie interessiert sich für alle: vom Mann aus dem Kreml bis hin zur Wäscherin. Sie will den ‚einfachen Menschen‘ eine Stimme geben, die nicht gehört werden, und denen, die nie gewagt haben, das zu sagen, was sie denken, weil ein Wort tödliche Folgen haben konnte, weil die Angst vor Denunziation zur zweiten Natur geworden war oder eine hohes politisches Amt ein offenes Wort nicht zuließ. Nur in der Intimität der eigenen Wohnung und mit dem Versprechen, anonym zu bleiben, fangen manche Menschen an, ihre Geschichten zu erzählen. Und so bringt Alexijewitsch Licht in das Dunkel, zieht das Vergessene an die Oberfläche und zeigt eine Spur auf in den mannigfachen Menschengeschichten des größten Landes der Erde: Russland.

Alexijewitschs Wunsch ist es, eine Art Chronik zu schreiben, „die mehr als ein halbes Dutzend Generationen umfasst, deren Vertreter ich erlebt habe und mit denen ich gemeinsam unterwegs bin.“ Und da ihr die ehemalige UdSSR, Weißrussland und die Ukraine wie „ein riesiges Massengrab“ vorkommen, in der noch heute „der ewige Dialog der Henker und der Opfer“ zu hören ist, kann es sich nur um eine „tragische Chronik“ handeln.

2.

„Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit vierzig Jahren an einem einzigen Buch“, erklärte Alexijewitsch 2013 in der Paulskirche, als sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. „An einer russisch-sowjetischen Chronik: Revolution, Gulag, Krieg… Tschernobyl… der Untergang des roten Imperiums.“ Manchmal nennt sie ihr Werk, das nun aus sechs Büchern besteht, eine „Chronik der roten Seele“ oder „Rote Enzyklopädie“. Für dieses enorme Projekt hat sie im Laufe der Zeit mit Tausenden von Menschen gesprochen, Tausende von Interviews protokolliert, Tonbänder abgehört, Wortfetzen zusammengetragen, die sie auf der Straße, am Bahnhof, vor einem Kiosk aufgeschnappt hat. Diese Stimmen montiert sie zu einem Chor des „Homo sovieticus“. Ihr Projekt entwickelt sich immer weiter, denn viele Menschen hinterlassen Alexijewitsch ihre Tagebücher oder erzählen neue Einzelheiten ihrer Geschichten, die sie aus politischen Gründen beim ersten Gespräch hatten verbergen müssen. Alexijewitsch ist sich bewusst: „Meine Bücher kann man nicht zu Ende schreiben. Sie werden von der Zeit geschrieben.“

Bei jedem ihrer sechs Titel geht sie mit derselben Methode vor: Sie montiert einen Wortfetzen und einen ausführlichen Bericht, ein Telefonat und ein intimes Gespräch in einer Wohnung, Flüche eines Betrunkenen und Gesellschaftsanalysen eines Kremlfunktionärs. „Lange suchte ich ein Genre, eine Gattung, die meiner Weltsicht – gewissermaßen der Beschaffenheit meiner Augen und Ohren – entgegenkäme. Ich versuchte mich auf verschiedenen Gebieten und wählte schließlich das Genre der menschlichen Stimmen, die beichten und Zeugnis ablegen zugleich.“ Ganz selten fügt sie kurze Situations- oder Ortsangaben ein; die Namen der Interviewpartner stehen kursiv über ihren Berichten, oft aber ist nur zu lesen: „Eine Mutter“, „Eine Witwe“, „Eine Krankenschwester“. Alexijewitsch weiß aus eigener Erfahrung, dass Diktaturen eine besondere Beziehung zum Wort haben – sei es zum gesprochenen oder zum geschriebenen. Diktaturen wollen absolute Macht haben und über das Wort verfügen, es als Hochverrat bestrafen oder es als gelungene Propaganda belohnen. Dagegen begehrt Alexijewitsch auf und sammelt das, von dem sie hofft, es sei widerständig gegen die Diktatur sozialistischer Regime und die Vergänglichkeit, gegen das Verschwinden des einzelnen Menschen in einer Revolution, in einem Krieg, in einer Masse. Darin folgt sie Joseph Brodsky, der schrieb: „Allein das Wort, es bleibt zurück von einem ganzen Menschenleben“.

Deshalb ist das Wort des Einzelnen für sie kostbar; das höchste Gut, das es gilt, aufzuschreiben, sichtbar zu machen und es für die übrige Menschheit zu bewahren. Viele Kritiker sprechen, nicht erst nach der höchsten Auszeichnung Alexijewitschs durch die Schwedische Akademie, von einer ganz neuen Methode, die die weißrussische Journalistin anwende und nennen ihre Werke Dokumentar-Romane. Die Slawistin Klara Hielscher zum Beispiel ist überzeugt, dass aus Alexijewitschs Tonbandprotokollen „literarische Wortkunst“ entstanden sei. Die Literaturwissenschaftlerin Alla Soumm spricht von einer dokumentarischen Prosa, „die de facto eine neue und unverwechselbare literarische Gattung bildet“. Der Journalist Michael Girke kommentiert in der freitag: „Alexijewitsch dichtet Geschichte“, und ihr Laudator Karl Schlögel sprach anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Alexijewitsch von einem neuen Ton, von einem neuen Genre, das durch Alexijewitsch in die Welt gekommen sei. Mit Nachdruck versichert Maja Turowskaja: „Swetlanas Bücher sind auf gar keinen Fall Journalismus. Sie sind – Literatur.“

Die Methode, eine ‚Oral History‘ durch Dokumentation von Gesprächen mit möglichst vielen verschiedenen Menschen zu schaffen, ist nicht neu und keine Erfindung der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Studs Terkel, der US-Amerikanische Schriftsteller und Radiomoderator, gilt als der Pionier der ‚Oral History‘. Er erhielt 1985 den Pulitzer-Preis für sein Werk The Good War. In diesem Buch hat er die Erlebnisse von Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs gesammelt. Wie Alexijewitsch hat er Menschen aus allen Schichten befragt. Auch ihm war es wichtig, die Stimmen derer festzuhalten, die auf eine andere Weise nicht zu Wort gekommen wären. Beeindruckend sind Terkels Gesprächsprotokolle von schwarzen Analphabetinnen, die beim Abhören der Tonbänder erstaunt waren über ihre eigene Formulierungskunst und ihre klare Sicht auf politische Zusammenhänge. Damit gab Terkel erstmals schwarzen Frauen aus der Unterschicht eine Stimme und Selbstbewusstsein. Studs Terkel hat jedoch nie davon gesprochen, seine Aufzeichnungen seien ‚Literatur‘, er bezeichnete sie schlicht als „Gespräche“.

3.

Alexijewitsch nennt den Journalisten und Schriftsteller Ales Adamowitsch ihren Lehrer, der den Zweiten Weltkrieg in dem autobiographischen Buch Ich komme aus dem Feuerdorf (1975) verarbeitet hat. Seine dokumentarischen Kriegsschilderungen seien ihr tief im Gedächtnis geblieben. Auch die Aufzeichnungen der Erlebnisse russischer Soldaten im Ersten Weltkrieg von Sofia Fedortschenko, die unter dem Titel Der Russe redet in den zwanziger Jahren auf Deutsch erschienen waren − Thomas Mann nahm sie immer wieder zur Hand −, hat Alexijewitsch gelesen. In den Augen der Germanistin Natalia Blum-Barth ist es die von Alexander Solschenizyn proklamierte Haltung, die viele Oppositionelle und Dissidenten übernahmen: „Es galt, möglichst viele Stimmen sprechen zu lassen, um das Schweigen und Verschweigen des Systems zu brechen.“

Ist Swetlana Alexijewitsch nun eine Journalistin oder eine Schriftstellerin? Sind ihre Werke Literatur oder guter Journalismus? Hat ihre Sprache einen eigenen unverwechselbaren Klang, haben ihre kurzen selbst verfassten Passagen eigene Bilder? Wie viel von ihr selbst ist in den Werken enthalten, die unter ihrem Namen veröffentlicht werden? Geht ihre Arbeit über die journalistische hinaus durch die Komposition der Texte, die sie alleine vornimmt?

Lange Zeit nahm man Alexijewitsch international als eine mutige Journalistin wahr, die sich an tabuisierte Themen wagte und diese mit einer Gründlichkeit bearbeitete, für die andere Kollegen nicht den Mut und die Ausdauer aufbrachten. Noch in der Ausgabe Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus der Bundeszentrale für politische Bildung von 2013 wird sie als Journalistin vorgestellt. In den großen Geschichten der russischen Literatur ist ihr Name nicht verzeichnet. Erst allmählich, nach vielen Auszeichnungen, vom Nikolai-Ostrowski-Literaturpreis im Jahr 1984 bis hin zum Nobelpreis 2015, hat eine Diskussion darüber unter Literaturkritikern begonnen.

Die Mehrheit ist voll des Lobes, spricht von einer neuen Literatur, Turowskaja sogar von einer „Art Hyperliteratur“, die mehr kann als die Literatur im geläufigen Sinn, weil sie das „sichtbar werden“ lässt, „wovon die Literatur“ nichts ahnt. Iris Radisch hingegen vertritt die entgegengesetzte Position: „Literatur muss etwas Schöpferisches haben. Sie muss ‚fiction‘, eine eigene Erfindung sein, sie muss eine besondere Sprachqualität haben, und sie muss – das ist ganz wichtig – eine eigene imaginative und weltverwandelnde Kraft haben. Das ist bei Swetlana Alexijewitsch nicht der Fall.“ Radisch zählt die Werke der Weißrussin aber „zu hochbedeutsamen Zeugnissen der Sozial- und Zeitgeschichte.“ Wie widersprüchlich sogar einzelne Aussagen über die Qualität der Texte von Alexijewitschs sind, kann man an der des Osteuropahistorikers Schlögel sehen: „Swetlana Alexijewitschs Schreiben beginnt mit einem Abschied von der schönen Literatur. Das, was sie, die Neugierige, ja der Wirklichkeit Verfallene, anzieht, bestürzt, packt, ist die Wirklichkeit, die in der Literatur nicht vorkommt. Daraus gehen Bücher hervor, die sich in der Retrospektive zu einem schlüssigen, ja epischen Werk fügen.“

Alexijewitsch selbst erklärte: „Ich sammle das Material wie ein Journalist, aber ich arbeite damit als Literatin.“ Ihre Dankesrede zum Leipziger Buchpreis geht noch ein Stück weiter: „Nach langen Jahren der Arbeit mit diesem Material [den dokumentierten Gesprächen] steht für mich außer Zweifel, daß die Kunst von vielem, was im Menschen vorgeht, nicht einmal eine blasse Vorstellung hat.“ Kunst wird hier zu Gunsten des Dokumentierens abgewertet. Es scheint, als wolle Alexijewitsch gar nicht zu den Dichtern gehören, die Literatur hervorbringen.

Ihre Dokumentationen sollen ein Gegengift sein gegen die ‚Stalin-Nostalgie‘, von der so viele Sowjetbürger erfasst sind, und bedürfen des auktorialen Erzählers nicht. Nicht einmal die Autorin selbst muss auf dem Papier in Erscheinung treten, ihr Arrangement, ihre Komposition ist der Kunstgriff, der sie zum Künstler macht. Ulrich Holbein zum Beispiel trat 2000 mit seinem Roman Isis entschleiert, der aus 5437 Zitaten zusammengesetzt ist, an die Öffentlichkeit. Ebenso hat Péter Esterházy ganze Kapitel anderer Autoren in seine Werke montiert und dies lediglich in einem extra publizierten sogenannten Marginalienband ausgewiesen. Ob Alexijewitsch allerdings ihre „Gesprächspartner zur Koautorenschaft“ inspiriert, wie sich das Turowskaja ausmalt, darf bezweifelt werden. Denn weder werden die Gesprächspartner am Honorar beteiligt, noch wird wie in einer Anthologie ihre Urheberschaft nachgewiesen.

Problematisch ist auch Alexijewitschs Wahrheitsbegriff; sie ist fest davon überzeugt, dass ihre dokumentierten Lebensgeschichten die lange Tradition der Propaganda, die Lüge der Utopie, mit denen ganze Generationen russischer Menschen belogen und gelenkt worden sind, entlarven. Sie glaubt: „die Geschichte eines Menschenlebens oder, genauer: die dokumentarische Grundlage dieses Menschenlebens ist genau das, was uns die Lebenswirklichkeit am nächsten bringt.“ Sie glaubt, je mehr Stimmen sie in ihren Büchern versammelte, desto näher käme sie der Wahrheit: „Die Glaubwürdigkeit, die Authentizität entsteht durch die Vielzahl von Ansichten und Einsichten.“ Es ist wohl ein Trugschluss zu denken, aus der Quantität von Stimmen könne eine neue Qualität, nämlich die der Wahrheit, entstehen. Vielleicht verbirgt sich hinter dieser Hoffnung tief eingeprägtes sozialistisches Denken. Denn sonst könnte Alexijewitschs Motto nicht heißen: „Mein Held ist die Wahrheit.“

4.

Alexijewitschs Wahrheitsanspruch hat für sie auch schmerzliche Folgen, denn nicht immer gelingt es ihr, im Einverständnis mit ihren Gesprächspartnern zu bleiben. Das an die Öffentlichkeit getragene Wort bekommt für den Interviewten eine andere Bedeutung als das in der Intimität gesprochene, selbst wenn Alexijewitsch beteuert: „ich erfinde nichts, ich dichte nichts dazu, ich setze das Buch aus dieser Wirklichkeit zusammen.“ So ist es nicht ganz verwunderlich, dass es ‚Stimmen‘ gibt, die sich im Nachhinein gegen die Methode Alexijewitschs gewehrt haben. Vier von ihnen haben beim Minsker Volksgericht Klage gegen sie eingereicht. Die erweiterte Neuauflage der Zinkjungen von 2007 enthält einige Gerichts-Dokumente und Pressestimmen,die Alexijewitsch selbst gesammelt hat und die den Verlauf des Prozesses in groben Zügen wiedergeben. Besonders interessant dabei sind die von ihr stenografierten Gesprächsaufzeichnungen zwischen ihr und den von ihr ehemals interviewten Klägern. Die Kläger, ein junger Mann, der als Invalide aus dem Afghanistankrieg zurückgekehrt ist, und die Mutter eines in eben diesem Krieg gefallenen Offiziers, verklagten Alexijewitsch wegen Verleumdung und Tatsachenverfälschung. Ihre Anschuldigungen sind widersprüchlich und traurig: für sie selbst wie für die Beklagte. Denn der Pakt zwischen den Gesprächspartnern, den beide Parteien meinten, durch den Austausch von Worten geschlossen zu haben, ist zerbrochen.

Die Kläger empfanden sich keineswegs als „Ko-Autoren“. Sie fühlten sich betrogen, ihr in die Öffentlichkeit gezerrtes Wort entstellt und benutzt zur Vermehrung des Ruhmes und des Vermögens von Alexijewitsch. Die Verzweiflung der vier unterschiedlichen Kläger tritt in den Gesprächsaufzeichnungen deutlich hervor: Sie haben alles verloren, Alexijewitsch hat, in ihren Augen, alles gewonnen. „Mit welchem Recht vermarktet Alexijewitsch unsere gefallenen Söhne? Verdient sich damit Ruhm und Dollars? Wer ist sie denn? Es ist doch meins, was ich ihr erzählt habe, wie ich gelitten habe“, stößt verzweifelt eine Mutter hervor, die geglaubt hatte, Alexijewitsch würde Passagen aus dem Tagebuch ihres Sohnes veröffentlichen und nicht aus dem mit ihr geführten Gespräch. Der ehemalige Soldat klagt: „Alexijewitsch hat meinen Bericht vollkommen entstellt, Dinge dazugeschrieben, die ich nicht gesagt habe, oder wenn doch, dann anders gemeint habe, und hat ihre eigenen Schlüsse gezogen, die nicht von mir stammen.“ Trauriger kann eine Zusammenarbeit, die der Aufklärung dienen soll und aus dem Wunsch heraus entstand, dem Einzelnen eine Stimme zu geben, nicht enden.

Das Dilemma, das in der Methode Alexijewitschs liegt, hat Elias Canetti 1974 in seinen bestechenden Charakterskizzen Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere beschrieben: „Er tut nichts dazu, er sagt es ganz genau, manch einer wünscht sich, er hätte damals geschwiegen.“ Canetti schreibt auch von der Rücksichtslosigkeit des Ohrenzeugen: „Der Ohrenzeuge ist durch niemanden zu bestechen. Wenn es um die Nützlichkeit geht, die er allein hat, nähme er keine Rücksicht auf Frau, Kind oder Bruder. Was er gehört hat, das hat er gehört, daran könnte kein Herrgott rütteln.“

Ein unüberbrückbarer Abstand liegt zwischen einer international anerkannten, erfolgreichen, mit hohen Preisgeldern ausgezeichneten Autorin und einem arbeitslosen Kriegsversehrten, zwischen einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat, sich vor Gericht in ihrer Verzweiflung emotional entblößt, und einer Alexijewitsch, die mit der Fahne der Wahrheit dort einzieht. Die Lehre aus dem Prozess ist, dass weder die gemeinsame Geschichte noch das Wort dauerhaft als Brücke taugen. Mit dem Erhalt des Preisgeldes von 8 Millionen Schwedischen Kronen (860.000 Euro) wird sich die Kluft zwischen Alexijewitsch und ihren Interviewpartnern in Zukunft noch vertiefen.

Durch die Zwischenrufe während des öffentlichen Prozesses in Minsk, die von Alexijewitsch auch dokumentiert worden und in Zinkjungen nachzulesen sind, erfährt der Leser noch von einem anderen Missverständnis oder Missverhältnis, das viele Menschen betrifft, nicht nur die vier Kläger. Alexijewitsch sieht die ‚Afghanen‘ – so werden die russischen Soldaten auch noch als Heimkehrer genannt – als Opfer der Politik an, als junge, ahnungslose Männer, die in einem sinnlosen Krieg verletzt oder getötet worden sind. Gleichzeitig aber beschreibt Alexijewitsch die Gräueltaten dieser jungen Männer wahrheitsgemäß. Damit werden die Soldaten für eine breite Öffentlichkeit zu Tätern. Das ertra- gen viele nicht, die sich mitschuldig an der leichtsinnigen Propaganda gemacht haben, durch die den jungen Männern der Krieg als notwendig und ehrenhaft dargestellt wurde. Vor allem die Heimkehrer selbst fühlen sich betroffen von der Veröffentlichung der Zinkjungen, denn nun stoßen sie im eigenen Land auf Ablehnung und werden als Tötungsmaschinen diffamiert. Die ehemaligen Soldaten folgern daraus, dass Alexijewitsch, die ihnen doch eine ‚Stimme‘ hatte geben wollen, nicht in ihrem Sinn gehandelt hat. Ein weiteres Mal empfinden sie sich als Opfer, erst als Verlierer des Krieges, dann als Diffamierte und schließlich als Opfer einer Vermarktung, an deren Gewinn sie nicht teilhaben. Fast kommt es ihnen so vor, als würde sich auch Alexijewitsch ihrer Worte bemächtigt haben.

So hieß es im Gerichtssaal: „Das Volk ist gedemütigt und bettelarm. Dabei waren wir vor kurzem noch eine Großmacht. Vielleicht waren wir das auch nicht, aber wir selber hielten uns dafür, weil wir so viele Raketen und Panzer besaßen, so viele Atombomben. Und wir glaubten im besten, gerechtesten Land zu leben. Da kommen Sie und sagen uns, wir hätten in einem anderen Land gelebt – einem schrecklichen und blutrünstigen. Wer soll Ihnen das verzeihen? Sie haben den wundesten Punkt getroffen…“

5.

Das erste große Werk, das Alexijewitsch nach 500 Tonbandprotokollen zusammengestellt hat, ist Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Darin kommen Frauen zu Wort, die im Zweiten Weltkrieg in der Roten Armee gekämpft haben. Von den etwa eine Million sowjetischer Soldatinnen gibt es in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum Spuren: von den Flaksoldatinnen und Fliegerinnen, den Ärztinnen und Krankenschwestern, den Partisaninnen und Infanteristinnen. Ihnen schlug, nachdem sie an der Front Schrecklichstes erlebt hatten, bei der Heimkehr großes Misstrauen entgegen. Keiner wollte sich vorstellen, zu welchen Dingen diese Frauen fähig gewesen waren und wozu man sie gezwungen hatte. Das Manuskript Der Krieg hat kein weibliches Gesicht war 1983 druckfertig, das Buch konnte aber erst zu Beginn der Perestroika 1985 in der Sowjetunion erscheinen; zwei Jahre später kam es in Deutschland auf den Markt. Mehrmals wurde es neu aufgelegt und erreichte bald eine Auflage von zwei Millionen Exemplaren; es war einer der großen Bucherfolge der Glasnost-Ära. Aus dieser Arbeit entstand ein siebenteiliger Dokumentarfilm des weißrussischen Regisseurs Wiktar Daschuk, der 1985 mit dem Staatspreis der UdSSR ausgezeichnet wurde.

Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg erschien ebenfalls im Jahr 1985 (dt. 1989) und ist ebenfalls als Anti- Kriegsbuch zu lesen. Das Buch spaltete die Nation, denn niemand hatte bisher gewagt, so über den ‘Großen Vaterländischen Krieg’ zu sprechen, wie es die Interviewpartner Alexijewitschs taten: die Kinder-Zeugen des Zweiten Weltkriegs. „Ich wollte über den Wahnsinn des Krieges schreiben – nicht über den Sieg“, erklärte Alexijewitsch, der man vorwarf, sie sei eine Pazifistin, die sich dem Naturalismus verschrieben habe. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie der Zensor meinte: Wir brauchen diese grausame Wahrheit nicht. Danach wird niemand mehr in den Krieg ziehen, Sie diffamieren unseren Sieg!“ Zwar durften die Bücher von Alexijewitsch, nachdem unter Michail Gorbatschow eine neue politische Ära begonnen hatte, publiziert werden, aber von der sowjetischen Zensur stark verändert. Alexijewitsch spricht sogar von Verunstaltung.

1989 erschien dann Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen, ein Buch, das bis heute, angesichts der Rückkehr deutscher Soldaten aus Afghanistan und der neuerlichen Rekrutierung junger Russen für den Krieg in der Ukraine, große Aktualität besitzt. Der russische Afghanistankrieg von 1979 bis 1989 wurde später als das „Vietnam der Sowjetunion“ bezeichnet. Die Parallelen liegen auf der Hand: Junge Männer führen unter Einfluss von Drogen einen grausamen, sinnlosen Krieg, den sie nicht gewinnen können und der von der übrigen Welt immer stärker verurteilt wird, je länger er andauert. Die Heimkehrer sind schwer traumatisiert, finden nicht in das normale Leben zurück; sie und ihre getöteten Kameraden sind die Verlierer des Krieges.

Unmittelbar nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan ist Alexijewitsch vier Jahre durch ganz Russland gereist und hat Gespräche geführt mit Müttern Gefallener, mit Offizieren, Krankenschwestern, Ärzten, Dolmetschern und Zivilangestellten. Ein Oberstleutnant riet Alexijewitsch von weiteren Befragungen über den Krieg ab: „Keiner wird den Anfang machen wollen, keiner wird den Mut dazu haben. Wer erzählt Ihnen, dass Drogen in den Särgen rausgeschmuggelt wurden? Oder Pelze? Statt Leichen! Wer zeigt Ihnen die aufgefädelten getrockneten Menschenohren? Kriegsandenken. Sie wurden in Streichholzschachteln gesammelt… zusammengeschrumpelte kleine Blätter. Kann nicht sein? So was von den vielgerühmten sowjetischen Soldaten? Oder doch? Es war so!“ Derselbe Berufssoldat erinnert sich, wie ahnungslos auch er in den Krieg zog: „Ich bereitete mich wie auf eine Dienstreise vor. Was sollte ich mitnehmen? Keiner hatte eine Ahnung.“ Am Ende nimmt er ein Paar Gummistiefel mit, die er in den zwei Jahren seines Einsatzes nicht ein einziges Mal benutzen kann. Gerade darin ist Alexijewitsch stark: banalen Episoden ihre Aufmerksamkeit zu schenken, die die Absurdität des Kriegsalltags hervorheben. Ebenso stark ist der Titel: Zinkjungen. Tote Soldaten wurden in Zinksärgen in die Heimat zurück transportiert. Die Angehörigen wussten nicht, wer oder was in dem Sarg lag, er war verplombt und durfte von ihnen nicht geöffnet werden.

In ihren ersten drei Werken, die vom Krieg handeln, wiederholen sich die Erlebnisse Betroffener in ähnlicher Weise Buch für Buch. Die Geschichten führen zu keinem Ende, kein Schlusswort gibt ihnen einen übergeordneten Sinn. Wie zufällig stehen die grauenhaften Lebensgeschichten der Leidtragenden nebeneinander. Alexijewitsch rechtfertigt ihr Vorgehen so: „das Wichtigste war dabei, aus all diesen Geschichten eine neue philosophische Sichtweise auf den Krieg zu entwickeln. Denn die Fakten für sich betrachtet wären nichts anderes als eine Sammlung von Horrorgeschichten. Davon haben wir aber auch heute genug: Man braucht nur den Fernseher einzuschalten.“

Gefragt, welche Ursache die ständigen Kriege in ihrer Heimat haben, gibt Alexijewitsch zur Antwort: „Im Grunde sind wir Menschen des Krieges. Immer haben wir entweder gekämpft oder uns auf einen Krieg vorbereitet. Etwas anderes kannten wir nicht. Darauf ist unsere Psyche ausgerichtet.“

Alexijewitsch ist nicht nur eine Aufklärerin, die sich mit Vernunft ihren Gegenständen nähert, sie ist außerdem eine „Menschenforscherin“ – wie sie sich selbst nennt –, die eine besondere Beziehung zum Tod hat: „Er ist zum Hauptthema meines geheimen Lebens geworden.“ So ist ihr vierter Titel Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder, der 1993 erschien (dt. 1994), eine Suche nach den Gründen für die radikalste Form der Selbstzerstörung. Alexijewitsch erklärt sie sich als letzten Ausweg aus radikalen Gesellschaftsumbrüchen, die manchen Menschen das Vertrauen in die Zukunft raubten. „Wie viel Unglück kann ein Land überhaupt ertragen“, fragt sich Karl Schlögel – und wie viel der einzelne Mensch?

Nachdem am 26. April 1986 in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypiat ein Reaktorunfall geschehen war, der überwiegend weißrussisches Territorium verstrahlte und sich als eines der größten Unglücke für die Menschheit herausstellte, dachte Alexijewitsch sofort daran, darüber Stimmen für ein weiteres Buch zu sammeln. Aber sie gab das Vorhaben schon bald auf, denn sie wusste nicht, wie sie sich dem Thema nähern sollte. Eigene Erfahrungen halfen hier nicht weiter. „Es war etwas geschehen, wovon wir keinerlei Vorstellung besaßen, was keine Analoga hatte, wofür unsere Augen, unsere Ohren, all unsere ‚inneren Werkzeuge‘ nichts taugten, wovor sich unser bisheriger Wortschatz als hilflos erweist. Das neue Gesicht des Bösen.“ Ganz ähnlich war es den Journalisten und Autoren ergangen, die 1945 die Befreiung der Konzentrationslager miterlebt und die ersten Fotos von Hiroshima gemacht hatten. Auch sie glaubten, wie Alexijewitsch, es habe eine neue Zeitrechnung begonnen. „Tschernobyl ist nicht nur eine Katastrophe, es ist eine Grenze, ein Übergang von einer Welt in eine andere, Tschernobyl ist eine neue Philosophie, ist neues Weltempfinden.“

Alexijewitsch hält die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl bis heute für den Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte: „Diese uns vertraute Welt besteht nicht mehr.“ Alexijewitsch war wie gelähmt. Nach einiger Zeit begann sie aber doch mit ihrer Arbeit, und schon das erste Gespräch mit der Frau eines Feuerwehrmannes führte sie in das Zentrum des Grauens. Die Tschernobyl-Gebete, so der russische Titel, konnte in Weißrussland, der Heimat von Alexijewitsch, nur in dem kleinen Privatverlag Логвiнаў erscheinen, dessen Bücher in den wenigsten Buchhandlungen vertrieben werden. Das reale Ausmaß des Reaktorunfalls im Nachbarland Ukraine wird noch heute vor der Bevölkerung verschwiegen. Zu einem Drittel ist das Land verstrahlt und jeder fünfte Weißrusse hat gesundheitliche Schäden davongetragen. Die verstrahlte und abgeriegelte Zone selbst ist seit einigen Jahren eine Touristen-Attraktion; mit Genehmigung und einem teuren Ticket darf man sie betreten. Sehr begehrt und in vielen Ausführungen zu haben sind Tschernobyl-Computerspiele. „Für viele junge Leute stellt die Zone die angehaltene Zeit dar, einen Jurassic Park der Sowjetunion plus moderner Mystik der virtuellen Welten“, erklärt die in Kiew geborene Autorin Katja Petrowskaja das Phänomen.

Das letzte große Projekt von Alexijewitsch, an dem sie über ein Jahrzehnt arbeitete und das 2013 erschien, ist Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Esversammelt nun die Stimmen des postsozialistischen Russlands, und bringt noch einmal alle vorherigen Themen zur Sprache: Krieg, Gewalt, Armut, Verbitterung, Ernüchterung und Nostalgie. Secondhand-Zeit ist ein Sittenbild, das die russische Gesellschaft, nach dem Scheitern von Gorbatschows Reformversuchen, in einem radikalen Umbruch zeigt. Jetzt ist es das Geld, das die Menschen als Maßstab für Glück oder Scheitern ansehen. Ihre neue Freiheit ist aufs engste mit ihm verbunden.

6.

Swetlana Alexijewitsch wurde am 31. Mai 1948 in der ukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk geboren, die vor dem Krieg zu Polen gehörte. Ihre Mutter war dort ansässig und hatte sich in einen weißrussischen ‚Okkupanten‘ verliebt. Nach der Entlassung des Vaters aus der Sowjetarmee zog die Familie in seine Heimat, in die Sowjetrepublik Weißrussland. In einem Dorf, in dem beide Eltern als Lehrer arbeiteten, verbrachte Alexijewitsch ihre von großer Armut geprägte Kindheit. Nach Abschluss der Schule arbeitete sie zwei Jahre bei einer Bezirkszeitung in Narowlja und begann dann, an der Universität Minsk Journalismus zu studieren. Nach dem Studium war sie als Journalistin und als Lehrerin tätig. Am Ende ihrer journalistischen Laufbahn arbeitete sie als Ressortleiterin für Reportagen bei der literarischen Zeitschrift Neman, einem Organ des weißrussischen Schriftstellerverbandes.

Bevor Alexijewitsch ihre eigene Form fand, hat sie verschiedene Gattungen erprobt: Erzählungen und Reportagen. Später arbeitete sie an Fassungen ihrer Bücher für Film und Theater. Sie ist Drehbuchautorin von über 20 Dokumentarfilmen, ihre Theaterstücke wurden in Deutschland, Frankreich und Bulgarien aufgeführt. Sie schreibt auf Russisch, nicht auf Weißrussisch, was ihr in ihrem Heimatland Kritik einbringt. Sie fühlt sich der russischen Kultur verbunden. Für die hohen Politiker Russlands aber ist sie eine Ausländerin, die zwar in der russischen Sprache publiziert, aber, wie Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky, die 1970 und 1987 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden sind, als Symbolfigur des intellektuellen Widerstands gilt.

Alexijewitschs Bücher durften in Weißrussland, in dem übermächtige Staatsverlage den Markt beherrschen, nicht erscheinen und man konnte sie als Privatdrucke nur in wenigen Buchhandlungen erhalten. Zermürbt durch jahrelange Anfeindungen und Isolation – ihr Telefon wurde abgehört und öffentliche Auftritte wurden ihr untersagt –, sah sich Alexijewitsch gezwungen, ins französische, schwedische und deutsche Exil zu gehen. Doch sie fasste nicht Fuß in der Fremde; sie blieb überall eine Außenseiterin. Besonders fehlten ihr das direkte Gespräch mit ihren Landsleuten und die Familie. „Ich will zu Hause leben, unter meinen Leuten, meinen Enkel aufwachsen sehen“, sagte sie und kehrte 2011 in die Heimat zurück. Seitdem lebt Alexijewitsch wieder in Minsk. Ihre Zweizimmerwohnung befindet sich in einem Haus, das bei der Fertigstellung von hohen Parteifunktionären bezogen wurde, die heute noch dort leben und inzwischen in der Bauwirtschaft oder im Mobilfunksektor tätig sind. Zum Schreiben zieht sich Alexijewitsch in ein verlassenes Dorf außerhalb von Minsk zurück. Dort kommt sie zur Ruhe.

Die Reaktionen offizieller russischer Medien auf den Literaturnobelpreis für Alexijewitsch waren knapp. Bis auf wenige oppositionelle Internet-Zeitschriften reagierten die meisten mit Unverständnis und Empörung, ja sogar mit abfälligen Kommentaren. Der russische Journalist Egor Cholmogorow, bekannt für seine nationalistische Haltung, ließ verlauten: „Ukrainische Schriftstellerin mit weißrussischem Pass, die in einem EU-Land lebt und auf Russisch schreibt, hat den Nobelpreis bekommen“. Cholmogorow hat bewusst unterschlagen, dass Alexijewitsch seit Jahren wieder in Weißrussland lebt; er will sie als eine Abtrünnige brandmarken. Und Sachar Prilepin, Schriftsteller mit nationalbolschewistischer Orientierung, verkündete: „Schriftstellerin und doch keine Schriftstellerin, russische und doch keine russische Schriftstellerin.“

Der Schriftsteller Wadim Lewental schrieb in Iswestija, einer der größten russischen Tageszeitungen: „Im fischfreien Teich wurde zum Fisch eine in Frankreich lebende weißrussische Staatsbürgerin ausgewählt.“ Er erklärte diese Wahl des Nobelpreiskomitees ironisch damit, dass sich kein geeigneter ukrainischer Autor gefunden hätte. Nur der kremlkritische Radiosender Echo Moskwy empfahl, Alexijewitschs Bücher zu lesen. „Kaufen Sie“, riet der Kommentator Alexander Minkin, „statt glamouröser Krimis oder Geschichtscomics à la Prilepin lieber ein Buch von Swetlans Alexijewitsch. Das wird Ihr ganzes Koordinatensystem neu einstellen.“

Seit Lukaschenkos Präsidentschaft durfte Alexijewitsch in Weißrußland nicht publizieren, daher war und ist sie der jüngeren Generation in ihrer Heimat kaum bekannt, allenfalls über die weißrussische Diaspora und die im Ausland erschienenen Bücher. In den Neunzigerjahren wurde Alexijewitsch hauptsächlich durch Verfilmungen ihrer Bücher von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen, allerdings kontrovers diskutiert, häufig sogar als „Nestbeschmutzerin“ bezeichnet, was in manchen Kreisen als höchste Auszeichnung galt.

In Europa wird die Vergabe des Literaturnobelpreises an eine Autorin, die deutliche Worte gegen das Herrschaftssystem von Wladimir Putin gebraucht und den Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus dokumentiert, von der Mehrheit als eine politische Entscheidung der Schwedischen Akademie gewertet. Manche haben sie als wichtiges politisches Signal begrüßt. Aber es ist auch der Vorwurf zu hören, dass die Akademie wieder die Intention Nobels ignoriert habe, denn ganz offensichtlich handelt es sich bei den Texten von Alexijewitsch um keine „ideale“ Literatur, gleichgültig, wie man das Adjektiv auslegt.

Nun gab es in der Geschichte des Literaturnobelpreises immer wieder Auszeichnungen, die eine politische Dimension hatten und Nichtliteraten mit einbezog. Winston Churchill ist zum Beispiel eine Persönlichkeit, die das Ausmaß dieses diplomatischen Spiels zeigt. Er war bereits 1946 vorgeschlagen worden und erhielt 1953 für sein historisches Werk und seine Fähigkeiten als Redner den Preis. Er war 1951 erneut Premierminister geworden, galt als Sieger im Zweiten Weltkrieg und wurde zu einer der Schlüsselfiguren in der Welt des ‚Kalten Krieges‘. Die Ehrung veranlasste 1955 Dag Hammarskjöld, nun selbst Mitglied der Akademie, zu dem Ausruf: „Churchill – Hemingway – Scholochow: ist die Schwedische Akademie ein Literaturausschuss des Außenministeriums?“

Die Hoffnung, dass die Aufklärerin Swetlana Alexijewitsch mit ihren Büchern politisches Gehör findet und die Welt verändert, ist gering; dass ihr aber der Mut und die Ausdauer nicht abhanden kommen für weitere Projekte, die zur Aufarbeitung menschlicher Katastrophen führen, ist zu wünschen. Mit dem Literaturnobelpreis wurde sie 2015 ausgezeichnet für „ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt.“

Literaturhinweise

Maja Turowskaja: Laudatio. In: Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 1998. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Frankfurt am Main: Verlag der Buchhändler-Vereinigung 1998. S. 17-26.

Karla Hielscher: Swetlana Aleksievič. In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. Sebastian Domsch u.a. München: edition text + kritik 2012.

Alla Soumm: Eine Literatur vom „Alltag der Seele“. Ein Porträt von Swetlana Alexijewitsch. In: literaturkritik.de, Nr. 10, Oktober 2013.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist einer Reihe essayistischer Porträts von Simone Frieling entnommen, die in Kürze unter dem Titel „Ausgezeichnete Frauen. Die Nobelpreisträgerinnen der Literatur“ im Verlag LiteraturWissenschaft.de erscheinen.

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