Mangelnde Musikalität?

Chris Dähnes Studie zu den „Stadtsinfonien der 1920er Jahre“ zeichnet sich durch seine Materialfülle aus, weiß damit aber nichts anzufangen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das urbane Leben ist eines der zentralen und bezeichnenden Themen in der Kultur der 1920er-Jahre, eben nicht nur in den allseits bekannten Werken, nicht nur in Literatur und bildender Kunst, sondern auch im seinerzeit relativ neuen Medium Film, das den urbanen Raum als soziales Phänomen wie als materiale Konstruktion inszeniert. Das erklärt die Aufmerksamkeit, die eine Studie über die „Stadtsinfonien der 1920er Jahre“ auf sich zieht, verspricht man sich doch von ihr nicht nur eine Einführung in die filmische Ver- und Bearbeitung des Themas urbanes Leben im frühen 20. Jahrhundert, sondern auch weiter gehende Aufschlüsse über die enge Verschränkung der modernen Sozialwelt in einem hochverdichteten Raum, der zudem baulich und funktional eng aufeinander abgestimmt ist. Eine Abhandlung zu den „Stadtsinfonien“ sollte, so die Erwartung, im Grunde die Analyse der visuellen Aufarbeitung von Georg Simmels frühen Essay über die „Großstädte und das Geistesleben“ liefern, mit weitreichenden Folgen für das Verständnis moderner Lebenswelten im beginnenden 20. Jahrhundert.

Chris Dähnes Studie, die auf eine Disssertation zurückgeht, die 2010 an der TU Delft verteidigt worden ist, greift deshalb mit gutem Grund auf die zentralen Filmwerke der 1920er-Jahre zu, für den deutschen Kulturraum naheliegend auf Walter Ruttmanns „Sinfonie der Großstadt“ (1927), ansonsten auf Charles Sheelers und Paul Stands „Manhattan“ (1921), Alberto Cavalcanis „Rien que les heures“ (1926), Dziga Vertovs „Saga, Sowjet!“ (1926), Joris Ivens „Regen“ (1929), A. Kemenys und R. R. Lustigs „Sao Paulo“ sowie auf „Fukko Teito Shinfoni“ (1929), der sich dem Wiederaufbau Tokyos widmete.

Freilich zeigt sich, dass Dähnes Studie auf einem kaum ausgearbeiteten theoretischen Konzept beruht und wenig mehr bietet als eine Zusammenschau historiografischer Lesefrüchte und einer strukturierten Wiedergabe seiner Materialien. Die Ankündigung, seinem Thema nicht nur im Film, sondern auch in der Fotografie und in der Literatur nachzugehen, wird nicht eingelöst. Insbesondere für den literaturwissenschaftlichen Teil nutzt die Studie nur einen Bruchteil des einschlägigen Materials und wertet es zudem nicht angemessen aus. Der Erkenntniswert ist mithin fraglich. So heißt es etwa in einer Passage zu John Dos Passos‘ „Manhattan Transfer“ in Sachen erzählerischer Erfassung urbaner Räume: „Der öffentliche Raum erfährt durch die Nutzung von Protagonisten und Verkehr eine erzählende Beschreibung, bei der das orthogonale Stadtraster ins Vertikale extrudiert und in der Dreidimensionalität ihrer architektonischen Gebäude (Hochhäuser, Hotels, Kinos etc.) wahrnehmbar wird“. Der Erkenntniswert dieses Satzes?

Dähnes Arbeit gliedert sich in eine Einleitung zu Thema und Methode, an die sich einige „Reflexionen zum Verhältnis von Architektur und Film“ anschließen. Der erste Hauptteil erhebt den Anspruch, die Entwicklungen des urbanen Raums in Fotografie, Film und Literatur zwischen 1800 und 1922 darzustellen, wobei dieses Kapitel für die Bereiche Film und Fotografie eine historisierende Skizze bietet, während es für die Literatur nur einige Anmerkungen und Hinweise zu geben vermag. Im zweiten Hauptteil verschiebt sich das Gewicht deutlich in Richtung Film, dem der größere Teil der „Darstellungen von Raum in der Interbellumsperiode 1911-1930“ gewidmet ist. In einem Schlussteil soll die „Rolle des Raums im Film unter besonderer Berücksichtigung der Stadtsinfonie“ untersucht werden. Den filmischen Produkten sind von den rund 300 Seiten der Studie etwa 200 Seiten gewidmet; die Exkurse zur Literatur und Fotografie sind nur beigestellt und nicht zentral. Ein Blick in diese Teile der Studie zeigt denn auch, dass sie sogar verzichtbar gewesen wären, weil sie weder methodisch noch konzeptionell noch inhaltlich fruchtbar gemacht werden. Ebenso verzichtbar sind die Skizzen zur Literatur, zur Fotografie und zum Film bis 1920, deren argumentative Funktion nicht erkennbar wird. Keine Frage, in der frühen Fotografie sind architektonische Elemente bevorzugtes Motiv – deren Verbindung mit der Großstadtdarstellung in den 1920er-Jahren wird aber nicht vorgeführt.

Dähne geht davon aus, dass „die Erfahrung von Stadt“ sich auf die „Gleichzeitigkeit“ einer „physischen urbanen Umgebung und deren medialer Repräsentation“ gründet, was auf den ersten Blick mit der urbanen Alltagswahrnehmung übereinstimmt, auf den zweiten aber fraglich wird. Eine ontologische Differenz zwischen medialer und sensueller Wahrnehmung wird schlichtweg gesetzt, konstruktivistisch grundierte Überlegungen, mit denen sie weitgehend aufgehoben wird, bleiben völlig ausgespart. Mediale und sensuelle Wahrnehmung werden als Gegensätze verstanden, zwischen denen es zu Interferenzen kommen kann, mithin zu einer „Verwechslung“ von Realität und Imagination. Dass die Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität immer und notwendig medial vermittelt ist, dass dies in eine Systematik von Beobachtungen (und damit Medien) erster und zweiter Ordnung eingewoben ist, ist Dähne hingegen keine Überlegung wert. Stattdessen beklagt er die Wirkung „wirklichkeitsvortäuschender Techniken“, die im Gegensatz zum „Wirklichkeitsverlangen“ der Betrachter stehe. Auf dieser Basis erhält das „Anliegen“ seiner Studie, das „(unbewusste) Zusammenwirken von Stadtwahrnehmung und -vermittlung, das heißt von physischem Raum und seiner Darstellung zu erfassen und zu vergegenwärtigen“, eine spezifische, man könnte erwarten kritische Note. Die Studie beschränkt sich im Weiteren jedoch auf eine mehr oder weniger kommentierende Beschreibung des Materials, in der eine These oder ein spezifischer, erkenntnisleitender Zugriff nicht zu erkennen ist. Der methodische Hinweis, Dähne folge einer „hermeneutischen Interpretation“, wird nicht eingelöst.

Hinzu kommen terminologische Unsicherheiten, etwa die Kontaminierung von Raum und Ort oder die Beliebigkeit, mit der der urbane Raum konnotiert wird. Eine konsistente These oder gar Theorie zur Moderne und ihre Ausstattungen im frühen 20. Jahrhundert scheint Dähne nicht zu haben. So verweist er beinahe beliebig auf Charakteristika der Moderne wie Massen-, Industrie- oder Konsumgesellschaft, die sich im urbanen Raum und seiner kulturellen Verarbeitung wiederfinden lassen. Eine kohärente Darstellung findet sich jedoch nicht. Der Inszenierungscharakter der Filme, die Dähne heranzieht, wird nicht herausgearbeitet. Stattdessen beschränkt sich der Autor auf die Organisation seines Materials und ordnet es nach Kriterien wie „Gesamtstadt“, „Quartiere“, „Straßen“, „Tag“ und „Nacht“. Daneben will er sich stilistischen Elementen widmen, also nach der „Art und Weise der Darstellung in Film, Fotografie und Literatur“.

Auf der Suche nach einem Ergebnis oder wenigstens einer These finden sich schließlich Formulierungen wie diese: „Die Stadtsinfonien erzeugen eine vom Standpunkt des menschlichen Auges aus erstellte, aber in dieser Form niemals sichtbar werdende Lebenswelt. Erst durch das ‚Kinoauge‘, Montage- und Kompositionsprinzipien aus Film und Musik, wird die rhythmische Wahrnehmung nach Absicht des Künstlers in den Analysegegenstand – die moderne Stadt – hineingetragen“. Gemeint wird wohl sein, dass die Wahrnehmung der modernen Stadt erst durch die mediale Aufarbeitung rhythmische Eigenschaften aufnimmt, die mediale Inszenierung mithin auf die lebensweltliche Wahrnehmung zurückwirkt. Aber wer kann sich da sicher sein? Stilistische Unbeholfenheit und methodische Unschärfe kommen hier zusammen. Die Studie hätte zumindest eines umfassenden Lektorats, vielleicht jedoch einer grundlegenden Überarbeitung bedurft, um nützlich, wenn nicht gar anregend zu sein.

Titelbild

Chris Dähne: Die Stadtsinfonien der 1920er Jahre. Architektur zwischen Film, Fotografie und Literatur.
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
387 Seiten, 35,80 EUR.
ISBN-13: 9783837621242

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