Wider eine Germanistik im Elfenbeinturm

Paul Michael Lützeler legt mit „Publizistische Germanistik“ eine beeindruckende Sammlung seines feuilletonistisch-kritischen Œuvres vor

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Kerngeschäft der akademischen Germanistik zählt sicher nicht, in Zeitungen und Publikumszeitschriften zu publizieren. Der Graben, der zwischen journalistischer Publizistik und wissenschaftlicher Forschung verläuft, ist vielleicht nicht mehr so tief, wie er einmal gewesen ist, aber immer noch deutlich erkennbar. Die Literaturwissenschaftler überlassen das, was man landläufig unter „Literaturkritik“ versteht, nach wie vor traditionell Journalisten, die zwar in der Regel Philologen sind, sich nach dem meist erfolgreich absolvierten Studium aber von der akademischen „Literaturwissenschaft“ (ein Terminus, den es in anderen Sprachen bezeichnenderweise so gar nicht gibt) verabschiedet haben. Im Grunde ist das verwunderlich, denn die Primär- oder Erstrezeption literarischer Werke ist ganz und gar keine unwichtige Sache. Schafft es ein Werk nicht, in dieser ersten Runde überhaupt wahrgenommen zu werden, sind die Chancen sehr gering, später noch irgendeine Aufmerksamkeit zu erreichen – gerade in einer Zeit, in der Publikationsvolumen und -geschwindigkeit immer noch weiter zunehmen. Indem die Germanistik das professionelle „Vorsortieren“ literarischer Neuerscheinungen „externen“ Experten überlässt, verzichtet sie also einerseits auf ein beträchtliches Maß an Macht im Kanon-Diskurs und verschenkt andererseits auch eine wirksame Möglichkeit, um die Relevanz des eigenen Fachs zu zeigen, um in auflagenstärkeren Publikationsforen wie Zeitungen oder Publikumszeitschriften gesellschaftliche Breitenwirkung zu erzielen.

Diesen „Graben“ zwischen Wissenschaft und Kritik bedauert Paul Michael Lützeler, Rosa May Distinguished Professor in the Humanities an der Washington University in St. Louis, in der Einleitung zu „Publizistische Germanistik“, einem über 400-seitigen Band, der Lützelers feuilletonistisches Werk der letzten Jahrzehnte dokumentiert. In einer Zeit, in der das Bildungsbürgertum eine aussterbende Spezies darstelle, Auflagezahlen „anspruchsvoller“ Literatur einbrächen und traditionelle Säulen der Literaturvermittlung erodierten, solle sich die Germanistik möglichst aktiv am Gesellschaftsdiskurs beteiligen, anstatt sich in den elfenbeinernen Turm der Akademia zurückzuziehen, fordert Lützeler, der einer der wohl bekanntesten Germanisten diesseits und jenseits des Atlantiks ist, was nicht zuletzt damit zu tun haben dürfte, dass sein Name regelmäßig im Zeitungsfeuilleton aufscheint.

Für einen hauptberuflichen Germanisten wie Lützeler ist die Fülle und thematische Bandbreite, die seine Essays und Kritiken, die zwischen 1984 und 2015 für Zeitungen wie „Die Zeit“, die „Neue Zürcher Zeitung“, „Die Welt“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Frankfurter Rundschau“ oder den „Tagesspiegel“ und für Kulturzeitschriften wie die „Neue Rundschau“ oder den „Merkur“ entstanden sind, tatsächlich beeindruckend. Die vorangestellte Einleitung sollte man unbedingt zur Gänze lesen, denn Lützeler nimmt darin eine überaus interessante und treffende, knappe Positionsbestimmung der Germanistik innerhalb der Trias Literatur – Kritik – Wissenschaft vor, aus der er die Forderung einer „publizistischen Germanistik“ ableitet, die er selbst seit Jahrzehnten in St. Louis lebt, wie die anschließende Darstellung des von ihm initiierten Max Kade Zentrums samt Writer in Residence-Programm zeigt. Sie dient sozusagen als Argument für die zuvor aufgestellte Forderung einer offenen, „dialogischen“ Germanistik und hat tatsächlich zweifellos Modellcharakter.

Nun kann nicht jede Germanistik ein solches Austauschprogramm zwischen Literaten, Kritikern und Wissenschaftlern ins Leben rufen, wie das Lützeler – mit großem Erfolg – getan hat. Und die Trennung zwischen den Sphären der Wissenschaft und des Journalismus hat auch durchaus seine Gründe. Zweifellos stellen beide Disziplinen unterschiedliche Aufgaben an den Autor: Journalistisches Schreiben impliziert ein gewisses Maß an Verkürzung, Verknappung, Zuspitzung, Behauptung, was dem akribischen, ausladenden akademischen Schreiben grundsätzlich zuwiderläuft. Jeder, der sich in beiden Disziplinen versucht hat, weiß das. Gleichzeitig aber könnte man sagen, ist dieses journalistische Schreiben innerhalb gewisser Zeichenzahlen, zu einer bestimmten Deadline, für ein breiteres Publikum gerade wegen seiner Einschränkungen für aktive Germanisten auch etwas „Gesundes“, weil es hilft, in einer Zeit, in der sich wissenschaftliche Diskurse immer noch weiter ausdifferenzieren, gleichsam Bodenhaftung zu bewahren, da es zu Einfachheit, Kürze und Klarheit zwingt. Zumindest jedoch ist es etwas sehr Nützliches, will die Germanistik den Kontakt zur Gesellschaft, zur Sphäre der Literatur – auf die sie letztlich ja angewiesen ist –, nicht gänzlich verlieren. Das konstatiert auch Lützeler. Darüber hinaus sind Feuilletonbeiträge aufgrund ihrer „Sichtbarkeit“ gewissermaßen immer auch „Fach-PR“, und die kann in Zeiten des Selbstvermarktungszwangs wohl kaum schaden – auch wenn man das nicht zwangsläufig gutheißen muss, der Zwang zur Rechtfertigung, Tätigkeitsbeweis und Zweckmäßigkeit sind heute Fakten.

Dass die Trennung zwischen Journalismus und Wissenschaft jedenfalls keine strikte, absolute sein muss, beweisen Lützelers Essays und Kritiken eindrücklich. Bei ihm scheint sich die Doppelrolle von elitärem Forschen für den „inner circle“ einerseits und dem Publizieren für ein breiteres, interessiertes Laien-Publikum andererseits nicht nur nicht auszuschließen, sondern geradezu zwingend zu ergeben. Klar sind Lützelers Forschungsschwerpunkte in der Gliederung des Bandes in fünf große Teile wiederzuerkennen: Auf den ersten Teil „Gegenwartsliteratur: Roman und Poetik“, der vorwiegend Einzelbesprechungen ehemaliger Writer in Residence des Max Kade Zentrums in St. Louis enthält, folgen Essays und Buchkritiken zu „Exildichtung: Verbannung und Rückkehr“, in denen neben Thomas Mann vor allem jener Schriftsteller im Mittelpunkt steht, für den Lützeler der Experte schlechthin ist: Hermann Broch. Beeindruckend ist das Wissen, über das der Literaturwissenschaftler im germanistischen Kernbereich „Klassik und Romantik: Von Goethe bis Heine“ verfügt, ebenso wie seine Kenntnisse zu den vorwiegend essayistisch-freien Texten der beiden abschließenden Kapitel „Europadiskurs: Literatur und Politik“ und „Zeitkritik: Nationale und globale Entwicklungen“ verblüffen. Hier wird eine zentrale Stärke von Autoren wie Lützeler, die im Hauptberuf „Tiefenforschung“ betreiben, besonders deutlich: die Fähigkeit, Verbindungen herzustellen nicht nur zwischen einzelnen Werken oder Autoren, sondern zwischen der Literatur und anderen Diskursen, vor allem dem politischen, wodurch die zentrale Bedeutung der Geisteswissenschaften für das bessere Verständnis des aktuellen Zeitgeschehens herausgestellt wird.

Alle Beiträge sind gut lesbar, weil Lützeler auf allzu viel Fachchinesisch verzichtet und die eigene Klugheit nicht unnötig zur Schau stellt. Nichts wirkt hier professoral oder eitel, die Texte überzeugen mit Sachlichkeit, Faktenwissen und Analytik. Man merkt, dass hier jemand schreibt, der sich nichts beweisen muss, jemand, der sich innerhalb der journalistischen Sphäre nicht erst mühsam Rang und Namen erschreiben muss, weil er anderswo bereits ein Zuhause hat. Alle Beiträge klingen daher unaufgeregter als so manch Vollzeit-Rezensenten-Kommentar, wohltuend macht sich auch der Verzicht auf hysterische Superlative bemerkbar, die man immer häufiger in Feuilletonbeiträgen findet. Stattdessen bieten die Texte erstaunlich viel Übersicht und Kontextualisierung – was man in Feuilletonbeiträgen leider zunehmend vermisst.

Der Band richtet sich ausdrücklich an den germanistischen Nachwuchs. Zur Gänze lesen werden ihn die Allermeisten wahrscheinlich nicht, dazu ist er schlicht zu umfangreich. Das muss auch nicht sein, das angefügte Personenregister ist ebenso hilfreich wie das Quellenverzeichnis, um zielgerichtet nach jenen Texten zu suchen, die den eigenen Interessen entsprechen. Nützlich als Anschauungsobjekt dafür, wie man – inhaltlich wie stilistisch – als (angehender) Wissenschaftler auch journalistisch tätig werden kann, ist der Band zweifellos. Ob dieses publizistische Engagement allerdings innerhalb des Fachs tatsächlich geschätzt wird und ob das in einem wissenschaftlichen Lebenslauf positiv wahrgenommen wird, sei dahingestellt.

Schwierig könnte es für den germanistischen Nachwuchs auch werden, Zeitungen und Zeitschriften zu finden, die ihre Texte veröffentlichen wollen – wenn sie denn heute noch so glücklich sind, eine fixe Anstellung mit Perspektive an einer Universität zu erhalten. Sowohl Journalismus als auch Geisteswissenschaften befinden sich in einer Krise. Das Geld wird immer knapper und die Konkurrenz immer größer. So wie das einst bei Lützeler selbst war, der von Hansres Jacobi und Rolf Michalis, denen er den Band gewidmet hat, gefragt wurde, ob er nicht einmal etwas für ihre Blätter schreiben wolle, das wird heute eher selten passieren.

Selbstverständlich aber wäre eine verstärkte Öffnung des Fachs in Richtung Publizistik beziehungsweise gehobener Publikums-Literaturkritik wünschenswert, wenn die Germanistik nicht darauf vertrauen möchte, als reine Editionswissenschaft ausreichend legitimiert zu sein, und sich im Diskurs der Gegenwartsliteratur nicht länger damit begnügt, alle möglichen Parameter rund um den eigentlichen Untersuchungsgegenstand – den literarischen Text – zu untersuchen, wie Autorenhomepages oder Klappentexte, sich aber kaum jemals literaturkritisch im engeren Wortsinn zu äußern.

Und auch dem Journalismus würde eine Re-Fokussierung auf den Inhalt, auf das „Kerngeschäft“, wohl nicht schaden, jedenfalls nicht, wenn man noch daran glaubt, dass das Feuilleton als Institution einer demokratisch-bürgerlichen Öffentlichkeit an sich Zukunft hat. Sich jene Vorzüge zunutze machen, die wissenschaftlich aktive Autoren bieten können, etwa Präzision, Detailwissen oder Kontextualisierung – wie das Lützeler vorzeigt –, wäre eine Möglichkeit für das Feuilleton, der Krise wirklich zu begegnen, anstatt dem aktuellen Gebot zu Oberflächlichkeit und dem allgemeinen „Gefällt-mir“-Hype hinterherzuhecheln. Am Ende würde von einem solch eng verzahnten, interagierenden Literaturdiskurs, der die Auseinandersetzung mit dem Text an sich wieder verstärkt in den Mittelpunkt rückt, auch die Literatur, Herz- und Verbindungsstück in der Trias aus Wissenschaft, Kritik und Literatur profitieren, so wie Lützeler sich das wünscht. Man kann sich diesem Wunsch nur anschließen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 2.2.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Paul Michael Lützeler: Publizistische Germanistik. Essays und Kritiken.
De Gruyter, Berlin 2015.
417 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783110427400

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