Der Anwalt der Unterdrückten

Bryan Stevenson hat mit „Ohne Gnade“ ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA vorgelegt

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Videos, in denen weiße Polizisten auf unbewaffnete Schwarze schießen, erschütterten Menschen rund um den Globus. Polizeigewalt gegen Schwarze fängt aber viel früher an, denn willkürliche Festnahmen und rassistische Vorurteile gehören in Amerika zum Alltag. Das zeigt ein Blick in die Gefängnisse des Landes: 2,3 Millionen Menschen sitzen in den USA hinter Gittern, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Die meisten von ihnen sind schwarz – darunter auch viele Kinder und Jugendliche. Schwarze werden fast sechsmal häufiger eingesperrt als Weiße. Sie haben in der Regel keinen angemessenen Rechtsbeistand, werden zu maßlosen Strafen ohne Bewährung verurteilt und verbringen oft Jahre in Isolationshaft.

„Es gibt das Vorurteil, dass Schwarze gefährlicher seien. Und wenn sie angeklagt sind, muss nicht der Richter ihre Schuld, sondern sie müssen ihre Unschuld beweisen. Und das ist unfair.“ Das schreibt Bryan Stevenson, geboren 1959 in Delaware, in seinem Buch „Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“. Er wuchs als Schwarzer in einer von Rassentrennung geprägten Umwelt auf. Seit seiner Jugend engagiert sich Stevenson gegen Rassismus und Diskriminierung und ist Gründer er „Equal Justice Initiative“, deren Direktor er bis heute ist. Außerdem ist Stevenson Harvard-Absolvent und Professor an der juristischen Fakultät der New York University. In zahlreichen Gerichtsverfahren hat er viele Unschuldige vor der Vollstreckung der Todesstrafe gerettet.

In „Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“ berichtet Stevenson detailliert über diese Fälle. Besonders spektakulär ist der des Todeskandidaten Walter McMillian. Der schwarze Kleinunternehmer war aufgrund falscher Beweise und erzwungener Aussagen 1988 in einem Mordprozess schuldig gesprochen worden. Dank des Einsatzes von Stevenson konnte er fünf Jahre später als rehabilitierter Mann den Todestrakt verlassen. Oder auch der Fall von Victoria Banks, die angeklagt wurde, ihr Neugeborenes getötet zu haben. Obwohl nie eine Leiche gefunden wurde und sie stets ihre Unschuld beteuerte, wurde sie zu 20 Jahren Haft verurteilt. Drei Jahre sitzt sie im Gefängnis, bevor Stevenson ihre Freilassung erreicht. Er konnte nachweisen, dass Victoria Banks aufgrund einer Sterilisation niemals schwanger gewesen ist.

Stevenson prangert aber nicht nur die Polizisten an, er sieht den gesamten Justizapparat betroffen. Die skandalösen Fehlurteile der Justiz sind Teil des systematischen Versuchs der Weißen, ihre Überlegenheit zu sichern. Seine Sichtweise ist nachvollziehbar – und erschreckend: 150 Jahre nach dem Verbot der Sklaverei und 50 Jahre nach dem Ende der offiziellen Rassentrennung ist der Rassismus und Hass gegenüber der schwarzen Bevölkerung – und anderen Minderheiten am Rande der Gesellschaft – noch immer derart stark ausgeprägt, dass er auf der Straße offen zur Schau getragen und vor Gericht auf zum Teil abenteuerliche Art und Weise ausgelebt wird. Das System der USA beschreibt Stevenson so: „Wir haben ein Justizsystem geschaffen, in dem man besser behandelt wird, wenn man reich und schuldig ist als arm und unschuldig. Wohlstand, nicht Wahrheit liegt etlichen Urteilen zu Grunde. Deshalb werden so viele arme Menschen unschuldig verurteilt.“

Stevenson, der von einigen wegen seines großen Einsatzes für die Unterdrückten „der amerikanische Mandela“ genannt wird, konzentriert sich in seinem faktenreichen Buch überwiegend auf die amerikanischen Südstaaten. Dort hat er selbst viel gearbeitet, und dort ist der Rassismus besonders ausgeprägt. Sein Wissen ist imposant, sein Erzählstil zugänglich wie ein guter Krimi.

So erschreckend seine Bestandaufnahme der USA auch ist, sein Buch macht auch Hoffnung. Seine Erfolge als Anwalt, die gute Arbeit seiner Organsiation „Equal Justice Initiative“ und die anschwellenden Proteste der Bevölkerung auch aus der Mittelschicht können als Vorzeichen einer Besserung gedeutet werden. Bevor sich etwas ändern kann, müssen Menschen aber zunächst begreifen: Stevensons Buch gibt hierzu eine wunderbare Gelegenheit.

Titelbild

Bryan Stevenson: Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer.
Piper Verlag, München 2015.
413 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783492057226

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