Theoretische Aufbrüche und Neueinsätze

Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe legen die erste deutschsprachige Einführung zum „Ecocriticism“ vor

Von Juliane Prade-WeissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Prade-Weiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die geistes- und kulturwissenschaftliche Betrachtung ökologischer Zusammenhänge firmiert auch im deutschen Sprachraum unter dem englischen Stichwort „Ecocriticism“, für das sich bislang kein ebenso einschlägiges deutsches Pendant gefunden hat. Der von Gabriele Dürbeck und Urte Stubbe herausgegebenen Einführung zum Thema geht es nicht darum, ecocriticism ins Deutsche zu übertragen, sondern um eine Bestandaufnahme, die einen Überblick bietet über die verschiedenen, bislang vor allem in Nordamerika etablierten Ansätze umweltorientierter Forschung in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Die Einführung ist ein Sammelband, keine Monografie, und trägt so der Pluralität der Schwerpunkte und Theorien Rechnung, die sich angesichts von Umweltverschmutzung, Artensterben und Klimawandel damit auseinandersetzen, dass Menschen im Wechselbezug zur Natur stehen und sie als ihre Umwelt formen.

Im ersten von drei Teilen des Bandes gewähren acht Beiträge einen je knappen und informativen Einblick in relevante theoretische Perspektiven und ihre Schlüsselliteratur. Dabei fällt das Fehlen eines Autoren-Verzeichnisses auf, das die oft erläuterte transatlantische Differenz in Sachen Umweltperspektive einsichtiger machen würde, aber wohl auch auf ein zentrales Problem des ecocriticism hinwiese: Er versteht sich als interdisziplinärer Ansatz, der die geistes- und kulturwissenschaftliche Reflexion von Begriffen, Prämissen und historischem Kontexten zu einem Feld ergänzt, das sonst den Natur-, in geringerem Maß auch den Sozialwissenschaften überlassen ist. Denen aber scheint solche interdisziplinäre Ergänzung keineswegs zu fehlen. Wie in der Einführung von Dürbeck und Stobbe bleibt ecocriticism oft eine Debatte allein der Literaturwissenschaften: Neun der 20 Autoren und Autorinnen des Bandes lehren englischsprachige Literaturen, weitere neun Germanistik. Dabei haben naturwissenschaftliche wie gesellschaftliche Debatten eine Reflexion ihrer Vorannahmen und Begrifflichkeiten dringend nötig, wie der erste Teil des Bandes aufweist: Die in der Geologie und Biologie virulente Frage etwa, ob das gegenwärtige Erdzeitalter seinem dominierenden Faktor entsprechend in „Anthropozän“ umbenannt werden sollte, verharrt – mal staunend, mal schockiert, mal fatalistisch – in der Zentrierung auf den Homo sapiens. Dieser Zentrierung auf ein bestimmtes Verständnis des Menschen (das sich einer näheren Analyse zudem als Paradigma des kolonialisierenden westlichen Mannes zeigt) und der mangelnden Rücksicht auf andere Formen des Lebens entspringt aber ein Großteil der Probleme, die in Geologie, Biologie und anderen mit Ökologie befassten Wissenschaften diskutiert werden. Weil sie meist unproblematisch vom Menschen ausgeht, ihn als Erkennenden und schädlich oder nützlich Intervenierenden in den Mittelpunkt rückt, ist Empirie eben nicht alles. Ebenso wenig taugt die in Populärkultur und Politik beschworene je eigene Naturerfahrung zur Erfassung mikroskopischer oder globaler Zusammenhänge. Not tut gerade die Abstraktion vom eigenen Blickwinkel, die nur durch Reflexion möglich ist.

Ebenso wichtig ist nahezu allen theoretischen Ansätzen des ecocriticism, dass die notorische Entgegensetzung von Natur und Kultur nichts ist als eine nostalgische Verneinung des Problems, das sich tatsächlich stellt: Kulturen und Techniken auszubilden erscheint als Natur des Lebewesens Mensch, der damit nicht allein sich formt, sondern auch die ihn umgebende belebte und unbelebte Natur zur Umwelt gestaltet. Menschen sind keineswegs die einzigen Lebewesen, die solches tun, bei anderen aber wird die Gestaltung konventionell zur Natur gezählt. Die Frage, ob von agency, also von absichtsgeleitetem, wirkmächtigem Handeln allein beim Menschen die Rede sein kann oder nicht auch bei anderen Tieren und sogar anderen Lebensformen und Wirkungszusammenhängen, gehört darum zu den im ecocriticism zentralen. Ein Grund, warum vor allem Literaturwissenschaften mit ihm befasst sind, liegt darin, dass die Literatur in ihren verschiedenen Verfassungsformen (geschriebene wie orale, Theater et cetera) ein etabliertes Mittel ist, Wirkungszusammenhänge und Belebtheit in anderer als gewöhnlicher, szientistisch oder philosophisch untermauerter Form zu denken, nämlich fiktional. Selbst in der Frage der Kommunikation durch Zeichen steht die Exklusivität durchaus in Frage, die der Homo sapiens sich als Vermögen von Sprache und Vernunft selbst zurechnet.

Die Beiträge zu verschiedenen Ansätzen des ecocriticism präsentieren sich sämtlich als theoretische Aufbrüche und Neueinsätze, die antreten, ein für die Geisteswissenschaften neues Feld zu bestellen. Dabei ist die Frage der Unterscheidbarkeit zwischen Menschen und (anderen) Tieren, etwa anhand von logos oder ratio, Sprache und Vernunft, eine der ältesten in der Philosophie. „Natur“ ist einer ihrer ältesten und komplexesten Begriffe. Er liegt nicht zuletzt dem (Miss-)Verständnis der Natur zugrunde, gegen das der ecocriticism sich wendet: als ausbeutbare Ressource in der Wirtschaft und Technik, in der Naturwissenschaft als vom Menschen beherrschter Gegenstand. Der kontinuierliche Zusammenhang einer „Landschaft“ ist eine Auffassung von der Erdoberfläche und ihren Bewohnern, die maßgeblich in der Literatur und Malerei der Romantik geformt wurde – und zwar nicht allein der amerikanischen, wie manche Beiträge nahelegen, sondern ebenso sehr der europäischen. Beiträge des zweiten Teils im Band, der deutsche Einsätze ökologischen Denkens kartographiert, sowie des dritten, der dem Umweltdenken in Literatur, Film und bildender Kunst nachgeht, tragen diese Erwägungen nach. Der zweite Teil weist zu Recht auf den Bruch hin, den die Vereinnahmung des Naturdiskurses für die nationalsozialistische Ideologie im deutschsprachigen Raum bedeutete.

Der Band porträtiert und reproduziert in seiner Gliederung jedoch das Problem, dass theoretische Ansätzen des ecocriticism zumeist nichts davon wissen wollen, dass viele der Fragen, die sie aufwerfen, bereits in der traditionellen wie modernen Ästhetik, Philosophie und Literatur bedacht und erkundet wurden – als schwierige und nicht durch politische Programme oder individuelles Handeln zu beantwortende. So ist Anthropozentrismus keine bloß unbedachte Perspektive, sondern die begriffliche Fassung des Umstands, dass Menschen in der Frage nach dem Miteinander mit anderen Lebewesen parteiisch sind. Darum gibt es im ebenfalls neu erschienenen Lexikon der Tier-Mensch-Beziehungen von Arianna Ferrari und Klaus Petrus zwar die Lemmata „Anthropozentrismus“ und „Zoophilie“, aber keines zu „Theriozentrismus“: Menschen können Tiere mögen, über sie nachdenken und sogar lieber Tiere sein wollen. Doch wie Friedrich Nietzsche zu bedenken gibt, haben sie keine Ahnung von dem, was sie da wollen, denn sie können es nicht als (anderes) Tier wollen. Gerade die Reflexion der Pluralität von Lebensformen fordert das Eingeständnis, dass Menschen eine menschliche Perspektive haben.

Ansätze des ecocriticism, die sich als posthuman verstehen, da sie nicht den Homo sapiens in den Mittelpunkt rücken, müssten darum den Anspruch reflektieren, in der menschlichen Sprache für andere als menschliche Lebewesen und sogar unbelebtes Seiendes mitzusprechen. Eine solche Reflexion fehlt im größten Teil des theoretischen Diskurses des ecocriticism und folglich auch in den entsprechenden Beiträgen dieses Bandes. Dabei hat die Literatur (sie dominiert darin) seit der Antike Gattungen wie die Bukolik ausgebildet, in denen keineswegs nur Natur dargestellt wird, sondern die Sprache daraufhin untersucht wird, inwieweit sie dazu taugt, andere als Menschen mit zur Sprache zu bringen. Der genuine Beitrag der Literatur und der Künste zum ecocriticism liegt in der Befragung von Grenzen (wie zwischen menschlichem, tierischen und gegenständlichen), die in der Begriffssprache der Naturwissenschaften und Theorie gezogen werden. Diesem Potenzial wird im Band zwar ebenso breiter Raum eingeräumt wie im ersten Teil den theoretischen Perspektiven, die säuberliche Trennung von Theorie und Kunstbetrachtung jedoch lässt letzte als Nachtrag und bloße Anwendung von Theorien erscheinen. Dabei machen die Analysen auf triftige Weise deutlich, dass die Erwägung dessen, was die Griechen oikos nannten und woher Ökologie wie ecocriticism ihren Namen haben – nämlich des eigenen „Aufenthaltes“, der „Wohnung“ –, seit jeher Geschäft der Künste ist. Es ist eben nicht allein das Feld der Ökonomie, die von anscheinend unabänderlichen Gesetzen des Marktes geleitet den oikos lediglich als „Haushalt“ versteht, dem zuliebe es gilt, sich die ihn umgebende Umwelt zunutze zu machen – so sehr, dass nicht wenige erwägen, statt vom „Anthropozän“ vom „Kapitalozän“ zu sprechen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe (Hg.): Ecocriticism. Eine Einführung.
Böhlau Verlag, Köln 2015.
315 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783412501655

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