Experimente mit der Gerechtigkeit

Zum fünfundzwanzigsten Todestag des nobelpreiswürdigen Nicht-Nobelpreisträgers Friedrich Dürrenmatt

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Dürrenmatt und die Schweizer Institutionen der Literatur

Er war ein Meister der kriminalistischen Fallgeschichte, ein tragikomischer Held tragikomischer Dramen, deren Fallhöhe ins Unermessliche steigt. Ins Unermessliche steigt sie noch dazu immer gerne gerade dann, wenn dem Leser oder der Theaterbesucherin zum donnergleich schallendem Lachen ist. Denn so, lachend, lässt sich das Komische am Tragischen, das Groteske und Aberwitzige, das abgrundtief schwarz Humoreske und last, but not least, das Zufällige noch am Ehesten ertragen. Der Zufall aber übernimmt nachgerade eine erzählkonstituierende wie dramenrelevante Bedeutung für das Oeuvre, weil nach Dürrenmatt der Zufall allgegenwärtig ist. Der Zufall ist jederzeit bereit, um die Ecke zu biegen und alles dann doch zum Guten zu wenden, wenn niemand mehr darauf zu hoffen wagte. Gerade dem Komissär Bärlach etwa, der ein naher Verwandter des Komissärs Studer aus Friedrich Glausers Krimis ist, hilft der Zufall bei der erfolgreichen Bearbeitung seiner Fälle intensiver, als es logisches Kalkül und vernünftiges Abwägen jemals zustande brächten.

Zufall ist innerhalb der Kriminalromane, Hörspiele und Dramen, auch der essayistischen Überlegungen Friedrich Dürrenmatts das A und O der Textarchitektur und nicht etwa Schicksal, Fatum, Bestimmung, eben kein Zufall, sondern Notwendigkeit. Damit zielt man eher auf einen Standpunkt und Erzählgrund, der von Max Frisch eingenommen wurde. Und Max Frisch war bekanntlich dem wenig Jüngeren Vorbild, Weggefährte und Widersacher zugleich respektive nacheinander.

Ein wenig hat man den Eindruck, dass es bei den Dürrenmatt- und Frischlesern ähnlich unterschiedlich zugeht wie bei den Thomas Mann- und Heinrich Mann-Lesern: Mögen sie die Texte des einen, sind sie denen des anderen eher nicht so zugetan. Und für mich gilt, hätte ich die Wahl, stets Dürrenmatt vor Frisch und Heinrich vor Thomas Mann. Aber dies sei nur so nebenbei vermerkt.

Dürrenmatt war ein hartnäckiger Essayist, Spürnase für Fälle höchster Ungerechtigkeit, die sich selbstverständlich immer gerade dann einzustellen pflegen, wenn es höchst gerecht zugehen soll.

Er hockte zu Lebzeiten oft hoch oben auf dem Berg in Neuchâtel, mit Blick auf einen traumhaft schönen See, und schrieb, umgeben von fast ausschließlich französisch sprechenden Eidgenossen, Deutschsprachiges, was rasch in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurde und weltweit bis heute nicht aufgehört hat zu imponieren. Wie viele international aufgestellte Regisseure haben sich zum Beispiel von den Prosafassungen und Drehbüchern zum „Versprechen“ respektive „Es geschah am hellen Tag“ inspirieren lassen, zu Variationen, Widersprüchen, anderen Fassungen, die nicht weniger klar ihre Zeit topographisch rückgebunden so exakt beobachten, dass die Beobachtung zur allerschärfsten Kritik, auch Moralkritik wird.

Friedrich Dürrenmatt starb heute vor fünfundzwanzig Jahren und schenkte der Schweiz mehr als bloß einen seinerseits bereits beachtlichen und wertvollen Nachlass. Mehrere hunderttausend Franken schwer war der und das schwäbische Marbach hatte schon zu Lebzeiten neben anderen Archiven Interesse angemeldet. Doch Dürrenmatt ließ sich nicht beirren und beharrte auf einer Schenkung an das Land, in dem er geboren worden war. Freilich knüpfte er eine Bedingung, eine typisch dürrenmatteske, an diese Schenkung: Er ließ sich nämlich versprechen, dass die Schweiz mit diesem Nachlass ein Institut gründen würde, das jenem in Deutschland, in Marbach eben, vergleichbar sein solle. Und so entstand das Schweizer Literaturarchiv mit Sitz in Bern. Der zweite Nachlass, der diesem Institut nach dem von Friedrich Dürrenmatt überantwortet wurde, das war, nebenbei bemerkt, jener des Schweizer Schriftstellers Hermann Burger, der nicht weniger geschickt im architektonischen Entwerfen von Wortwelten war, die in einer produktiven Spannung zu realen Topographien und ihrem Aberwitz standen, als Dürrenmatt selbst.

Im Schweizer Literaturarchiv (SLA), das seinen Sitz in Bern hat, sind nun also Dank des berühmten Schweizers, der es mit seinem Land nicht leicht hatte, so wie die Schauspieler seiner Dramenaufführungen es mit ihm nicht leicht hatten, sozusagen Heterotopien der Bibliophobie entstanden und Dorados textgenetischer Gourmets. Es finden Sich Vorlässe, etwa von Christoph Geiser, und Nachlässe dort. Es finden sich auch Vorlässe dort, die mittlerweile leider zu Nachlässen wurden, da die einst lebendigen Autoren, welche dem Archiv bereits Quellen und Fassungen und vieles mehr zur Verfügung stellten, obwohl sie selbst noch darauf Zugriff nehmen mussten, mittlerweile verstorben sind. Urs Widmers Werke zählen dazu.

Doch damit nicht genug, wer so geschickt und unermüdlich eng gestrickte Fallgeschichten entwerfen konnte wie Dürrenmatt, dem wird es auch gelingen, posthum dem zu Lebzeiten noch verantworteten Literaturhort noch einen weiteren hinzuzufügen. Tatsächlich findet sich in Neuchâtel, angegliedert an das ehemalige Wohnhaus des Meisters, das Centre Dürrenmatt, in dem alle zwei Jahre eine Sommerakademie zu besonderen Aspekten gegenwärtiger Literatur tagt.

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sitzen dann im vom Architekten als Reminiszenz an den Autor in die Erde und nicht in den Himmel hinein gebauten Turm, umgeben von Bildern Friedrich Dürrenmatts, darunter auch eines, das den Titel trägt: „Zornige Zentauren“, und lesen und diskutieren und harren der Zufälle, die da kommen mögen, um bei einer vorläufig gültigen Interpretation hilfreich zu sein. Oder auch nicht. Gelegentlich steigt wohl auch der Eine oder die Andere hinauf in die Sixtinische Kapelle, von einem Bedürfnis gepackt, dass bereits Brechts Baal dazu anregte, den Abort als wichtigsten Ort des Menschen zu lobpreisen. Dürrenmatts Toilette freilich, bemalt und bunt und einladend, die er selbst eben als Sixtinische Kapelle bezeichnete, obwohl oder vielleicht auch gerade weil er durchaus protestantisch geerdet war, ist von einem anderen Kaliber. Darin ähnelt sie seinem literarischen Werk, das ohne das epische Theater undenkbar wäre, aber anders als dieses Vorbild nicht mehr an politische und gesellschaftliche Umwälzungen im Namen der Gerechtigkeit mahnt. Stattdessen münzt es die Fallstricke solchen Sehnens trickreich in Sprache um.

Der Verkehr Wissbegieriger und Lesefreudiger zwischen diesen beiden Schweizer Institutionen der Literatur, die Gründungsakte Dürrenmatts darstellen, ist ein reger, um nicht zu sagen, ein nicht enden wollender.

Dürrenmatt und die Stoffe, aus dem Romane und Dramen flossen

Seine Kriminalromane zählen immer noch zum Kanon und zum Kanon der Schulliteratur, obwohl er selbst von deren Qualität nicht besonders überzeugt war. Sie waren ihm vor allem Geldverdien-Projekte wie die Hörspiele und Drehbücher. Sie sind Vieles und können Vieles werden in der Phantasie des Lesers oder der Leserin. Aber sie sind vor allem wohl auch Erzähllabors um moralische Statements herum, um deren unmoralische Kehrseite zu entlarven. Der „Richter und sein Henker“ etwa lässt sich als Versuchsanordnung um die Frage herum lesen, ob es moralisch oder auch nur juristisch zulässig sein kann, Jemanden für einen de facto nicht begangenen Mord zu bestrafen, den man für begonnene Verbrechen nicht zur Rechenschaft ziehen konnte, für einen Mord noch dazu, den die Exekutive zu verantworten hat. Sein Kriminalroman „Der Verdacht“, der zu meinen Zeiten als Schülerin fester Bestandteil des Lehrplans an Gymnasien war, lässt einen schwerkranken Kommissär Bärlach schier verzweifeln, als er feststellen muss, dass die ehemaligen Opfer des Nationalsozialismus, sofern sie die bestialischen medizinischen Menschenversuche überlebten, ihren damaligen Peinigern nach wie vor ausgesetzt sind, weil diese mittlerweile Schönheitschirurgen oder ähnliches sind. Bärlach wird damit zu einem Zorro der Entrechteten, selbst schon kaum noch mehr als eine Erscheinung, und schafft ein bisschen Gerechtigkeit, weil ihm der Zufall hilft.

Dürrenmatts Drama „Der Besuch der alten Dame“ spielt mit den Elementen der griechischen Tragödie und der Frage, ob Rache außer Zerstörung Irgendetwas Irgendjemandem bringen kann. Diese Frage lässt sich, wenn überhaupt mit ja, dann nur so mit ja beantworten, dass sie dem ursprünglichen Täter, an dem das ursprüngliche Opfer sich rächen will, neben dem Tod noch die Möglichkeit der Katharsis bringt. Denn Ill will seinen Tod entschieden, sobald er den Gedanken an seine doppelt schwere Hinterhältigkeit im Gewande der Moral nur zulassen kann. Ill will ihn vielleicht sogar als zu späten Liebesbeweis für eine zwar steinreiche, aber auch versteinerte Claire Zachanassian. Die hat zwar die Probe aufs Exempel gewonnen, dass Geld die moralischsten Kleinbürger zur Verleugnung ihrer Ideale bringt, aber damit auch jede Möglichkeit der (selbst-)liebenden Selbstverwirklichung diesseits überstandener Vergewaltigung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit verspielt.

Das Drama lässt sich so lesen, als wäre der heimlichste Wunsch dieser steinreichen Spielführerin genau jener gewesen, dass am Ende tatsächlich Geld die Moral dieser Kleinbürger nicht erschüttern könnte, die sie vor Jahrzehnten mittels eines Meineids und mehrerer weiterer Abscheulichkeiten in ihr Recht zu setzen versucht hatten.

Sein Drama „Die Physiker“ schließlich arbeitet mit doppelten Böden und mehrfach überzogenen Spannungsbögen. So wie er „Den Besuch der alten Dame“ für ‚die Flickenschild‘ geschrieben hatte, so „Die Physiker“ für ‚die Giese‘. Und da ‚die Giese‘ damals in etwa so groß und bedeutend war wie heute ‚die Talbach‘, erklärt es sich von selbst, dass hier der vermeintlich letzten Pointe immer noch eine weitere Pointe zu folgen hat.

Unmissverständlich macht dieses Drama klar, dass es keine Nische (mehr) gibt, in die das abgrundtief Böse, das heutzutage (immer noch) in der Gestalt technokratischer und darin menschenverachtender Aufrüstungen und Cyborgs erscheint, nicht eindringen könnte. Ja, schlimmer noch: Flüchtet man wie die Physiker in die Irrenanstalt aus der Welt, so liefert man sich am Ende nur umso zielstrebiger der gnadenlos zynischen und  unschönen Seite eben dieser vermeintlich hinter sich gelassenen Welt aus.

Es gibt so viel zu entdecken in diesem Werk des großen Schweizer Schriftstellers. Immer noch. Die bevorstehenden Weihnachtsferien eröffnen dafür möglicherweise einen angemessenen Rahmen. Die fünfundzwanzigste Wiederkehr seines Todestages mag dabei der angemessene Anlass sein. Hüten sollte man sich allerdings vor allzu biographisch beseelten Nekrologen. Denn Dürrenmatt selbst sah Schreiben nicht als Ausdruck oder Therapie gar eigener ‚Armseligkeit‘. In seinen als „Labyrinth. Stoffe I-III“ betitelten Reflexionen heißt es dazu nämlich:

Es ist immer wieder von irgend jemandem versucht worden, sein eigenes Leben zu beschreiben. Ich halte das Unterfangen für unmöglich, wenn auch verständlich. Je älter man wird, desto stärker wird der Wunsch, Bilanz zu ziehen. Der Tod rückt näher, das Leben verflüchtigt sich. Indem es sich verflüchtigt, will man es gestalten; indem man es gestaltet, verfälscht man es: So kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen, manchmal große Dichtungen – die Weltliteratur beweist es –, leider oft für bare Münze genommen.[1]

In diese Weltliteratur aber hat sich Dürrenmatt wie kein anderer mittels der Geschichte seiner „Stoffe“ eingeschrieben. Diese werden umso mehr in ihr Recht gesetzt, je weniger der Leser oder die Leserin psychologisiert. Dürrenmatt war nicht Dali und sein Verdienst – weder mit noch gegen Freud – das, sein Leben nicht auf die Couch eines Psychoanalytikers getragen zu haben. Vielmehr liegt es darin, poetische und dramatische Versuchsanordnungen im Namen der Gerechtigkeit erdacht und erschrieben zu haben, welche die Unmöglichkeit tatsächlicher Gerechtigkeit nicht als billiges Argument gegen die Idee von oder die Sehnsucht nach Gerechtigkeit missbrauchen.

Utopien von Friedfertigkeit und Liebe, Gerechtigkeit und Empathie haben mit Immanuel Kants Gottesidee aus der praktischen Vernunft gemein, dass sie allein als Gedachtes so schön und so unwiderstehlich sind, dass sie nicht auch noch wirklicher Räume bedürften, wohl aber der Grotesken, ohne deren dramatische Präsenz sie nicht als Abwesendes vorstellbar und zu begrüßen wären. Beides natürlich mit und gegen Böll „nicht nur zur Weihnachtszeit“.

[1] Friedrich Dürrenmatt. Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden. Band 28. Diogenes Verlag. Zürich 1998, S.13.