Alt, aber nicht veraltet

Franz K. Stanzel blickt in „Die Typischen Erzählsituationen 1955–2015“ auf die „Erfolgsgeschichte einer Triade“ zurück

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor einigen Jahren meldete sich der österreichische Emeritus der Literaturwissenschaft Franz K. Stanzel zu einem Experiment am Institut für Psychologie seiner Grazer Heimatuniversität an. Es ging um die „Veränderung der kognitiven Plastizität“ des Gehirns im Alter. Der Proband wurde abgelehnt. Als zu alt für den Versuch galt der heute 92-Jährige. Dumm gelaufen? Mitnichten. Stanzel machte sich ans Werk und begann eine Geschichte zu schreiben: der seiner eigenen Theorie, die er vor genau 60 Jahren erstmals der Öffentlichkeit vorstellte. Jeder Schüler weiß heute davon, schon in der Mittelstufe. Mit Stanzels Typenkreis der Erzähltheorie haben viele studentische Generationen zwischen auktorialer, personaler und Ich-Erzählsituation zu unterscheiden gelernt. „Die typischen Erzählsituationen im Roman“ (1955) und „Theorie des Erzählens“ (1979), in der 8. Auflage 2008 erschienen, gehören zu den wenigen Long- und Bestsellern der Literaturwissenschaft, sie werden in narratologischen Handbüchern genannt, auch wenn viele von Stanzels Prämissen durch das flexiblere narratologische Modell von Gérard Genette weitgehend überholt worden sind.

Die Absicht von Stanzels Jubiläumsbuch „Die Typischen Erzählsituationen 1955-2015. Erfolgsgeschichte einer Triade“ über eine der wirkungsvollsten und langlebigsten Erzähltheorien ist eine gute Absicht, die Umsetzung ist, altersgemäß, nostalgieverdächtig, aber mit so viel Humor und auch Selbstironie verfasst, dass es wohl beckmesserisch wäre, hier stilistisch nachzufeilen, etwa im Einführungsteil. Darüber kann man getrost hinwegsehen. Allerdings ist immer wieder ein gewisser Teil an Selbstverliebtheit im Spiel, die dem verdienten Stolz über die einflussreiche eigene Theoriebildung einen bizarren Beigeschmack gibt. Wenn der Autor etwa seine Triade der Erzählsituationen in den Status von „Drillingen“ erhebt, von „Geburtswehen“ spricht und seine ‚Kinder‘ seitenlang aus der Vergangenheit erzählen lässt (sprich: sich in erschöpfenden Selbstzitaten ergeht), dann klingt das auf einmal nicht mehr nur lustig und auch nicht lehrreich, sondern belehrend, wie von einem altväterlichen Katheder aus erzählt.

Freilich ist Stanzel so weit Herr der eigenen Texte genug, dass er auch diese panegyrischen Ausflüge kunstvoll zur Illustration einsetzt. Es geht um die Geschichte einer Theorie, die das Glück hatte, von ihrem Erfinder über sechs Jahrzehnte begleitet zu werden. Und dieser Erfindertopos hat ja in der Geschichte der Lobreden auf Künste und Wissenschaften eine reiche Tradition, schon bei Plutarch und Xenophon.

Wer sich auf das Selbstexperiment des Erfinders mit seiner alten, aber nicht veralteten Theorie einlässt, bekommt einen Einblick in Zusammenhänge, die sich lohnen. Die Auseinandersetzung mit Käte Hamburgers „Logik der Dichtung“ (1959), die Prägung durch René Wellek, einen der ersten wichtigen Nachkriegstheoretiker der Literaturwissenschaft, die selbstkritische Arbeit am Typenkreis, die Verarbeitung der Rezensionen, die muntere Diskussion um die Besonderheiten der „Erlebten Rede“, die späteren Experimente mit Joyces „Ulysses“ – all das gehört zur Geschichte der Erzähltheorie. Die manchmal geharnischten, manchmal überschwänglichen Stimmen der Kritik hat Stanzel übrigens in sogenannten „Found Poems“ zu einem Chor montiert, in dem der Humor vorherrscht: „Frank [sic!] Karl Stanzel pontificates / At Karl-Franzens University Fiction studies / Along many fronts of the human dimension / More abstruse or more technical concerns / The German-ness / Good pedagogy but / Dull theory“.

An der Praxis der Erzählanalyse haben solche Kritiken nichts geändert. Stanzels Buch ist, nach dem Band „Welt als Text“ (2011), eine weitere Festschrift aus eigenen Händen, gewidmet dem eigenen Theorieprodukt, das Gegenstand und Methodik, Erzählinhalt und Erzählmotor zugleich ist. Und zum Thema Alter: Stanzels Erinnerung an das Verfassen von Vorlesungsschriften als Jungordinarius um 1960 liefert eine wunderbare Wissenschaftsanekdote, die gut in Friedrich Kittlers oder Hans Blumenbergs Zettelkasten gepasst hätte. Damals, das Internet oder gar WLAN waren in weiter Ferne, hantierte man noch mit Diktiergerät und Mikrofon. Mit Wolfgang Iser wetteiferte Stanzel darum, wie man den Stoff besser für Vorlesungen diktieren konnte, mit einem Gerät mit langem Kabel (was weiträumige Bewegungen erlaubte) oder einem mit kurzem Kabel (was einen an den Schreibtisch band). Welches Kabel der Zeichnung des ersten Typenkreises diente, kann man wohl leicht erraten.

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Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen 1955-2015. Erfolgeschichte einer Triade.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2015.
187 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783826057816

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