Die Verhandlung jüdischer Identität im österreichischen Kontext

Über Andrea Reiters Studie zu „Contemporary Jewish Writing. Austria After Waldheim“

Von Holger EnglerthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Englerth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrer Studie „Contemporary Jewish Writing. Austria After Waldheim“ setzt sich Andrea Reiter mit der Herausbildung eines neuen jüdischen Selbstverständnisses in Österreich auseinander. Dabei fokussiert sie jüdische SchriftstellerInnen, FilmemacherInnen, Intellektuelle und ihre Verhandlung beziehungsweise Darstellung – Reiter verwendet im Englischen die Begriffe „to perform“ respektive „performing“ – von jüdischer Identität. Die Autorin untersucht dabei sowohl literarische Werke als auch filmische und elektronische Medien wie Facebook oder AutorInnen-Homepages sowie traditionellere Publikationsformate wie Zeitungen und Zeitschriften. Durch die Analyse dieser so verschiedenartigen Medien beziehungsweise Publikationen aus den letzten 25 Jahren entwirft Reiter ein ebenso komplexes wie differenziertes Bild des neuen jüdischen Selbstverständnisses einer jüngeren Generation in Österreich.

Das Buch gliedert sich in vier größere Kapitel. Ausgangspunkt und Hintergrund für die Analyse ist – wie bereits der Untertitel verrät – die sogenannte Waldheim-Debatte. 1986 stellte die Österreichische Volkspartei (ÖVP) Kurt Waldheim, den früheren Generalsekretär der Vereinten Nationen, als Präsidentschaftskandidaten auf. Noch vor dem eigentlichen Wahlkampfbeginn stand Waldheims Kriegsvergangenheit im Fokus des öffentlichen Interesses. Journalistische Nachforschungen zeigten, dass Waldheim seit 1938 Mitglied einer SA-Reiterstandarte sowie des nationalsozialistischen deutschen Studentenbundes war und sich in den Jahren 1942/43 an Einsätzen in Saloniki und Podgorica beteiligt hatte. Angesprochen auf seine Kriegsvergangenheit berief sich Waldheim in Interviews und öffentlichen Äußerungen immer wieder auf seine „Pflichterfüllung“. Waldheims Umgang mit seiner Kriegsvergangenheit war dabei kein Einzelfall, sondern geradezu symptomatisch für die Haltung vieler ÖsterreicherInnen. Ein dominanter Opferdiskurs und das Verschweigen des Geschehenen waren lange Zeit Teil des österreichischen Selbstverständnisses.

Reiter argumentiert im ersten Kapitel, wie etwa auch Matti Bunzl (2004) und Matthias Beilein (2008), dass die Waldheim-Affäre „constituted a sea change in Jew’s self-perception in Austria“. Mit der Debatte um Waldheims Kriegsvergangenheit fand eine Auseinandersetzung mit Österreichs nationalsozialistischer Vergangenheit und seiner Erinnerung an den Holocaust im öffentlichen Diskurs statt. Anschaulich illustriert die Autorin die Auswirkungen der Waldheim-Affäre auf die drei im öffentlichen Diskurs prominentesten jüdischen Holocaust-Überlebenden: Leon Zelman, Simon Wiesenthal und Bruno Kreisky. Deutlich wird in Reiters Ausführungen, dass sich diese sehr unterschiedlich zu den Ereignissen beziehungsweise zur Figur Waldheims positionierten und dabei ein jeweils eigenes (österreichisches) jüdisches Selbstverständnis artikulierten. Viel kritischer als die ältere Generation jedoch opponierte die jüngere: „When the younger Jews in Austria embraced their Jewish identity in protest against Waldheim and his supporters, they did so in a public way that put them at odds with the survivor generation, who maintained that the most effective defence against anti-Semitism was to avoid any action that could trigger it.“

Demonstrationen und öffentliche Kundgebungen gegen Waldheim wurden vor allem von der jüngeren Nachkriegsgeneration getragen. Eine kritische Plattform bildete sich etwa um den vom Autor Doron Rabinovici mitbegründeten Verein „Republikanischer Club – Neues Österreich“.  Die Initiative, die bis heute besteht, richtet sich gegen Antisemitismus und Rassismus und gibt dem ‚anderen Österreich‘ eine Stimme.

Ausgehend vom national-historischen Kontext analysiert Reiter im zweiten Kapitel ihrer Studie sogenannte „Jewish Places“. Den Begriff „place“ versteht sie in Anlehnung an die Humangeografin Doreen Massey als „meeting places“ und stellt fest: „In this book I am not concerened with meeting places for Jews themselves, such as places of worship. I am interested in the place where social interchange occurs between Jews and non-Jews“. Die Autorin diskutiert exemplarisch etwa das jährlich stattfindende jüdische Straßenfestival, das jüdische Museum, das Wiener Kaffeehaus, dessen lange Tradition eng an die jüdische Kultur und Geschichte gebunden sind; aber auch mediale Orte wie Zeitungen und Zeitschriften („Illustrierte Neue Welt“, „Das Jüdische Echo“ oder „nu – Jüdisches Magazin für Politik und Kultur“) und virtuelle wie Facebook, Weblogs oder Homepages werden in die Analyse einbezogen. Besonders neue elektronische und soziale Medien geben der jüngeren Generation die Möglichkeit, ihr AutorInnen-Profil in der Öffentlichkeit mitzugestalten und an aktuellen (politischen, kulturell-gesellschaftlichen) Diskussionen aktiv und zudem unmittelbarer, als es etwa in Printmedien möglich ist, teilzunehmen.

Im dritten Kapitel mit dem Titel „Simulation Spaces – Performing the Jew in the Text“ wendet sich Reiter literarischen und filmischen Werken zu. Sie konstatiert: „What I propose to do here is to demonstrate the ways in which the (auto)biographical text serves these Jewish writers and filmmakers in Austria as an area on which to ‚perform‘ the Jewishness“. Literarische Werke von AutorInnen wie Robert Menasse, Anna Mitgutsch und Doron Rabinovici sowie filmische Arbeiten, etwa der Filmemacherin Ruth Beckermann, werden exemplarisch herangezogen, um die Verhandlung jüdischer Identität nachzuzeichnen.

Reiter gelingt mit „Contemporary Jewish Writing“ eine beachtenswerte und überzeugende Studie, in der sie sich dem neuen jüdischen Selbstverständnis einer jüngeren Generation im gesellschaftlichen und kulturellen Leben Österreichs widmet – zusammengeführt werden ihre Ergebnisse nochmals im letzten Kapitel des Buches („Conclusions – The Chutzpah of Austrian Jews“). Die Autorin analysiert in ihrer Studie eine Vielzahl an Quellen und bezieht darüber hinaus Interviews mit ein, die sie mit ausgewählten AutorInnen respektive der Filmemacherin Ruth Beckermann führte. Das Buch ist nicht nur wegen der umfangreichen Recherchen seiner Autorin äußerst lesenswert, sondern auch wegen der klaren und komplexen Analyse der Materialien. Aufbauend auf den spezifisch nationalen, historisch-politisch-österreichischen Kontext, der zu Beginn dargelegt wird, werden theoretische Konzepte und Theoreme, die später in der Analyse Anwendung finden, eingeführt und kontextualisiert. Wer über Österreich hinaus mehr über jüdisches Selbstverständnis der Gegenwart lesen möchte, dem sei der Sammelband „Jewish Identities in Contemporary Europe“ nahegelegt.

Titelbild

Andrea Reiter (Hg.): Contemporary Jewish Writing. Austria After Waldheim.
Routledge, Oxford 2013.
244 Seiten, 125,37 EUR.
ISBN-13: 9780415659451

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