Einblick in die Greueltaten

„Die Menschheit hat den Verstand verloren“: Astrid Lindgren als Verfasserin eines Kriegstagebuchs

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Möglicherweise enthält dieses Kriegstagebuch unverhältnismäßig viel über das Vorgehen der Deutschen, was daher kommt, dass unsere Hauspostille die Dagens Nyheter ist, die antideutscher ist als irgendeine andere Gazette und keine Gelegenheit auslässt, deutsche Grausamkeiten anzuprangern. Dass die Grausamkeiten wirklich vorkommen, ist inzwischen über jeden Zweifel erhaben. (Tagebucheintrag vom 4.4.1944)

Die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren, der Welt als Kinderbuchautorin bekannt, ist von jeher ein politischer Mensch gewesen. In ihrem Kriegstagebuch wird sie als wache Zeitzeugin erfahrbar, die voller Empathie, selbst für den Gegner, die Zeitläufte beobachtete, das Elend der Kriegsfolgen in den Blick nahm und beschrieb, sich für die Verfolgten und Verstoßenen einsetzte und tätige Nächstenliebe bewies. Ihre Aufzeichnungen bestätigen auf schönste Weise das Bild, das wir ohnehin von ihr gewonnen haben. Die – damals – junge Frau und zweifache Mutter ist sich des Privilegs bewusst, im neutralen Schweden zu leben: „Ich will nicht, dass dies einmal bombardiert wird.“

Die Nachbarn dieser „Insel der Seligen“, Norwegen und Finnland, sind vom Krieg aufs Schlimmste betroffen. Erbittert wehren sich die Finnen gegen Stalins Invasionsarmee, die, schlecht ausgerüstet, dem bitterkalten Winter im Hohen Norden zunächst nicht trotzen kann und schwere Verluste erleidet. Ähnlich katastrophal ist die Lage des einfachen deutschen Landsers im Kaukasus oder vor Stalingrad:

Am schlimmsten ist, dass man Deutschland bald kaum noch eine Niederlage zu wünschen wagt, denn jetzt haben die Russen wieder angefangen, sich zu bewegen. In den vergangenen Tagen haben sie unter allerlei Vorwänden Litauen, Lettland und Estland besetzt. Und ein geschwächtes Deutschland könnte für uns im Norden nur eins bedeuten – dass wir die Russen auf den Hals kriegen. Und dann, glaube ich, sage ich lieber den Rest meines Lebens Heil Hitler“, als den Rest meines Lebens die Russen bei uns zu haben. Etwas Entsetzlicheres kann man sich gar nicht vorstellen.

Zwischen abwägendem Kalkül, blanker Empörung und beißendem Sarkasmus changiert Lindgrens rasche Auffassungsgabe für das Politische: Sie liest dem „kleinen Scheißer Laval“ die Leviten, bezeichnet Hitler und Mussolini als „kernige Jungs“, die die Welt mit einem Sandkasten zu verwechseln scheinen. Kurz nach Ausbruch der Kriegshandlungen übernimmt sie einen Posten bei der „Briefzensur“ des schwedischen Nachrichtendienstes, öffnet mithilfe von Wasserdampf verdächtige Briefe und überträgt sich Manches, was sie dort lesen muss, in ihr Diarium: „Ich habe Menschen gesehen, die von der Folter wahnsinnig wurden“, heißt es in einem Brief, den sie sich 1943 abschreibt.

Es ist hier Gelegenheit, den Verlag und die Beiträger des Buches zu loben: Es ist schön und umsichtig gemacht. Es versucht, uns etwas von der Anmutung zu übermitteln, die von Astrid Lindgrens originalen Tagebüchern ausgeht. So finden sich hier beispielsweise einige der schön marmorierten Versatzblätter, die als Gliederungselement fungieren.

Auch werden jene Seiten des Tagebuchs faksimiliert und in Reinschrift (Transkription) wiedergegeben, auf denen sich Beilagen aus Tageszeitungen fanden. Dies alles ist visuell anschaulich und haptisch ansprechend gestaltet. Man bekommt hier für wenig Geld eine mustergültige Editionsleistung an die Hand, zu der auch die guten Übersetzungen und die Dokumente und Register im Anhang wesentlich beitragen. Zwei Paratexte sind besonders hervorzuheben: das Nachwort von Astrid Lindgrens Tochter Karin Nyman und das Vorwort von Antje Rávic Strubel. Letztere arbeitet einige Topoi der Lindgren-Biografik heraus, die uns auf diesen Typus der starken „neuen Frau“ des 20. Jahrhunderts, den „Tomboy“, vorbereiten. Strubel schlägt auch den Bogen zur Gegenwart, wenn sie auf die aktuelle Krimkrise zu sprechen kommt und damit auf die Aktualität von Lindgrens Tagebuch. Es hätte sich wunderbar eingefügt in Walter Kempowskis „Echolot“: „Dies ist das fünfte Kriegsweihnachten – und wir haben mehr zu essen denn je. In meinem Kühlschrank habe ich 2 große Schinken, Sülze, Leberpastete und Rippchen, Heringssalat, 2 große Käsestücke und Bratenaufschnitt. Außerdem sind alle Dosen mit Plätzchen gefüllt: Pfefferkuchen, Haferplätzchen, Cognackringel, finnische Stäbchen, Gewürzkuchen und  Baiser.“

Astrid Lindgren vergisst nie zu erwähnen, wie dankbar sie dafür ist, dass sie und ihre Familie von den unmittelbaren Kriegshandlungen verschont bleiben. Der Luxus ihrer Gegenwelt erscheint ihr wie das stille Auge des Taifuns:

Ich habe es in vollen Zügen genossen, Weihnachten hier in unserem Heim auszurichten. Die ganze Zeit war ich durchdrungen von vollkommener Dankbarkeit, dass dies immer noch möglich ist und wir in einem so friedlichen Winkel der Welt leben. Das klingt banal, aber es ist die Wahrheit, ich bin so dankbar, dass ich es nicht in Worte fassen kann – und bin mir stark bewusst, dass dies die glücklichsten Jahre meines Lebens sein müssen, es darf wohl keinem Menschen auf Dauer so gutgehen. Ich rechne damit, dass Prüfungen kommen werden. Angesichts einer Welt, die so voller Unglück und Elend ist, bekommt alles viel schärfere Konturen.

Klar benennt sie das Schicksal der europäischen Juden, das Elend der Geisteskranken, die Geiselerschießungen. „Der kleine süße Hitler“ sei „wie ein geölter Blitz von einem Land ins andere gerast“. Sie weiß um den Terror von SS und Gestapo und deren Helfershelfern sowie von den Konzentrationslagern: „Die Hälfte unserer Freunde sitzt […] im Gefängnis, wo sie von Quislingen bewacht werden, und die sind offenbar schlimmer als die Deutschen, wahre Sadisten.“

Sie registriert die Greueltaten, die Deportationen, die schlicht „Barbarei“ zu nennende Mordgier und Zerstörungswut. Mit dem Ende des Krieges gibt sie auch ihren „Schmuddeljob“ bei der Briefzensur auf, der ihr Einblick gewährte in die oft erschütternde, oft empörende Haltung gewöhnlicher Zeitgenossen jenseits der Weltpolitik. Und sie wendet sich ihrer eigentlichen Berufung zu: „Es macht wahnsinnigen Spaß, ,Schriftstellerin‘ zu sein. Im Augenblick überarbeite ich ,Pippi Langstrumpf‘, wenn denn nun aus dem missratenen Kind noch etwas werden kann.“

Titelbild

Astrid Lindgren: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939-1945.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs.
Ullstein Verlag, Berlin 2015.
573 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783550081217

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