Verspätete Entdeckung

Donald Antrims Erzählungen huldigen Verlierern und Geplagten

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Suche nach der „Great American Novel“ scheint es eben doch auf die Größe anzukommen – size matters, oder jedenfalls: Seitenzahl. Anders lässt sich jedenfalls nicht erklären, weshalb bei der Suche nach der tonangebenden Stimme des literarischen Amerikas zwar ständig Namen wie Toni Morrison, Richard Powers oder Jonathan Franzen fallen, kaum aber der von Donald Antrim genannt wird. Antrim, der seit 1993 mehrere Kurzromane, einen Memoirenband und Kurzprosa veröffentlicht hat, stammt zwar aus der gleichen Schule wie einige der Genannten, hat aber niemals Aufnahme in jenen Zirkel gefunden, den die New York Times einmal so anerkennend wie spöttisch das erlauchte Eugenides-Franzen-Lethem-Means-Saunders-Wallace-Cluster der hochgebildeten, um 1960 geborenen weißen Männer der amerikanischen Literatur nannte.

Dass Franzen, Jeffrey Eugenides und George Saunders Vorwörter für einige Neuauflagen von Antrims Büchern beigesteuert haben, wirkt da fast schon wie eine karitative Geste, doch man nimmt diesen Autoren ihre Hochachtung für Antrim ab – Franzen nannte Die Hundert Brüder anerkennend das wohl seltsamste Buch eines Amerikaners überhaupt, Eugenides den dystopischen Kleinstadtroman Wählt Mr. Robinson für eine bessere Welt einen vollkommen originellen Text ohne jegliche Präzedenzfälle in der Literaturgeschichte.

Nachdem um die Jahrtausendwende bereits Antrim-Texte (teils unter reichlich bescheuerten Titeln wie Ein Ego kommt selten allein) in deutschen Verlagen erschienen waren, wagt gegenwärtig Rowohlt einen neuen Vorstoß, Antrim mit aufs Podest zu hieven. Verdient hätte er es, wie auch die Geschichtensammlung Das smaragdene Licht in der Luft belegt, die sieben seiner Texte aus den Jahren 1999 bis 2014 erstmals in Buchform zusammenbringt. Fans von Antrims famosen, zumeist in Echtzeit geschilderten Romanen dürften vor allem an der ersten Erzählung im Band Freude haben, denn „Ein Schauspieler bereitet sich vor“ ist aus exakt demselben Holz geschnitzt: Hier wie da schildert ein gebildeter, nicht mehr ganz junger Vertreter der amerikanischen Mittelschicht seine Hingabe an ein Passionsprojekt und enthüllt dabei nach und nach den Grad seiner psychischen Derangiertheit.  Hier ist es der Studiendekan Reginald Barry, der an einer Hochschule eine mit Studenten (sowie sich selbst) besetzte Inszenierung von Shakespeares Mittsommernachtstraum vorbereitet: „ein magerer, kahl werdender, unverheirateter und kinderloser, sechsundvierzig Jahre alter Lysander – ein Dr. phil. mit Haaren auf dem Rücken“. Wie Barrys Ego schleichend die Inszenierung kapert, die in einer apokalyptischen Sintflut endet (und nicht nur dem Souffleur ein unschönes Erwachen bereitet), schildert Antrim so grotesk komisch wie in seinen bekanntesten Büchern, in denen er das zeitgenössische Amerika unmerklich überzeichnet und mit surrealen Details anzureichern pflegt – im Wahrheitsfinder lässt er einen Psychiater schwebend einer Zusammenkunft mit den verhassten Kollegen entfliehen; die Suburbia-Landschaft in Mr. Robinson ist derart von gegenseitigem Futterneid und Paranoia vergiftet, dass die Nachbarn Todesfallen in ihren Vorgärten platzieren.

Vermutlich könnte Antrim Storys dieser Art mittlerweile im Schlaf schreiben: Es ist ihm hoch anzurechnen und spricht für seine Entwicklung als Autor, dass er nach der Auftakterzählung gänzlich die Tonart wechselt. Seine Figuren entpuppen sich als Sonderlinge und Aussteiger, von denen sich die Erzählstimme weder durch Verfremdungselemente noch durch komische Zuspitzungen distanziert. In „Teich mit Schlamm“ ist es der seinen eigenen literarischen Allmachtsfantasien verhaftete Familienvater, der sein Stiefkind beeindrucken will, indem er dessen leiblichen Vater vor seinen Augen demütigt, „eine Demonstration der Macht eines schwachen Mannes über einen noch schwächeren“. Ein anderer Protagonist, aus „Von dem Tag an“, kommt nicht von seiner Ex-Freundin los und belastet damit seine neue Liebe. Die Schilderungen erstrecken sich selten über mehr als einen Nachmittag oder einen Partyabend, die Figuren finden sich an Scheidewegen ihres Lebens wieder, und der Erzähler entlässt seine Leser mit wenig mehr als einer Andeutung auf Besserung. Wo so konsequent ausgespart wird und manche melodramatische Geste nicht ausbleibt, wendet Antrim zwar weit mehr als in seinen Vorgängertexten das bewährte kleine Einmaleins der Kurzgeschichte an – dennoch ist all dies konsequent durchkomponiert und überzeugt mit ehrlich empfundenem Mitgefühl für jene, die man mit Rückgriff auf Leonard Cohen als „Beautiful Losers“ bezeichnen mag: für den gealterten Schauspieler Stephen und seine von Selbstzweifeln geplagte Frau Alice in „Er wusste es“ ebenso wie für die beiden heimatlosen Aussteiger Jennifer und Christopher aus „Trost“.

Am wenigsten Scheu vor dem Kitsch beweist Antrim in den beiden am autobiografischsten gefärbten Texten im Buch: Von Erinnerungen an psychiatrische Behandlung, Elektrokrampftherapie, Depression und Suizidgedanken werden die Figuren sowohl in „Noch ein Manhattan“ als auch in der Titelgeschichte heimgesucht. In letzterer formuliert der aus der Psychiatrie entlassene bildende Künstler Billy, der eine Blechdosen-Installation plant, ein Credo, dem sich auch Antrims Schreiben inzwischen zu verpflichten scheint: „Er brauchte noch mehr [Dosen], aber er aß nicht viele Konserven, und dass er die Materialien in seinem Werk persönlich benutzt hatte, war sehr wichtig für ihn.“ Billy findet sein kathartisches Erlebnis und die Saat für einen Neuanfang, als er mit seinem aufgesparten Tablettenvorrat die Schmerzen einer Sterbenden lindert. Weniger optimistisch entlässt Antrim seine Leser aus „Noch ein Manhattan“, dem unter die Haut gehenden, tieftraurigen Porträt eines Kranken, der seiner Frau einen absurd teuren Blumenstrauß zu kaufen versucht, den sich beide nicht leisten können: „Er wollte ihr sagen, das alles besser werden, dass er sich bessern würde, dass er irgendwann demnächst wieder arbeiten und einige Rechnungen bezahlen und ihr die Last von den Schultern nehmen würde; dass sie endlich imstande sein würden, aus der kleinen Wohnung mit dem kaputten Klo auszuziehen. Er wollte ihr sagen, wie sehr er sie brauchte.“

Donald Antrim ist gewiss kein Debütant mehr, der irgendwem etwas zu beweisen hätte – aber er ist hierzulande nach wie vor eine literarische Stimme, die es noch zu entdecken gilt. Seine Erzählungen sind dafür ein schöner Ausgangspunkt – und bereiten hoffentlich ausreichend Lesern Lust, mit den im kommenden Frühjahr endlich auf Deutsch erscheinenden, brillanten Hundert Brüdern nachzulegen.

Titelbild

Donald Antrim: Das smaragdene Licht in der Luft. Storys.
Übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
224 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783498000929

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