Der alles durchdringende Schmerz

Zeruya Shalevs Protagonistin Iris überschreitet Grenzen

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Romane der israelischen Autorin Zeruya Shalev haben Suchtpotenzial. Man beginnt zu lesen, der erste Satz lautet so gewöhnlich wie elektrisierend zugleich: „Er kommt zurück, und obwohl sie ihn seit Jahren erwartet hat, kommt er, als wäre er nie weg gewesen, als hätte sie keinen einzigen Tag ohne ihn verbracht, keinen Monat, kein Jahr, und dabei sind genau zehn Jahre vergangen.“ Wer ist er? Man taucht ein in die Romane, vergisst das Essen, den Schlaf, später auch immer wieder das Atmen. Schon die Vorfreude ist groß, die Spannung, wird es dieses Mal auch wieder so sein? In Shalevs neuestem Roman „Schmerz“ begleiten wir auf 384 Seiten die Mittvierzigerin Iris Eilam. Wir lernen eine Frau kennen, die zehn Jahre zuvor bei einem Selbstmordanschlag schwer verletzt wurde und nach wie vor von heftigen Schmerzattacken geplagt wird. Iris lebt mit ihrer Familie in Jerusalem, sie ist Direktorin einer Schule – und ist sich nicht sicher, ob sie diese Stelle nur bekommen hat, weil sie ein Opfer wurde –, sie arbeitet viel und gut. Die Kinder entwickeln sich weitgehend normal, der Sohn Omer lebt noch zu Hause – jeden Tag fürchtet sie, der Einberufungsbefehl liege im Briefkasten –, die Tochter Alma ist bereits ausgezogen und in Tel Aviv wohnhaft. Der Ehemann Micki steht Iris treu zur Seite, auf ihn ist Verlass.

Auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Anschlag überfällt Iris einmal mehr dieser unterträgliche Schmerz, nun muss sich etwas ändern. Zusammen mit Micki fährt sie ins Krankenhaus in die Sprechstunde des Schmerzspezialisten – und sieht sich ihrem ersten Geliebten Eitan gegenüber, Eitan Rosenfeld, der sich heute Rosen nennt. Beinahe dreißig Jahre sind vergangen, seit sich Eitan von ihr getrennt hat, unmittelbar nach dem Tod seiner Mutter, nachdem sie noch gemeinsam und als Paar mit Zukunft die Trauerzeit durchlebt hatten. Eitan durchschnitt alle Bande, damit auch jene zu ihr. Nun also steht sie vor ihm, und ein anderer Schmerz bemächtigt sich ihrer, einer, der sich nicht mit Tabletten besänftigen lässt, einer, der eine Geschichte zutage fördert, der wir beim Lesen folgen (müssen). Der Trennung von Eitan ging eine andere, noch frühere voran, jene vom Vater, der im Jom-Kippur-Krieg starb, von dem sie, die damals Vierjährige, sich nicht verabschieden konnte an jenem Morgen. Sie „musste ihrer Mutter helfen, die Zwillinge aufzuziehen, die nach seinem Tod geboren wurden“. Sie, die nie mehr Vater sagen konnte, freut sich später, nach der Geburt der Tochter Alma, das Wort Papa zu benutzen. „Gleich kommt Papa, schau, da kommt Papa, hatte sie dem Baby, das noch nichts verstand, immer wieder vorgesprochen. Vielleicht hat sie es deshalb so eilig gehabt, zu heiraten und Kinder zu bekommen, nur um zu sehen, wie ein Mädchen aufwächst, das einen Vater hat.“

Die Iris heute jedoch kennt nur noch eines, sie muss zu Eitan. Es ist ein Zwang, irrational, (selbst-)zerstörerisch, pubertär auch. Doch Iris kann sich nicht wehren gegen diesen Schmerz, gegen alle Schmerzen, die ihr zugefügt wurden. Denn es scheint, dass sich hinter dem einen Schmerz ein nächster verbirgt und dahinter noch einer und noch einer – doch was, wenn die Kette endlos wäre? Von solchen Fragen lässt sich Iris nicht beirren, vielmehr ist sie sich nicht zu schade, dem früheren Geliebten, der sie so schmählich verlassen hat, nachzustellen, sich bei ihm in die Privatsprechstunde einschreiben zu lassen, seinen Wohnort aufzusuchen, ihn vom Garten aus zu beobachten. Es ist ein Verhalten, das zu der Siebzehnjährigen passen würde, nicht aber zu der 45-jährigen Schuldirektorin, gestandenen Ehefrau und Mutter. Iris holt nach, was sie damals nicht ausleben konnte. Eitans Mutter war todkrank und starb, Eitan war ein Junge in Angst, später in Trauer um seine Mutter, und sie half ihm, diesen Verlust zu ertragen. Danach hatte sie ausgedient. Erst jetzt, Jahrzehnte später, erlebt sie die Demütigung und den Schmerz von damals, der sich nun mit einem anderen Schmerz verbindet. Die lebensgefährliche Verletzung durch den Anschlag und die Wiederbegegnung mit Eitan sind untrennbar miteinander verbunden. Iris ist sich der Absurdität Ihres Verhaltens bewusst, doch muss sie noch weiter gehen, den Schmerz ausleben, Grenzen ausloten und überschreiten, bis sie sich entscheiden kann, welches Leben sie mit wem führen will.

Die Begegnungen mit Eitan sind voller Glück. Dass sie im Geheimen stattfinden müssen, verstärkt die Intensität der Gefühle. Iris lebt auf, genießt, spürt ihren Körper, begehrt und wird begehrt – alles, was in ihrem gewohnten Alltag vorbei ist. Körperliche Nähe, Sex sind für sie (nicht für Micki) kein Thema mehr, seit sie in Almas Zimmer gezogen ist, um dort, vor Mickis Schnarchen verschont, ruhiger zu schlafen. Erst noch versucht Iris auch bei Micki mögliche Seitensprünge zu vermuten, bis es auch darum nicht mehr gehen kann, sondern nur noch um sie, um ihr gegenwärtiges Leben. Dieses grenzenlose Ausleben ist für Iris die Bedingung dafür, dass sie ihre Vergangenheit mit dem Heute zusammenbringt. Iris’ sensibilisierte Wahrnehmung lässt sie genauer hinschauen, schärft ihren Blick auch für das, was direkt vor ihren Augen geschieht: Eitan ist ein älterer Mann, der glaubt, er könne dort weiterfahren, wo er Iris verlassen hat, überzeugt, dass auch sie nur auf ihn gewartet hat, bis er sich eines Besseren besinnt. Doch Iris erkennt, dass sie immer die Verlassene bleiben wird, Wiedergutmachung gibt es nicht.

In der Folge getraut sich Iris zunehmend, auch sonst genauer hinzuschauen. Und sie sieht, dass sie eine Tochter hat, die ihr längst entglitten ist. Viel Zeit bleibt nicht, um Versäumtes nachzuholen, und das scheint auch kaum möglich. Aber sie darf und will nicht länger den Kopf in den Sand stecken. In einem schmerzhaften Prozess muss Iris erkennen, in welchem Umfeld sich Alma bewegt, in wessen Gewalt sie geraten ist, und dass ihre Tochter Gefahr läuft, endgültig mit der Familie und damit auch mit ihr, der Mutter, zu brechen. Noch könnte es nicht zu spät sein, auch nicht dafür, die Ehe von Iris und Micki fortzuführen. Ob es gelingt, läss Zeruya Shalev in dem Roman offen. Nur die Gewissheit bleibt, dass alte Geschichten kein Irrtum sind, dass sie das Hier und Jetzt tüchtig aufwühlen können und dann wieder dorthin abzulegen sind, wohin sie gehören.

Durchgeschüttelt und erschöpft schließen wir das Buch, atmen durch und leben noch ein bisschen weiter mit dieser Sprache, der Shalev’schen Erzählweise. Der Übersetzung von Mirjam Pressler gelingt das Kunststück, in die doch eher spröde deutsche Sprache eine Sinnlichkeit einzuflechten, die voller Farben und Gerüche, Emotionen und Erotik ist. Diese Sprache geht unter die Haut – buchstäblich. In Shalevs Romanen – und auch das dürfte zu deren außergewöhnlichen Wirkung beitragen – begegnen wir keinen Identifikationsfiguren, denen wir uns nahe fühlen können, wir beobachten sie vielmehr von außen, grenzen uns von ihnen ab und leben doch gleichzeitig mit ihnen mit.

Titelbild

Zeruya Shalev: Schmerz. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag, Berlin 2015.
381 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783827011855

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