Comics – Ein Universum für sich!?
Zur Einleitung in den Schwerpunkt „Comics“ auf Literaturkritik.de
Von Markus Engelns und Ulrike Preußer
Vor kurzem hatte eine Studentin aus einem Comicseminar ein Problem: Nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, dass alle Studierenden zwei Comics verbindlich als Lektüren kaufen sollten, fragte sie ein wenig panisch, ob sie dafür in einen Comicladen gehen müsse. Der Gedanke schien ihr nicht sonderlich zu behagen und sie zeigte sich recht erleichtert, als sich herausstellte, dass man Comics auch im Buchhandel bestellen kann. Comicläden haben in vielerlei Hinsicht einen merkwürdigen Ruf. Populäre Serien haben das Bild von einem kleinen, in sich geschlossenen Universum geprägt, in dem dickbäuchige und oftmals schlecht angezogene Herren mittleren Alters mit allerlei Fanboys, Nerds, Geeks, Freaks, Cosplayern und wie sie alle heißen in Kontakt treten, um zu diskutieren, warum Aquaman uncool ist und der/die ‚niveauvolle‘ ComicleserIn doch eigentlich lieber zu Tim und Struppi greift als zu Asterix. Obwohl all diese Befunde international und insbesondere in Europa zumeist Stereotypen sind und viele Comicläden an die Buchhandlungen aus alten Zeiten erinnern, die mit gutem Service eine Vielzahl von spannenden neuen Lektüreanregungen verbinden, können sie doch als Symptome eines typischen Problems mit Comics als Gattung herangezogen werden. Comics umgibt nach der so genannten ‚Schmutz- und Schunddebatte’ zwar nicht mehr der zweifelhafte Ruf der Massenzeichenware. Sie erscheinen aber innerhalb unserer noch immer von Schrift als Ideal geprägten Gesellschaft irgendwie hermetisch abgeschlossen, weil sie einerseits Themen und Motive bedienen, die ohne Comicerfahrung nur schwer nachzuvollziehen sind. Wer einmal versucht hat, sich im Dschungel der Superhelden-Universen zurecht zu finden, weiß, wovon wir reden. Andererseits sind Comics komplexe Medienphänomene, die sich mal umfassend, mal zitierend, mal ziemlich frech und mal fast unauffällig bei anderen Kunstwerken bedienen können und in spezifischen Bild- und Schrifttraditionen stehen. Die Fülle der Darstellungsmöglichkeiten und Themen sind in Kombination mit den lang gehegten Stereotypen durchaus nicht förderlich, um einfach einmal einen Comic zur Hand zu nehmen und ihn zu lesen – oder zu betrachten.
Der vorliegende Schwerpunkt hat zum Ziel, Neugierige und kulturelle SchatzsucherInnen, die einen Zugang zum Comic suchen, aber nicht so recht finden, über die metaphorische Schwelle in den Comicladen zu begleiten. Die Herausforderungen sind dabei durchaus groß, immerhin wollen wir typische Merkmale des Comic als Gattung hervorheben, zugleich auf die Besonderheiten der von uns rezensierten Werke eingehen, quasi nebenbei noch einige internationale Comickulturen – vom frankobelgischen Comic bis hin zu Mangas – vorstellen und vielleicht noch ein paar handlungspraktische Tipps in Richtung akademische und pädagogische Praxis geben. Dies kann nur gelingen, weil wir exemplarisch arbeiten – die Beiträge wollen also gar nicht festlegen, was Comics sind, sondern sie wollen anhand einzelner Beispiele in Kontakt mit dem treten, was Comics sein können, um ein paar Anhaltspunkte für eine eigenvergnügliche Lektüre zu geben. Um im Bild zu bleiben: Die metaphorische Schwelle des Comicladens wollen wir mit den folgenden, anregungsreichen Beiträgen zusammen mit Ihnen überschreiten, über die tatsächliche gehen Sie dann – so hoffen wir – mit viel Freude von allein.
Ein erster Anhaltspunkt sind sicherlich mediale Besonderheiten, die Comics von anderen Gattungen unterscheiden: Comics sind Gegenstände, die aus Bildsequenzen bestehen und darüber hinaus oftmals (aber nicht immer) Schrifttexte aufweisen können. Zentrale Gestaltungsprinzipien sind die Linie, die den Körpern ihre Form gibt und als Ausdruck von Bewegung und Emotionen verwendet werden kann, das Panel als Rahmen um das Einzelbild und die Sequenz, die mehrere Panels – zum Beispiel zu einer Bewegungsabfolge – kombiniert. Aufgrund dieser Kombination scheinen sowohl Parallelen zum Film wie auch zum klassischen Erzähltext gegeben zu sein, selbst wenn es Unterschiede gibt: Anders als im Film sind die Bilder beispielsweise starr, und anders als im Erzähltext nimmt der Schrifttext im Comic nicht selten zusätzliche Funktionen ein. Die Anforderungen für die Lektüre sind dabei nicht zu unterschätzen, weil unser Verstand zwei oder drei Momentaufnahmen einer Bewegung in ganze Abläufe umsetzen, ein paar Linien als Gesichter oder deren Ausdrücke erkennen und Schrift und Bild aufeinander beziehen können muss, um einen Comic zu ‚lesen‘. Dass Comics trotz dieser komplizierten Lektüremechanismen nicht selten harmlos, geradezu naiv und kindlich wirken, liegt daran, dass die Zeichnungen oft genug stark ikonisiert sind. Körper und Formen werden bis auf wesentliche Elemente reduziert, Gesichter sehen oft maskenhaft aus, Farben bleiben, wenn sie überhaupt vorhanden sind, durchaus flächig. Letztlich ist es aber die Ikonisierung, die BetrachterInnen umgehend für den Comic einnimmt. Comicbilder treffen auch deshalb ins Herz, regen zum Lachen oder Weinen an, weil die Beschränkung auf wesentliche grafische Aspekte die je damit verbundenen Gefühle und Gedanken kondensiert und in eine Reinform überführt. Ein Tipp für den ersten Besuch im Comicladen lautet also, einfach die Fülle der Titelbilder, die damit verbundenen Gefühle und Stimmungen wie in einer Galerie aufzunehmen – mit dem Vorteil, dass sich hinter den hier ausgestellten Werken noch mehr Bilder dieser oder anderer Art verbergen und darauf warten entdeckt zu werden. Zumal diese Werke doch ein wenig günstiger als die Kunstwerke im Museum zu haben sind.
Hat man sich zu Beginn der Vielfalt der so grundverschiedenen Titelillustrationen ausgesetzt, gilt es dann erst einmal, die vielen Eindrücke für sich zu ordnen. Dazu bietet unser Schwerpunkt einige Orientierungspunkte an: Ein erster Beitrag von Constanze Hahn informiert exemplarisch über Definitionsmöglichkeiten und historische Entwicklungen von Comics als Medien und deren Rezeption. Dieser Beitrag enthält auch eine kleine Bibliographie mit wissenschaftlicher Literatur, die als Hinweis für die Eigenrecherche gedacht ist. Sie kann auf den Seiten der Gesellschaft für Comicforschung und mit Hilfe der Bonner Online-Bibliographie zur Comicforschung, einer international einzigartigen Suchmaschine zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Comics, oder etwa durch die Lektüre der von Julia Abels und Christian Klein herausgegebenen Einführung Comic- und Graphic Novels (Metzler, 2015) noch ergänzt werden.
Nach diesem einleitenden Beitrag, der einen eher generellen Zugang zu Comics erlaubt, widmet sich diese Schwerpunktausgabe in Beispielrezensionen verschiedenen Comickulturen, nach denen viele Comicläden sortiert sind und deren jeweils ganz eigene Veröffentlichungsformate die thematisch sortierten Regale im Laden füllen. Den Anfang machen hiesige deutschsprachige Comics, Bildgeschichten und Literaturadaptionen. Marc Kudlowski stellt den Kindercomic Lehmriese lebt! vor, Daphne Tokas und Wieland Schwanebeck besprechen die beiden Bildgeschichten Die Wahrheit und Sofie mit dem großen Horn, die zwar nicht notwendigerweise in einem sehr engen Sinne Comics sind, die aber im Kontext der übrigen Beiträge die graduellen Unterschiede zwischen Comics und anderen bildlichen Erzählformen umso deutlicher machen. Zum Bereich der deutschsprachigen Comics gehören zudem auch Literaturadaptionen, deren Herausforderungen Linda Heyden am Beispiel dreier Faust-Adaptionen verdeutlicht. Wie sehr die visuelle Adaption auch einer Interpretation und manchmal eben auch einer Verengung von Mehrdeutigkeit gleichkommen kann, zeigt Lars Glindkamp anhand einer Umsetzung von Theodor Storms Der Schimmelreiter. Ein positives Beispiel hingegen greift Ulrike Preußer auf. Sie erarbeitet anhand der Adaption von Kästners Emil, wie in der Visualisierung des Comic die Möglichkeiten zur historischen Kontextualisierung einer zeitlosen Geschichte begründet sind und dass solche Strategien letztlich literarisches Lernen in einem autodidaktischen, aber auch in einem schuldidaktischen Sinne anregen können.
Ulrike Preußers zweite Rezension bildet den Übergang zum Regal mit dem frankobelgischen Comic bzw. der Bande dessinée, indem sie den Comic Fennek ebenfalls auf Prozesse des literarischen Lernens hin beleuchtet. Anschließend eröffnen unsere RezensentInnen ein kleines Panorama französischsprachiger Comics, mal atmosphärisch und zum Wohlfühlen, mal düster-beklemmend, mal gesellschaftskritisch und politisch avanciert: Marie Schröer stellt das Werk des Comicproduzenten David B. und des Verlags L’Association vor, Ute Friederich bespricht Peggy Adam und ihre Comics Luchadoras und Gröcha und Martin Richling beschäftigt sich mit Manu Larcenets Reihe Blast. Katrin Dammann-Thedens erweitert den Blick der Ausgabe auf zusätzliche europäische Comickulturen, indem sie das norwegische Werk Das Loch von Øyvind Torseter auf Symbiosen zwischen Comics und Bildergeschichten hin befragt.
Der Zugang zum Regal mit den asiatischen Mangas ist den eher vertrauten frankobelgischen Comics gegenüber schon schwieriger, wenn man sie aus europäischer Perspektive betrachtet. Immerhin sind visuelle Codes, Erzählschemata und Figurenzeichnungen kulturell spezifisch. In diesem Teil des Schwerpunktes geht es also nicht darum, den Manga eurozentristisch zu verklären, sondern auf der Basis bereits bekannter Erzählkonventionen neue zu erschließen. Deswegen wählt Maria Stephanie Engelns auch den Manga Der spazierende Mann, der zwar zahlreiche typische Merkmale dieser Comickultur trägt, dabei aber auch Angebote an ein europäisches Publikum macht. Der von Anika Ullmann rezensierte amerikanische Comic Das echte Leben von Cory Doctorow und Jen Wang weist zahlreiche asiatische Inspirationen auf.
Damit sind wir beim letzten großen Regalbrett angekommen: den US-amerikanischen Comics, Graphic Novels, Serienformaten, Heftchen und dergleichen mehr. Hier erstreckt sich ein Panorama von kleinen und größeren AutorInnenwerken bis hin zu den ‚bunten Typen in Strumpfhosen‘, die gerade im Kino, aber auch im Comic international erfolgreich sind. Christian Bachmann bespricht dabei zunächst das immens wichtige, weil viel gelesene Werk des Comic-Schaffenden Chris Ware, der hier exemplarisch durch Jimmy Corrigan vertreten ist. Chris Wares Werk, aber auch andere Graphic Novels wie der von Christian Ludwig und Frank Pointner rezensierte Comic Sailor Twain werfen die Frage auf, inwiefern Comics in den Kanon der großen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts gehören. Markus Engelns widmet sich demgegenüber dem fast unüberschaubaren Superheldenmarkt, indem er drei grundlegend unterschiedliche Zugänge zum exemplarisch gewählten Held ‚Batman‘ beschreibt, von denen aus es möglich ist, die Besonderheiten dieses Genres zu verstehen. So empfiehlt er eine klassische Einstiegslektüre, einen Krimi und einen Horrorcomic aus dem Batman-Universum.
Zum Schluss sei noch all unseren BeiträgerInnen für ihr Engagement und ihre Beiträge gedankt!
Im Namen aller BeiträgerInnen wünschen wir Ihnen viel Spaß und Freude an diesem Schwerpunkt und einen guten Start in das neue Jahr. Vielleicht sehen wir uns demnächst dann mal im Comicladen …
Essen, im Januar 2016
Markus Engelns & Ulrike Preußer
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen