Der Comic

Einführung in die Begriffs-, Produktions- und Rezeptionsgeschichte

Von Constanze HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Constanze Hahn

Der Comic stellt den wissenschaftlichen Zugang gleich auf mehreren Ebenen vor Herausforderungen. Nicht nur seine Erscheinungsform, die Schrift und Bild gleichwertig miteinander verbindet, erschwert seine Definition und Erforschung aus der Perspektive der traditionellen Literatur- und Kunstwissenschaften. Auch seine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte zu beschreiben zeigt sich als Herausforderung: Jeweils abhängig von der wissenschaftlichen Perspektive, können durch den disziplinären Fokus die Definition der Begriffs- bzw. Gegenstandsweite Einflüsse unterschiedlicher Kulturen, gar ganzer geschichtlicher Zeitalter in die Produktions-, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte mit einfließen. Die Geschichte des Comic kann demnach ihren Anfang mit frühesten Beispielen von Höhlenmalerei nehmen, mit modernen europäischen Ausprägungen beginnen oder mit Comic-Formen, wie sie seit den 1890er Jahren in den USA entstanden. Aus jeder wissenschaftlichen Disziplin heraus ergibt sich eine abgewandelte Definition des Gegenstandes, so auch des Begriffes und seiner Geschichte.

Der Comic-Forscher und Autor Martin Schüwer spricht in seinem Band über das Erzählen im Comic von den Schwierigkeiten, die eine zu eng oder zu weit gefasste Definition mit sich bringen. Er stellt der Gefahr einer zu hohen Exklusivität die einer zu großen Inklusivität gegenüber und plädiert für einen Mittelweg. Schüwer stellt die Positionen großer Comic-Theoretiker einander gegenüber: Der Zeichner, Autor und Theoretiker Scott McCloud fasst jegliche Ausprägung, von Bildergeschichten (der Text wird von Bildern begleitet und illustriert) über sequentielle Erzählungen aus Bild und Text (Geschichten, die durch die Kombination beider Elemente erzählen) bis hin zu in Bildern dargestellten Anleitungen (z. B. solchen, die das Verhalten im Notfall an Bord eines Flugzeuges illustrieren) unter den Begriff Comic. McCloud beschreibt als Mindestvoraussetzung das Vorhandensein von zwei aufeinander folgenden ‚Panels‘, wobei kein besonderer Wert auf die erzählerische Funktionalisierung der Bildfolge gelegt wird. Als Vertreter einer engen Begriffsdefinition führt Schüwer den Comic- und Cartoon-Forscher Maurice Horn an, der unter anderem die Integration von Schrift sowie die massenmediale Verbreitung eines Werkes als notwendige Merkmale des Comic festzusetzen fordert. Wenn aber die Interaktion von Schrift und Bild im Mittelpunkt der Analyse des Gegenstandes steht, gerät außer Acht, dass es auch Comics ohne Worte gibt, die ihre Geschichten nur über die Abfolge von Bildern erzählen. Andere Werke, denen keine übermäßige Verbreitung zuteil geworden ist, spricht Horn jegliche Bedeutung im kulturellen und künstlerischen Kanon des Comic ab. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen gilt es, so Martin Schüwer, Kategorien zu entwickeln, die eine wissenschaftliche Beschäftigung auf einer disziplinübergreifenden Grundlage möglich machen.

Als Grundlage der Gegenstandsdefinition und Begriffsfindung ist die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte eines Phänomens normalerweise ein gängiger Maßstab. Doch der Zugriff aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen verortet den Comic auch hier immer wieder in unterschiedlichen Traditionen. Seine Wahrnehmung und Wertschätzung veränderten sich aufgrund politischer, gesellschaftlicher und kultureller Begebenheiten, seine Entwicklung wurde begünstigt oder gebremst und verlagerte sich immer wieder in unterschiedliche Kulturkreise. Eine oder die Geschichte des Comic zu beschreiben stellt somit ein immenses kombinatorisches Vorhaben dar.

Um weder den Problemen einer zu engen noch denen einer zu weiten Begriffsdefinition zu erliegen, wird sich die folgende Einführung in die Begriffs-, Produktions- und Rezeptionsgeschichte auf die modernen Comic-Formen konzentrieren, die sich um 1890 im amerikanischen Zeitungswesen etablierten.

1890–1954: Der moderne Comic – Von der amerikanischen Adaption zum ‚Comics-Code‘

Anfang des 20. Jahrhunderts findet sich die Bezeichnung ‚Comic’ im Gebrauch amerikanischer Pressekonzerne, die sie in New York zur Betitelung der humoristischen Beilagen ihrer Zeitungen etablieren. Diese bereits zuvor als ‚funnie‘ oder ‚the new humour‘ erschienenen Bildgeschichten und ‚Cartoons‘ wurden nun unter dem Begriff ‚Comic-Strip‘ (engl.: strip = Streifen) geführt. Die Zeitungsriesen New York World und San Francisco Examiner legten als erste ihren Ausgaben ein sogenanntes ‚Comic Supplement‘ bei: Sonntagsbeilagen mit humorvollen, teils derben Comic-Strips in serieller Form mit fortlaufender Dramatik und wiedererkennbaren Figuren. Als Begründer des modernen amerikanischen Comic gilt der Zeichner Richard Felton Outcault, der in seinen Comic-Strips die Entwicklung einer eigenen visuellen Sprache vorantrieb. In seinem ab Oktober 1896 in der New York World geführten Comic Yellow Kid etablierte er erstmals das Element der Sprechblase als vorherrschendes Dialogprinzip. Die Verzahnung von Bild und Text ermöglichte eine neue, direktere Art der Kommunikation. Auch der Einfluss neuer Medien und Genres, wie der sich seit den 1930er Jahren entwickelnde Zeichentrick und der Film, trugen wesentlich zur Erschließung neuer Darstellungsmodi bei. Die Montage und der Perspektivwechsel wurden in den Comic übernommen und es entwickelte sich mit der Zeit eine auf anarchischem Witz gegründete moderne amerikanische Volkskultur.

Rund zwanzig Jahre später begannen die ersten amerikanischen Autoren und Zeichner auf humorvolle Elemente zu verzichten und sich an abenteuerlichen Stoffen zu versuchen. Diese Entwicklung bedeutete auch für die noch in den Kinderschuhen steckende Fachliteratur eine Veränderung. Zur Einordnung der unterschiedlichen Ausprägungen der Comic-Strips mussten differenzierte Begriffe entwickelt werden. So unterschied man von nun an ‚funny‘ (witzige, komische Bildgeschichten), ‚semi funny‘ (Abenteuercomics mit humorvollen Anteilen) und ‚adventure-strip‘ (Abenteuergeschichten ohne diese Elemente).

Es sollte allerdings erst zehn Jahre später die Überführung der Fortsetzungs-Comics in ein anderes Medium den ersten Boom des Comic einleiten. Die ‚Comic-Books‘ wurden zu Anfang lediglich als Möglichkeit gesehen, Zeitungsstrips vergangener Serien in gesammelter Form noch einmal zu verkaufen. Doch durch die Orientierung an der Heftseite boten sich vollkommen neue Möglichkeiten der Gestaltung, da nun mit Größe, Form und Abfolge der Panels experimentiert werden konnte. Auf der Suche nach längeren Geschichten bedienten sich viele Künstler am schier unerschöpflichen Themenpool amerikanischer Groschenromane. Die Verwendung der Stoffe aus den trivialliterarischen ‚Pulps‘ schürte jedoch Skepsis gegenüber den Bild-Text-Geschichten, die weitläufig als Mittel zur einfachen Unterhaltung auf geringem Niveau betrachtet wurden. Bald zogen vor allem Horror- und Gewalt-Comics den Unmut von Sittenwächtern auf sich. Sie schürten die Sorge um einen negativen Einfluss der Comics auf die Seelenlandschaft und Moral der Jugend.

Im Jahr 1954 erließ die ‚Comics Magazin Association of America’ (Vereinigung der US-amerikanischen Comicverleger) mit dem ‚Comics-Code‘ einen ersten Versuch der Beschwichtigung und Kontrolle. Es wurden Bedingungen festgelegt, die als Selbstzensur der Comic-Industrie fungieren sollten. Diese Richtlinien schränkten die gestalterischen Möglichkeiten der Comic-Zeichner massiv ein und der Comic-Markt erlebte seine erste existentielle Krise.

1960–1999: Vom Untergrund zum Pulitzer-Preis

Bedingt durch den ‚Comics-Code‘ sahen sich viele amerikanische Comic-Künstler veranlasst sich von der Oberfläche der Gesellschaft zurückzuziehen. Die gesetzlichen Sanktionen, die ihre Gestaltungsfreiheit so vehement beschnitten, provozierten so die Entstehung alternativer Gegenbewegungen im Untergrund. In der San Francisco Bay formte sich der kreative Sitz der amerikanischen ‚Comix-Szene‘. Wegbereitende, später teilweise preisgekrönte Comic-Zeichner und -Autoren wie Art Spiegelman schlossen sich der Bewegung um ihren Initiator Robert Crumb an. Im Untergrund konnten sie sich ohne Einschränkungen ausleben: In teilweise psychedelisch anmutenden und manchmal sehr drastischen ‚Underground-Comics‘ wurden die Grenzen von Thema, Stil und Geschmack ausgetestet. Die Künstler setzten sich mit ihrem eigenen physischen und psychischen Dasein auseinander. Robert Crumb stellte in seinen autobiografischen Comic-Romanen seine Seelenlandschaft, Neurosen und erotischen Obsessionen offen und tabulos dar und prägte dadurch ein neues Genre des Comic. Durch die persönliche Erzählform legte er so in den 1960er Jahren den Grundstein für ein Phänomen, das später durch die Namensgebung von Will Eisner für Aufsehen sorgen sollte. Auf der Grundlage dieser Bestrebungen entstanden später autobiografische Comic-Romane und einige Vorläufer der ‚Graphic Novel‘. Diese Formen der Erzählung erschienen von Comic-Heft und -Album abgekoppelt, als ein- oder gar mehrbändige abgeschlossene Erzählwerke in Buchform. Speziell an ein erwachsenes Publikum gerichtete Comics, die im Selbstverlag gedruckt und direkt an den Endkunden verkauft wurden, boten in den folgenden Jahren immer wieder Möglichkeiten, den ‚Comics-Code‘ zu umgehen. Die so erzwungenen Anpassungen, Veränderungen und Lockerungen der Vorschriften zersetzen den Code mit der Zeit. In den 1980er Jahren begannen auch größere Verlage wieder Comics zu drucken und zu vertreiben ohne sie bei der ‚Comics Magazin Association of America‘ einzureichen.

Das Genre des autobiografischen Comic-Romans fand später durch Werke von Will Eisner (u. a. A Contract With God, and Other Tenement Stories 1978), der die Bezeichnung ‚Graphic Novel’ prägte, Beachtung in der internationalen Öffentlichkeit. Der amerikanische Cartoonist Art Spiegelman (Maus, teilweise in RAW ab 1980, als Einzelausgabe ab 1986) sollte schließlich im Jahr 1999 der erste Comic-Autor sein, dem der Pulitzer-Preis für Literatur verliehen wurde.

Die Betrachtung der Begriffs-, Produktions- und Rezeptionsgeschichte des Comic zeigt, dass das Medium durch den Wechsel zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen und Traditionen entstanden ist. Von seinen, von Scott McCloud weit rückdatierten Anfängen, wandelte er sich zu einem traditionellen europäischen Kulturgut und über einen Gegenstand amerikanischer Unterhaltungskultur hin zu einer anerkannten internationalen Kunstform.

Bibliografie

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Dolle-Weinkauff, Bernd: Entstehungsgeschichte des Comic. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 1. Teilband. Hg. v. Joachim Felix Leonhard (u. a.), De Gruyter, Berlin/New York 1999.

Eisner, Will: The contract with God trilogy. A Contract With God. A Life Force. Dropsie Avenue. 1. ed., Norton & Company, New York (u. a.) 2006.

Grünewald, Dietrich: Comics. Grundlagen der Medienkommunikation. Bd. 8. Hg. von Erich Straßner. Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000.

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Knigge, Andreas C.: Alles über Comics. Eine Entdeckungsreise von den Höhlenbildern bis zum Manga. Europa-Verlag, Hamburg 2004.

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McCloud, Scott: Comics richtig lesen. 1. Auflage. Carlsen, Hamburg 1994.

McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Veränderte Neuausgabe. Carlsen, Hamburg 2001.

McCloud, Scott: Understanding Comics: The Invisible Art. William Morrow Paperbacks, New York 1994.

Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2008.

Spiegelman, Art: The Complete Maus. Penguin Books, London 2003. [E: Ders.: MAUS – A Survivor’s Tale. My Father bleeds History. (MAUS. Die Geschichte eines Überlebenden. Mein Vater kotzt Geschichte aus), New York 1986 (Reinbeck bei Hamburg, 1989); A Survivor’s Tale II. And here my troubles began (MAUS. Die Geschichte eines Überlebenden. Bd. II. Und hier begann mein Unglück), New York 1991 (Reinbeck bei Hamburg, 1992)].

Spiegelman, Art: The Complete Maus. Penguin Books, London 2003.

Spiegelman, Art: Comix, Graphics, Essays & Scraps (From Maus to Now to MAUS to Now). Raw Books & Graphics, New York 1998.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen