„Where’s the turkey, Jimmy?“

Chris Wares „Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt“

Von Christian BachmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Bachmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Chris Ware ist einer der am meisten ausgezeichneten amerikanischen Comic-Autoren überhaupt: Annähernd dreißig Exemplare des Harvey, der ältesten und angesehenste Auszeichnung der amerikanischen Comicbranche, und über zwanzig ebenso renommierte Eisner Awards sind ihm mittlerweile verliehen worden. Etwas flapsig ließe sich sagen, dass Ware so etwas wie der Thomas Mann der zeitgenössischen amerikanischen Comicwelt ist: Seine Bücher sind erzählerisch komplex und zeichnerisch elaboriert, seine Figuren gleichsam Spiegel der Zeit. So gesehen wäre Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt Wares Buddenbrooks. Das zunächst in Einzelheften publizierte und im Jahre 2000 erstmals in einer Komplettfassung erschienene Buch erzählt die Geschichte von einem Thanksgiving im Leben des Jimmy Corrigan, eines verklemmten und schüchternen weißen Mannes.

In den Vereinigten Staaten stellt Thanksgiving die vierthöchste Festivität dar (nach Weihnachten, dem 4. Juli, und dem Superbowl-Sunday). Für viele Amerikaner verströmt Thanksgiving ein warmes, erdiges Gefühl von Geborgenheit. Man kann Thanksgiving ‚richtig‘ feiern oder gar nicht: „Where’s the turkey, Chuck?“, fragt Peppermint Patty empört Charlie Brown in dem alljährlich wiederholten Cartoon. Zu einem echten Thanksgiving-Dinner gehören Truthahn und Kartoffelpüree, Cranberrysauce und Kürbiskuchen – und die ganze Verwandtschaft, die an der großen Tafel zusammenkommt. Denn Thanksgiving ist ein Familienfeiertag. Was aber nun, wenn die Familie nur aus einer besitzergreifenden Mutter besteht und man seinen Vater noch nie getroffen hat, doch ausgerechnet in der Mitte des Lebens eine Thanksgiving-Einladung von ebendiesem erhält? Und wenn man dann auch noch erfährt, dass man all die Jahre eine Halbschwester hatte und diese Halbschwester dunkelhäutig ist? Wie Charlie Brown, leidet Jimmy an den alltäglichen Dingen der Welt, die ihn in seinen eigenen Kopf hinein treiben. Nur in Gedankenspielen kann sich Jimmy mit der einschüchternden und tristen Realität auseinandersetzen, die so gar nichts mit der bunten Welt der Superhelden gemein hat. Und selbst seine Träumereien gleiten oftmals ab in ernüchternde Fehlschläge und verstörende Erlebnisse, zum Beispiel, wenn er unfreiwillig fantasiert, seinen gerade noch verschollen geglaubten Vater mit einem zerbrochenen Glas zu verletzen.

Wares Buch ist keine einfache Lektüre. Die nur vermeintlich simplen Seitenlayouts mit ihren annähernd quadratischen Bildern sind auf den zweiten Blick überraschend kompliziert aufgebaut, und oft muss man – auch als geübter Comic-Leser – genau hinschauen, wie die Bilder aufzufädeln sind. Damit spiegelt das Layout aber Jimmys Welterfahrung, und vielleicht ist das Buch gerade deshalb für unerfahrene Comic-Leser eine interessante und herausfordernde Erfahrung, die dann wiederum zu einer umso größeren Bereicherung werden kann. Die Bilder selbst sind bestechend klar und auf eine fast technizistisch anmutende Weise reduziert. Und dennoch (oder gerade deshalb?) schafft es kaum ein anderer Comicautor, so viele Emotionen so eindringlich zu vermitteln wie Ware.

Wer mit Comics lediglich ‚Bildheftchen‘ verbindet, wird beim Anblick der aufwändig produzierten, von Ware selbst gestalteten Bücher ins Staunen versetzt. Die Geschichte der amerikanischen Comics nimmt ihren Anfang um 1900 in Zeitungen, in den 1920er Jahren kommt das Heft hinzu, das bis heute dominant ist; doch seit den 1970er, vor allem aber seit den 2000er Jahren spielt das Buch, also der Codex, eine immer größere Rolle. Bei Chris Ware finden Comic und Buchform zu einer ästhetischen Synthese, die Anlass dazu gegeben hat und gibt, von Künstlerbüchern zu sprechen. Bei aller Überformung – die sich in ausfaltbaren Schutzumschlägen, Goldprägungen und fluoreszierender Druckfarben ausdrückt – ist Ware stets auf ironische Brechungen bedacht und verliert die Historizität der Comics unter dem Blickwinkel einer Geschichte ephemeren Trashs – einer Geschichte, die Ware besser kennt als mancher andere – nie aus den Augen.

Jimmy Corrigan ist vom deutschen Feuilleton zurecht als „Meisterwerk“ und „Jahrhundertcomic“ bezeichnet worden. Man kann verschiedene gute Gründe dafür heranziehen, etwa die herausragende Qualität der Narration oder Wares künstlerisches Talent sowie seine kunsthistorische Expertise, die in dem Buch zum Ausdruck kommen. Jimmy Corrigan ist aber nicht nur ein Jahrhundertcomic, sondern hat auch über den Comicdiskurs hinaus eine Relevanz, die es unzweifelhaft zu einem Teil des Kanons der Weltliteratur macht. Letztlich geht es hier nämlich nicht um einen hoffnungslos verzagten Mann, der sich nicht von seiner dominanten Mutter abnabeln kann, sondern in den Fragen nach Rassismus, ‚whiteness‘ sowie der Infragestellung als stabil angenommener Werte um zentrale Probleme der amerikanischen Gegenwartskultur.

In deutscher Übersetzung ist von Ware bislang nur Jimmy Corrigan, Der klügste Junge der Welt erschienen, obwohl es mehrere andere Werke gibt, die sich in ihrer Qualität mit ihm messen können. Außer der ACME Novelty Library, Wares eigener Comicreihe und verstreuten Comics in verschiedenen Zeitschriften ist vor allem Building Stories von 2012 zu nennen, Wares zweites großes und abgeschlossenes Buch. Man kann nur hoffen, dass es nicht wieder 13 Jahre dauern wird, bis dieses auch buchgestalterisch fesselnde book-in-a-box in deutscher Sprache erscheinen wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Chris Ware: Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt. Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders und Tina Hohl. Handlettering von Michael Hau.
Reprodukt Verlag, Berlin 2013.
384 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783938511121

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