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Cornelia Travniceks zweiter Roman „Junge Hunde“ thematisiert Liebe und Tod sowie, ganz nebenbei, das Erwachsenwerden

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Cornelia Travinicek Romandebüt „Chucks“ erfuhr 2012 einiges an Aufmerksamkeit. Unter anderem erhielt sie dafür den Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich. 2015 schließlich wurde die Romanvorlage unter der Regie von Sabine Hiebler und Gerhard Ertl verfilmt. Jetzt ist Travniceks zweiter Roman mit dem Titel „Junge Hunde“ erschienen. Er besteht aus neun Kapiteln, denen jeweils ein kurzer Text vorangestellt ist, der das Leben von Bienen aus der Sicht eines Imkers, nämlich vom (Adoptiv-)Vater von Johanna und Ernst, um die es im Folgenden gehen wird, beschreibt. „Die männliche Honigbiene hat keinen Vater“, heißt es zu Beginn des Buches, womit das Thema kurz und knapp umrissen ist, aber noch längst nicht in allen Facetten auserzählt.

Johanna und Ernst sind seit ihrer Kindheit befreundet. Ernst wurde in China geboren, jedoch in Österreich adoptiert. Und so kommt es, dass er mit neun Jahren die noch nicht ganz siebenjährige Johanna kennenlernt. Seine Eltern gehen offen mit der Adoption um, versuchen sogar, ihn zweisprachig zu erziehen. Er lernt mit der Hilfe seiner Mutter Sibylle, die Sinologin ist, Chinesisch. Ernsts Aussprache lässt ihn aber in China als ‚Auslandschinesen‘ erkennen. Dorthin verschlägt es ihn, er will herausfinden, warum beziehungsweise wie es zur Adoption gekommen ist. Seine Mutter hatte vorausschauend jeden kleinsten Hinweis auf seine leibliche Mutter gesammelt und sichergestellt.

Als die aufbewahrte Adresse ihn jedoch nicht zur erhofften Agentur bringt, beschließt er, China ein wenig als Tourist zu erkunden. Sein asiatisch geprägtes Äußeres entfremdet ihn von der Sprache und den gängigen Gebräuchen in der Öffentlichkeit. Doch auch als Tourist findet er keine Zufriedenheit, da ihn die Umwelt nicht als solchen wahrnimmt. Dafür fühlt sich Ernst auch ein wenig Zuhause, obwohl er sich im Osten von China, im Umland von Shanghai, die Frage stellt: „Kann man sich fühlen, als wäre man nach Hause gekommen, wenn man gar nicht weiß, wo zu Hause ist?“ Als Reisender fühlt er sich also stärker denn je heimatlos, obgleich er vor seinem Aufbruch noch wusste: „Zu Hause. Das also, was zurückbleibt, wenn man weggeht.“

Unterdessen ist Johanna mit Umzügen beschäftigt. Zuerst hilft sie ihrem Bruder Stefan, seine letzten gefüllten Kartons aus dem Elternhaus ins Auto zu bringen, da er „in der Stadt über der Donau“ zum Beginn des ersten Semesters an der Fachhochschule sein Zimmer bezieht. Danach bereitet sie alles vor, so dass ihr Bruder ihren dementen Vater ins Heim fahren kann. Ihre Mutter lebt schon seit langem in Peru, wodurch Johanna und ihr Bruder sich um den Verkauf des Hauses kümmern müssen. Was Johanna ihrem Bruder nicht verraten hat, ist die Entdeckung eines Gruppenfotos auf dem sie, ihre Eltern, Stefan, Ernst und dessen Eltern Sibylle und Johannes inklusive den Hunden Baghira und Balu zu sehen sind. Etwas daran stimmte nicht, und so motiviert sie die Postkarte ihres Vaters mit dem eigenartigen Datum, ebenfalls ihrer Familiengeschichte nachzugehen.

Obwohl sie tausende Kilometer trennen, erforschen Johanna und Ernst ihre jeweils eigenen Familiengeschichten. Während Ernst weggehen muss, um sein Zuhause aus der Ferne besser verstehen zu können, ist für Johanna gerade die unmittelbare Umwelt ihrer Kindheit der Grund, ihre eigenen Familiengeschichte zu hinterfragen. Dabei wäre es jedoch zu einfach, zu behaupten, dass beide jeweils ihren speziellen Begriff von Heimat finden. Im Gegenteil, Begriffe wie Heimat und Familie werden durchleuchtet und dekonstruiert. Auf ihren Wegen lassen die beiden Figuren ihre Kindheit zurück und sind in ihrer Unabhängigkeit mit dem konfrontiert, wovon sie unabhängig geworden sind. Was zurückbleibt, ist nicht ganz klar und fordert deshalb zur Nachforschung heraus: „Und manchmal, wenn du glaubst, du hast dich verändert, ist das nichts als eine Täuschung: In Wahrheit warst du die ganze Zeit über bereits so, du hast es nur noch nicht gewusst, denkt Johanna und fasst sich ins Gesicht, streicht ihre Augenbrauen glatt.“

Am Ende des Romans sind auch Johanna und Ernst bei sich angekommen. Was sich zu Beginn als Suche nach fehlenden Puzzlestücken innerhalb der Familiengeschichte zeigte, entpuppt sich als eine Odyssee, die bis zuletzt Fragen offen lässt und das System Familie als ein freiwillig eingegangenes Netzwerk von befreundeten Menschen zeichnet. Die expliziten Bezeichnungen der Verwandtschaftsgrade weichen Blicken, Gesten und der Mimik, die den gefühlten Beziehung zwischen den Menschen näherkommen als die Sprache. Das Phänomen Familie besticht in „Junge Hunde“ nicht durch die spezielle Benennung der Verwandtschaftsgrade, sondern durch die Beziehung und Nähe zwischen den Personen. Auch deshalb wird nicht alles ausgesprochen und in Begriffe gebannt, denn auf die Bedeutung der Wörter kann man sich nicht verlassen. Sie vermag einen hinterʼs Licht zu führen, und lässt höchstens erahnen, in welcher Beziehung man zueinander steht. Eine Stelle im Roman drückt das besonders drastisch und lakonisch aus mit den Worten: „Die Sprache, dieses Arschloch“.

Travnicek beschäftigt sich in „Junge Hunde“ mit Familienkonstellationen in einer globalisierten Welt, indem sie diese von konservativen Vorstellungen und Werten befreit. Bei ihr ist Familie unsichtbar und trotzdem ein Orientierungsfaktor, sie ist ebenso wie das buchcoverprägende Vanilleeis von Veränderungen bestimmt und ein Verbindungselement zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So wechseln die letzten beiden Seiten des Romans vom erzählenden Präsens ins Futur und lassen nur erahnen, was noch kommt.

Titelbild

Cornelia Travnicek: Junge Hunde. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
238 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046284

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