Utopischer Heimat-Diskurs

Ein komparatistischer Sammelband widmet sich Herkunftsnarrativen und Robert Menasse plädiert für ein nachnationales Europa

Von Gesa SingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gesa Singer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Heimatdiskurs, wie er in Europa und den USA geführt wird und derzeit eine wissenschaftliche Aufwertung erfährt, scheint im globalen Sinne in Zeiten von Terror, Krieg, Verfolgung und Migration eine andauernde Wiederholung zu erfahren, sofern er sich auf Heimatverlust, Trennung von der Heimat und auf die daraus resultierenden Traumata, Identitätssuchen und Konflikte bezieht. Bezieht das Narrativ der Heimat sich auf transitorische Zustände privilegierter Reisender, die in einem ‚dritten Raum‘ globaler Lebensmöglichkeiten nach neuen Selbstentwürfen suchen, scheint es jedoch nahezu absurd zu werden.

Was verbindet diese beiden Extreme der Bezugnahme auf den Begriff der ‚Heimat‘?

Der aus den Ergebnissen der Nachwuchskonferenz „Heimat – Räume. Zur Verortung von Heimatdiskursen zwischen spatial turn und Imagologie“ vom Mai 2013 an der Georg-August-Universität Göttingen hervorgegangene Tagungsband, der von Claudia Gremler, Niels Penke und Jenny Bauer herausgegeben wurde und zu dem etablierte Literaturwissenschaftler, Medientheoretiker und Nachwuchsforscher Beiträge geleistet haben, widmet sich der Thematik aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln: mit Bezug auf imagologische Aspekte der Heimatforschung (L. Rühling), zur Herkunft des Ortsprimats im Raumdiskurs der Heimatkunde (S. Günzel), mit näherem Fokus auf ausgewählte Werke einzelner Schriftsteller: von Kurt Schwitters (J. Nantke) über Emine Sevgi Özdamar (K. Alsen), Josef Winklers (S. Monreal) bis hin zu Joâo Paulo Borges Coelho (D. Wieser); aber auch bezogen auf die Gemengelage einzelner Nationalliteraturen („Hybridität und Liminalität in der Literatur Luxemburgs“ von F. Gilbertz) sowie „Die verlorene und imaginierte Heimat in der Literatur linker Intellektueller“ (K. Lahl).

Die komparatistische Anlage des Sammelbandes erweist sich als reizvoll, zumal dadurch das breite Spektrum möglicher Vergleichspunkte zwischen verschiedenen literarischen Werken, Autoren unterschiedlicher Herkunft und Sprachen im Hinblick auf das mehrperspektivisch zu interpretierende Themenfeld aufgefächert wird. Die Herausgeber betonen in der Einleitung, dass auf eine Einordung der Beiträge in Rubriken bewusst verzichtet wurde, um Ordnungskategorien des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ sowie des ‚Europäischen‘ und ‚Außereuropäischen‘ zu vermeiden. Die Auswahl mag zunächst ein wenig willkürlich wirken und den Wunsch nach einer systematischen Einführung in die Thematik wecken. Wenn in der Einleitung die Zusammenstellung der Beiträge jedoch als „Diskussionsspektrum“ zum Thema ‚Heimat‘ bezeichnet wird, entpricht das durchaus angemessen der Pluralität und Heterogenität der Deutungsansätze und erweist sich als ergiebiges Konzept.

Die theoretische Fundierung lässt eine gewisse Zentrierung auf bekannte Standardreferenzen beobachten, die den (post-)modernen und vom Dekonstruktivismus angeregten Heimatdiskurs geprägt haben. Hierzu zählen Jacques Derrida (Die différance, 2004), Michel Foucault (Von anderen Räumen, 2005), Homi Bhabha (Die Verortung der Kultur, 2010) und andere. Mit dem spatial turn hat sich in den Geisteswissenschaften eine deutliche Verlagerung der Betrachtungsweisen auf räumliche Paradigmen vollzogen, die derzeit von einer verstärkten Diskussion emotionaler Komponenten überlagert wird. Beide wissenschaftlichen Strömungen sind deutlich erkennbar in die vorliegenden Untersuchungen eingeflossen.

Daneben wird in dem Band, etwa bei Rühling, jedoch auch in einem erfrischenden, eher alltagssprachlichen Verständnis über Heimat reflektiert: „Da Heimat stets eine Relation zwischen einem Raum und Personen impliziert, die in der Regel dazu neigen, diesen Raum emotional aufzuladen, ist Heimat tatsächlich etwas, was nur ‚in den Köpfen‘ der Personen existiert: den entsprechenden geographischen Raum gibt es zwar personenunabhängig, aber eben nicht qua Heimat.“

Die Beiträge sowie die ihnen zugrunde liegenden Forschungsansätze lassen ein Oszillieren zwischen realen, imaginierten, idealisierten und utopischen Heimatkonzepten erkennen, wobei dystopische Ansätze vernachlässigt und neuere zeitgenössische Literaturen interkultureller Prägung leider eher ausgeblendet werden.

Tagungen wie diese werfen ein Schlaglicht auf die Bedeutung dieses zentralen literarischen Referenzpunktes, der einen wichtigen Beweggrund des Schreibens für viele Schriftsteller darstellt, wie Lahl in ihrem Beitrag betont:

Die Differenz zwischen dem Schreiben über Heimat in der Heimat, dem Schreiben über eine topographisch verlorene, aber im Inneren präsente Heimat sowie dem Schreiben über eine reale und imaginierte Landschaft, die keine Heimat mehr darstellt, lässt erahnen, wie bedeutungsvoll der Topos Heimat für das Individuum wie das Kollektiv ist und dass darüber noch lange nicht alles gesagt ist.

„Heimat ist die schönste Utopie“, befindet auch der österreichische Schriftsteller und Essayist Robert Menasse, obwohl er in seinen heißblütigen und rhetorisch spielerischen Reden kaum von Heimat im eigentlichen Sinne spricht, sondern eine Analyse sowie Lösungsansätze für die vielfältigen Krisen Europas diskutiert. In der Edition Suhrkamp sind Menasses anlässlich einiger Kulturpreisverleihungen, vor Abgeordneten und zu politischen Tagungen gehaltene Reden versammelt und es ist spürbar, wie der Redner Menasse sein Publikum durch die Wiederholung seiner Kernthese sowie rhetorische Finessen für seine Überzeugungen und Überlegungen gewinnen will.

Sein Ausgangspunkt ist jeweils eine historisch fundierte Ablehnung des Nationalgedankens. Nationalismus habe Europa nur Kriege beschert, und in einem nachnationalen Europa könne man den Auswirkungen globaler Krisen nicht mit der Verteidigung nationaler Interessen begegnen. In der Konsequenz fordert der Autor ein Europa der Regionen, da Regionen die „Herzwurzel der Identität“ seien. Dem heutigen Stand des europäischen Projekts attestiert der Autor Perspektivlosigkeit und macht dies nicht zuletzt „an der wieder aggressiv werdenden Verteidigung sogenannter nationaler Interessen“ fest. Daraus folge die Unfähigkeit, europäische Probleme zu lösen, da sie als nationale Probleme behandelt würden. Hier führt Menasse mehrmals Griechenland und die dort besonders von Deutschland geforderte und praktizierte Austeritätspolitik an und fragt herausfordernd: „Fühlen Sie sich wirklich groß und stark und wohl in Ihrem Selbstgefühl, das sich dem in nationalen Medien und von nationalen Politikern getrommelten unreflektierten Unsinn verdankt, dass Sie so tüchtig, ‚die Griechen‘ aber ‚faul und korrupt‘ sind?“ Der Autor weist in seiner Analyse der Krise Europas ferner darauf hin, „dass der neue Nationalismus nicht bloß von gestrigen Rechtspopulisten getrommelt wird“, sondern vielmehr eine Bedrohung sei, „die von der sogenannten Mitte der Gesellschaften der Mitgliedsstaaten ausgeht“.

Menasses Reden haben eine oft deutlich hervortretende persönliche, auch autobiographische Prägung. Der Autor spielt zuweilen mit der zur Schau gestellten eigenen Ratlosigkeit und der Ratlosigkeit seiner Zuhörer beziehungsweise Leser. Er macht darauf aufmerksam, dass Preisverleihungen und Anerkennung auch sehr zweischneidig sein können, wenn dadurch Künstler und Werke in eben den ‚Mainstream‘ einverleibt und hochgelobt werden, welchen sie gerade kritisieren. Doch er bekennt: „Ich lasse Sie nicht in Ruhe!“

Schließlich nennt er einen Grund für das gegenwärtige Schweigen vieler Intellektueller angesichts der Krisen Europas: „Begriffe wie ‚Vision‘ und ‚Utopie‘ sind im Gleichschritt mit dem Niedergang der Bildungsinstitutionen in Verruf geraten.“

Robert Menasse nutzt als Essayist die Mittel der Rhetorik, der Übertreibung; er will zum Nachdenken anregen und hinterfragt auch gern eigene Stereotype. Er ist kompetent im Einsatz von Ironie und Selbstironie und scheut sich auch nicht vor Pathos und Kitsch. Es sind geistreiche, teilweise irritierende Reden, in denen der Redner nicht immer die letzten Antworten kennt, aber sein Publikum dazu einlädt, vermeintlich bekannte Zusammenhänge kritisch zu hinterfragen.

In den beiden hier vorgestellten Publikationen wird deutlich, dass nationale Betrachtung oder gar Ideologisierung in einer globalisierten, vernetzten Welt nicht zur Problemlösung beitragen und die vielschichtigen, widersprüchlichen Prozesse unserer Zeit eine Berufung auf ‚Heimat‘ als nationalen Raum längst obsolet gemacht haben. In der Wiederentdeckung von Regionen als kulturellen Bezugspunkten hat auch der spatial turn seine aktuellste Ausprägung gefunden. Ereignisse, Gedächtnis und Kultur sind vielfach (aber nicht ausschließlich) lokal gebunden, was sich in der Literatur wie auch in der gesellschaftlichen Analyse immer wieder feststellen lässt.

Titelbild

Robert Menasse: Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
176 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126899

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Claudia Gremler / Niels Penke / Jenny Bauer (Hg.): Heimat – Räume. Komparatistische Perspektiven auf Herkunftsnarrative.
Reihe: Studia Comparatistica – Schriften zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft / Band 3.
Ch. A. Bachmann Verlag, Berlin 2014.
252 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783941030459

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