Ohne Wenn und Aber

Eva Illouz versucht Israel zu kritisieren, ohne die Legitimität des Zionismus in Frage zu stellen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zur deutschen Rezeptionskultur für jüdische Kritik an Israel

Die Frequenz der islamistischen Terroranschläge in aller Welt hat merklich zugenommen. Kaum noch ein Tag, an dem man nicht auf ein Nachrichtenportal klickt, um entsetzt festzustellen, dass schon wieder irgendwo Selbstmordattentäter um sich geschossen, Bomben gezündet und viele Menschen getötet haben. Dies geschah letztes Jahr allein zweimal in Paris. Zuletzt schlugen die Attentäter unter anderem im kalifornischen San Bernardino, in Istanbul, in Jakarta und in Ouagadougou zu.

Die Botschaft der (in der Regel nachweislich antisemitisch denkenden) Massenmörder ist spätestens seit dem 11. September 2001 klar: Es kann überall geschehen, jederzeit, und niemand, der aus Sicht der Täter „ungläubig“ ist, keiner, der zur ,westlichen‘ Kultur gehört oder in den Augen des sogenannten Islamischen Staates (IS) eng mit dem Prinzip ,des Jüdischen‘ verbunden ist, – und sei es nur durch einen Konzertbesuch im Pariser Club Bataclan, der jüdische Besitzer hat –, kann sich mehr sicher fühlen. Der Herausgeber dieser Zeitschrift notiert in seinem Editorial zur Januar-Ausgabe 2016 von literaturkritik.de, in dem er auf unseren Kommentar zum Charlie-Hebdo-Anschlag vor einem Jahr zurückblickt: „Inzwischen hat sich der Terror zum Krieg ausgeweitet.“

In der obigen Liste von Anschlagsorten fehlt ein Land, das man in Deutschland meist nur noch als ,Täter-Staat’ wahrnimmt, obwohl es seit seiner Gründung unablässig mit derartigem Terror zu tun hat, wie er nun auch Europa (wieder) trifft: Israel. Die Mörder dort sind besonders erfinderisch. Während in Deutschland furchtbare Ereignisse wie die sexuellen Massenbelästigungen in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 für Aufregung sorgen, fragt man sich, was in der Berliner Republik passieren würde, wenn dort auch nur ansatzweise geschähe, was in Städten wie Jerusalem seit vielen Monaten alltäglicher Horror ist: Seit Längerem werden in Israel Passanten mit besonderer Grausamkeit auf offener Straße abgeschlachtet, mit Messern und Hackebeilen niedergemacht, erschossen und von Bulldozern überfahren, wenn sie an der Bushaltestelle warten.

In Deutschland kümmert das jedoch selbst in der Mitte der Gesellschaft nur wenige, was unter anderem mit mangelhaften oder tendenziösen Medienberichten über Israel zu tun hat. Doch auch die deutsche Regierungspolitik ist zu kritisieren: Angela Merkels oder auch Joachim Gaucks Beteuerungen, die Verteidigung Israels sei in Deutschland Staatsräson, erscheinen angesichts von außenpolitischen Winkelzügen wie Sigmar Gabriels begeistertem Besuch bei seinen „alten Freunden“ im Iran als bloße Lippenbekenntnisse – noch dazu bei Gauck gerne mit notorischen Phrasen wie der von der „endlosen Spirale der Gewalt“ in Israel kombiniert, die nahelegt, der attackierte Staat sei für die permanenten Terroranschläge gegen seine Zivilbevölkerung durch eigene Provokationen mitverantwortlich. Nach den Anschlägen in Paris hätte man demnach in der Weltpresse äußern müssen, angesichts der Toten vom 13. November 2015 sei man über die „Spirale der Gewalt“ in Europa bestürzt.

Die Blindheit deutscher Politiker für diese entscheidenden Fakten ist eklatant. Mit seinem pflichtschuldig vorgebrachten Grundsatz, das Existenzrecht Israels müsse anerkannt werden, blitzte Gabriel in Teheran jedenfalls prompt ab, als hätte er nicht vorher wissen können, wem er da im Auftrag der deutschen Wirtschaft so begeistert die Hand schüttelte. Selbst der „Stern“ musste in seinem Bericht über das Treffen im Iran einräumen: „Außenminister Mohammed Sarif gibt sich nach dem Gespräch mit Gabriel noch diplomatisch. Man habe weiterhin Differenzen und über die könne man reden, sagt er. Seine Sprecherin wird deutlicher: Der Iran betrachte Israel als eine Bedrohung im Nahen Osten und Wurzel der Krisen in der Region, sagt Marsieh Afcham der Nachrichtenagentur ISNA. Und überhaupt gehe es bei Gabriels Reise doch eher um die bilateralen Beziehungen.“

Sehen wir den Tatsachen ins Auge: In Deutschland, wo sich letztes Jahr grauhaarige Boykott-RentnerInnen in bizarren Schutzmänteln als selbsternannte „Inspektoren“ aufmachten, um landauf, landab israelische Waren eigenhändig aus Supermarktregalen zu entfernen, als böten sie rüstig einer Art Ebola-Infektion durch jüdische Produkte die Stirn, erregen offenbar wohlschmeckende Weintrauben aus Israel die Gemüter mit großer Verlässlichkeit immer noch weit mehr als irgendwelche IS-Attentate, bei denen im benachbarten Frankreich Juden in einem koscheren Supermarkt niedergemacht, die Redaktion einer religionskritischen Satirezeitschrift ausgelöscht oder, so am 13. November 2016, wahllos 130 Restaurant- und Konzertbesucher erschossen wurden. Zu diesen Opfern hätten die engagierten deutschen ‚Israel-KritikerInnen‘ genauso gehören können, wenn sie denn zufällig zur passenden Zeit eine Karte zum Pariser Freudschaftsspiel Frankreich gegen Deutschland oder eine Kaffeefahrt zum Eiffelturm gebucht gehabt hätten.

Der Groschen fällt hier nicht einmal pfennigweise. Doch Antisemitismus hat bekanntlich nichts mit Rationalität zu tun. Bleiben wir kurz bei dem genannten Beispiel. Es ist, als sei der Geist brauner SA-Trupps in deutsche Bürger gefahren: Die Braunhemden ,warnten‘ die Deutschen am 1. April 1933 schon einmal vor dem Kauf jüdischer Waren, in dem sie sich mit Plakaten und Transparenten vor jüdischen Geschäften postierten – heute sind es biedere Omis, die das Heft des wackeren antizionistischen Widerstandes in die Hand nehmen, indem sie sich die „Inspektion“ verdächtiger deutscher Supermarkt-Sortimente auf die Fahnen schreiben.

Es mag mehr als übertrieben erscheinen, die heutige Situation mit der von 1933 zu vergleichen. Dennoch frappiert die Beobachtung, dass die Nazis ihren Boykott wegen der unerwarteten Passivität der deutschen Bevölkerung zu ihrer Zeit bereits nach einem Tag abbrechen mussten. Heute scheinen besorgte deutsche KundInnen jedoch darüber verärgert zu sein, dass es keine Ordnungsmacht wie die SA mehr gibt, so dass sie im Gegensatz zu deutschen Passanten von 1933 gleich selbst Phantasieuniformen anlegen und damit ausziehen, um dem verbrecherischen jüdischen Handel das Handwerk zu legen.

Tatsache ist, was neulich eine Glosse in der „Frankfurter Rundschau“ pointiert auf den Punkt brachte: Heute kann man in Deutschland nicht einmal mehr zum Frisör gehen, ohne permanent mit antisemitischen Verschwörungstheorien belästigt zu werden. Doch nicht nur in der Berliner Republik ist das so. In ganz Europa möchte man von dem antisemitischen Terror gegen Israelis kaum etwas wissen. Und das, obwohl er doch offensichtlich genau mit jenem ,Krieg‘ zusammenhängt, der nunmehr auch im Herzen der EU erneut und mit großer Macht wieder aufgetaucht ist, nachdem 2004 schon einmal 191 Menschen in einer Madrider S-Bahn und ein Jahr später 56 U-Bahn-Passagiere in London Opfer eines islamistischen Bombenanschlags wurden. Auf diese verstörende Mitleidslosigkeit und blinde Ignoranz wies zuletzt unter anderem auch Sibylle Berg hin, nachdem sie in Israel Zeugin eines (bis dato unaufgeklärten) Mass Shootings wurde:

Ich bin wie jedes Jahr hier, seit gefühlten Hundert Jahren, seit der ersten oder zweiten Intifada. Eine von beiden – egal – also seit jeden Tag Busse in die Luft geflogen sind. Andauernd mein Flugzeug wegen Bombenalarm am Boden blieb. Dann wurde die Mauer gebaut. Die von Selbstgerechten, die nicht hier leben, so verdammt wurde. Und die Busse flogen nicht mehr in die Luft. Dafür kamen die Raketen, die Tunnel. Die Bagger, die in Menschenansammlungen gesteuert wurden. In den letzten hundert Jahren hat sich Europa nie für das Leben mit dem Terror in Israel interessiert. Außer einem geraunten Selber-Schuld, bei der Politik, außer: naja, ist eben da unten so, außer seltsamen Zuschreibungen, Verurteilungen, und dem Gefühl – das ist irgendwo, da unten – ging es in Europa außer den Juden oder den Angehörigen von in Israel Lebenden, wenige etwas an. Und die hier leben oder Verwandte hier haben, die sind ohnmächtig.

Wie Israel in Europa als ‚Täter‘ konstruiert wird – besonders gerne als „Apartheidsstaat“ (Siegmar Gabriel), als ‚rassistischer Staat‘ und als ‚mörderische kolonisatorische Macht‘, die Gaza zu einem einzigen „Konzentrationslager“ gemacht habe –, brachte unter anderem der Nobelpreisträger Günter Grass in seinem 2012 in der „Süddeutschen Zeitung“ publizierten Gedicht „Was gesagt werden muss“ auf den Punkt: „Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“

Antisemitische Demonstrationen und Pogromstimmung auf deutschen Straßen

Wohlgemerkt: Israel, nicht der internationale islamistische Antisemitismus, der derzeit in der Ausbreitung und den Attentaten des IS kulminiert, ist in der wahnhaften Vorstellung vieler Leute nach wie vor das Hauptproblem – als ob man nicht gerade dringend gemeinsam mit dem einzigen demokratischen Staat im Nahen Osten überlegen müsste, wie man diesen Terror effektvoll bekämpfen könnte, wie auch der Antisemitismusforscher Matthias Küntzel fordert.

Doch der allgemeine Israel-Hass hat zugenommen. 2014 konnte man das unter anderem anhand der Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg studieren, als alle Dämme brachen und auf deutschen Straßen plötzlich porgomartige Zustände herrschten. Diese schockierenden Vorgänge werden in einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Chilufim“ zur jüdischen Kulturgeschichte untersucht, die von der Salzburger Antisemitismusforscherin Helga Embacher herausgegeben wurde und im letzten Jahr erschienen ist. Eine der typischen Standardparolen der erwähnten antisemitischen Entgleisungen lautete „Kindermörder Israel“. Dabei handelt es sich um eine antisemitische Dämonisierung, die von denjenigen, die sie nutzen oder die ihr zustimmen, zugleich als Chiffre für das Judentum allgemein verstanden werden kann und soll: Plakattexte mit Aufschriften wie „Israel tötet Kinder / lässt das Blut der Kinder fließen“ tauchten auf anti-israelischen Demonstrationen schon seit Längerem auf, oftmals unter muslimischen Gruppierungen.

Helga Embacher weist darauf hin, dass entsprechende Transparente bereits weltweit auf Demonstrationen hochgehalten wurden und an Narrative anknüpfen, die sich „seit der Intifada zu Beginn des 21. Jahrhunderts herauszubilden begannen (z.B. ‚Kindermörder Sharon‘, ‚Sharon is killing a baby‘) und die sich während des Libanon-Krieges (2006) und des Gaza-Krieges von 2008/09 verfestigten“. Wichtig ist dabei Embachers Hinweis auf die „Gefühlsebene“, die mit solchen Hass-Bildern primär angesprochen wird und die Komplexität des tatsächlichen Konflitkes irgnorieren hilft. Solche emotionalisierenden Parolen werden besonders gerne von männlichen Demonstranten skandiert, die 2014 auch durch irrsinnige Slogans wie „Jude, Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf’ allein“ auffielen.

Laut Jan Rybak, einem der Beiträger in der erwähnten Ausgabe von „Chilufim“, waren es größtenteils „EinwanderInnen aus dem Nahen/Mittleren Osten, Nordafrika und der Türkei“ bzw. deren Nachkommen, also vor allem DemonstrantInnen mit muslimischem Hintergrund, von denen diese offen antisemitischen Parolen skandiert wurden. Die Rolle der im Gaza-Streifen de facto regierenden Terrororganisation Hamas und ihrer Raketenangriffe auf Israel wurde in diesen Protesten strikt ausgeblendet. Rybal weist jedoch auch darauf hin, dass es eine Tendenz in den deutschen Medien gab, den manifesten Antisemitismus dieser Demonstrationen zum Anlass einer nationalen Identitätskonstruktion zu nehmen, um moralische Überlegenheit zur Schau zu stellen, in dem man die Verantwortung für den aktuellen Antisemitismus auf die in Deutschland lebende muslimische Minderheit ,auszulagern‘ versuchte. Wie gesehen, ist dies bestenfalls Wunschdenken.

Warum Eva Illouz’ Buch dennoch nicht ins deutsche Beuteschema passt

Zugleich sind in Deutschland auffälligerweise Bücher und Artikel von Jüdinnen und Juden besonders beliebt, die Israel anklagen. Unter Verweis auf derartige Polemiken meinen sich deutsche LeserInnen mit ihren eigenen Ressentiments hinter AutorInnen verstecken zu können, die als ,mutige Selbstkritiker‘ besondere Credibility besitzen, um stellvertretend eine Wahrheit zu publizieren, die man selbst kaum noch äußern dürfe, ohne als ,Antisemit’ angeprangert zu werden. Insofern ist das positive Presseecho nicht weiter verwunderlich, das Eva Illouz mit ihrer ­– prominent im Suhrkamp Verlag veröffentlichten – soziologischen Essay-Sammlung „Israel“ bekommen hat, in der sie harsch feststellt: „Die israelische Gesellschaft ist vor langer Zeit der heiligen Dreieinigkeit von Siedlern, Religiösen und Reichen in die Hände gefallen.“

Für sich genommen passt das Diktum bestens in das Weltbild eines jeden sekundären Antisemiten unserer Tage, der das Böse schlechthin unter anderem in sogenannten Siedlern erkennt, eine neue Chiffre für den verbotenen pejorativen Gebrauch des Wortes ‚Jude‘. Einerseits. Damit soll jedoch andererseits keinesfalls insinuiert werden, dass Rezensenten, die Illouz‘ Buch lobten, latent antisemitisch seien. Vielmehr hatten sie gute Gründe, diese Lektüre zu empfehlen – nicht zuletzt deshalb, weil die Veröffentlichung in Deutschland hilft, der lügenhaften Behauptung entgegenzuarbeiten, es gebe ein von dunklen Mächten verhängtes Tabu, Israel zu kritisieren.

In wichtigen deutschen Tageszeitungen wurde Illouz’ Taschenbuch zustimmend besprochen, unter anderem von Micha Brumlik in der „Frankfurter Rundschau“ und von Lothar Müller in der „Süddeutschen Zeitung“. Auch der Autor der vorliegenden Rezension zählt sich zu den Befürwortern dieser Publikation, weil sie dem deutschen Publikum zeigt, wie sehr sich wichtige und einflussreiche Intelektuelle wie Eva Illouz in Israel in die öffentliche Diskussion einmischen und wie hart sie mit ihrem Staat ins Gericht gehen können, in dem es – anders als etwa in Gaza, im Iran oder in Syrien – eine gesicherte Pressefreiheit und eine große Offenheit für kontroverse Debatten gibt. 

Illouz, eine in Marokko geborene, in Frankreich aufgewachsene und in den USA promovierte Soziologin mit einer Professur an der Hebräischen Universität in Jerusalem, ist als orthodoxe Jüdin aufgewachsen. Bei der Lektüre ihrer Essays bleibt kein Auge trocken: Die Autorin meint, das antisemitische Frankreich des Dreyfus-Skandals sei immer noch besser gewesen als jenes Land, in dem sie heute lebt. Illouz zeiht Israel des „staatlichen Rassismus“. Ihre Gesellschaft sei „Ausländern gegenüber heute verschlossener als noch vor zwanzig Jahren“, die Politik sei „extremistischer“ geworden. Israel schicke afrikanische Flüchtlinge in den sicheren Tod zurück, „weil sie keine Juden sind“. Dieser gesamte Staat, in mehrfacher Hinsicht ein „vormodernes Regime“, sei so sehr von einer exklusiven Vorstellung des Judentums geprägt, dass die arabische Minderheit im Lande gar nicht erst für israelische Interessen eintreten könne. Mehr noch: Das zionistische Gebilde stärke vor allem auch Ungleichheiten unter den Juden selbst, nämlich zwischen den ausgegrenzten Mizrachim, den sephardischen Juden wie der aus Nordafrika stammenden Illouz, die mit ihrer Professorenstelle eine seltene Ausnahme ist, und den Ashkenazim, den euopäischen Juden, die in Israel alle zentralen gesellschaftlichen Schaltstellen an sich gerissen hätten.

Zudem gebe es in Israel eine „Kaste“ orthodoxer Juden mit intolerablen Sonderrechten, die Illouz in ihrem Buch anzuprangern nicht müde wird: „Sie leben von der harten Arbeit einer Vielzahl anderer Bürger, mit deren Steuergeldern diese Kaste finanziert wird, statt dass damit Schulen ausgebaut oder Städte in Ordnung gehalten würden. Was hat diese abscheuliche Form von Ungleichheit ermöglicht? Nun, eben die ethnischen und religiösen Grundlagen des Staates. Die Tatsache, dass diese gläubigen Menschen ursprünglich als die ‚wahren Juden‘ angesehen wurden, verhilft ihnen automatisch zu einem privilegierten Status.“

Kurz: Im Kontrast zu Illouz’ Erinnerungen an ihre Zeit als orthodoxe Jüdin im „kosmopolitischen“ Marokko, im universalistischen Frankreich und den USA mit ihren „multiplen Bindestrich-Identitäten“ erscheint Israel in ihrer stark autobiographisch geprägten Artikelsammlung als ein Staat, in dem die Autorin ihren Glauben verlor und erstmals wirklich erfuhr, was Diskriminierung heißt: „Die französische Gesellschaft war in ihrer Kultur und in ihren Institutionen wesentlich egalitärer als die israelische. Sie war egalitärer gegenüber den nordafrikanischen Juden als die israelischen Ashkenasen, weil sie ein universales Modell von Staatsbürgerschaft hatte“.

Damit nicht genug. Im Sinne der Meinungsfreiheit verteidigt Illouz sogar die umstrittene Adorno-Preis-Verleihung an die bekennende Antizionistin Judith Butler im Jahr 2012, obwohl sie selbst keinesfalls einer Meinung mit der amerikanischen Kollegin ist, die seinerzeit äußerte, Terrororganisationen wie die Hamas seien „progressiv“. Illouz stellt in ihrem Plädoyer für die Preisträgerin klar, dass sie Butlers Ansichten „bestürzen und verwundern“: „Hamas und Hisbollah als Teil der globalen Linken zu bezeichnen ist nicht nur eine Beleidigung für die Linke, sondern ein harter Schlag gegen sie. Zwei bewaffnete Organisationen, die vom Iran finanziert werden, die die Scharia fordern, die sexuelle Reinheit der Frauen propagieren und die Todestrafe befürworten und die, wie man wohl hinzufügen muss, selbsterklärte Homophobe sind, – mir, und wahrscheinlich vielen anderen, fällt da keine Linke ein, die solchen Ideen eine Heimat geben würde. Nein, es ist nicht eine gerechte Weltordnung, für die Hamas und Hisbollah kämpfen, sie kämpfen einzig und allein gegen Israel und die Juden.“  

Trotzdem spricht Illouz in ihrem Buch, abermals zur anzunehmenden Bestätigung vieler deutscher ‚Israel-Kritiker‘, von einer „Israel-Lobby“, die zusammen mit der „National Rifle Association“ die wohl einflussreichste Kraft in der US-Politik sei und es geschafft habe, die „Liebe zur jüdischen Nation“ (Ahabath Israel) zu einem „festen Bestandteil der amerikanischen Politik zu machen“. Die Autorin, die in ihren Artikeln unter anderem mit Theorien Michel Foucaults argumentiert, sucht in ihrem Buch damit den Schulterschluss mit Hannah Arendt. Gershom Scholem warf Arendt einst wegen ihres Reports „Eichmann in Jerusalem“ mangelnde Ahabath Israel vor, in dem die Philosophin 1964 die Judenräte der von den NS-Mördern geschaffenen Ghettos beschuldigte, Erfüllungsgehilfen des Holocaust gewesen zu sein. Illouz versteht sich genauso wie Arendt als unabhängige Intellektuelle, die sich nicht vorschreiben lassen möchte, eine Nation zu lieben, und sie bemüht in dem Kontext ausgerechnet ein Bonmot des deutschen Haudegens und Kriegstheoretikers Carl von Clausewitz: Israel habe die jüdische „Hypersolidarität“ intern zu einer „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ gemacht.

Doch Vorsicht: Während sich viele deutsche LeserInnen begeistert an derartige Formulierungen klammern mögen, um endlich in einem Buch einer orthodoxen Jüdin bestätigt zu finden, dass das Herz heutiger Kriegsideologie längst nicht mehr in Deutschland, sondern einzig in Israel schlage, darf man Illouz nicht Unrecht tun. Ihre Position ist differenzierter. Sie betont, dass sie in ihrem Konflikt mit ihrem Land auch Scholems Position gegenüber Arendt verstehe, und schreibt, eine zeitgenössische jüdische Intellektuelle habe die „unerbittlichen Ungerechtigkeiten gegenüber den in Israel lebenden Palästinensern und Arabern“ anzuklagen, indem sie sich der besagten Ahabath-Solidarität mit Scholems Schmerz über Arendts Kritik entsage.

Die zum größten Teil in der israelischen Zeitung „Haaretz“ erschienenen Analysen der Soziologin, die ihr in ihrem Land scharfe Kritik einbrachten, fußen zum Teil auf empirischen Analysen der israelischen Gesellschaft, in der tatsächlich wohl kaum weniger Diskriminierungsmechanismen wirksam sind als im Rest Europas. Aus Illouz’ Buch kann man lernen, dass es genausowenig angeht, Israel als demokratisches Paradies ohne Makel zu imaginieren, wie man alle Bosheit der Welt auf diesen Staat projizieren kann, um von vergleichbaren Problemen in Deutschland und Europa abzulenken.

Korrigieren muss man allerdings in diesem Kontext Illouz’ rückhaltlose Idealisierung des französischen Universalismus, der schon lange nur noch eine Chimäre ist, wie die massiven Randale-Probleme mit ausgegrenzten Muslimen, die genannten antisemitischen Attentate des letzten Jahres (und noch einige weitere zuvor), die steigenden Auswanderungsraten von Juden aus Frankreich nach Israel und die Wahlerfolge der Front National belegen. Nicht zuletzt ist das heutige Marokko wohl kaum mit dem glücklichen ‚kosmopolitischen‘ Kindheits-Ideal in Einklang zu bringen, das die privilegiert aufgewachsene Illouz in ihrem Buch beschwört. Ganz zu Schweigen von ihrem Lob der USA, wo demnächst womöglich Donald Trump regiert.

Dennoch: Deutsche LeserInnen von Illouz’ kritischem Buch muss man insbesondere auf jene Grundsätze aufmerksam machen, die es für die eingangs erwähnten „InspektorInnen“ mitteleuropäischer Supermarktregale letztlich unverdaulich machen dürften. Die säkular und universalistisch orientierte Autorin fürchtet schließlich, das Existenzrecht des jüdische Staats könne angezweifelt werden: „Terrorangriffe auf Juden in Ländern um den Globus erinnern uns unheilverkündend an diese Möglichkeit. Ich identifiziere mich mit der sehr jüdischen existentiellen Beunruhigung darüber, dass das Schicksal der Juden nie geklärt, irgendwie immer neu auszuhandeln, eine offene Frage, ein möglicher Gegenstand von Einwänden durch Nichtjuden ist. Daher möchte ich eine Prämisse dieses Buches unmissverständlich klarmachen: Nicht nur haben die Juden ein Recht auf eine nationale Heimstätte, sie haben sogar ein größeres Recht als die meisten anderen Völker, weil sie auf die längste und eine der leidvollsten Verfolgungsgeschichten der Menschheit zurückblicken. Ein paar Tausend Jahre Exil und unbarmherzige Verfolgungen erlegen der Welt, das heißt der nichtjüdischen Welt, die moralische Verpflichtung auf, dafür zu sorgen, dass das Recht der Juden auf ein Territorium und nationale Souveränität niemals infrage gestellt wird.“ Um genau zu sein: „Die Legitimität des Zionismus – als einer Bewegung, deren Absicht es war, den Juden zu Sicherheit und Würde zu verhelfen – zu bestreiten ist unmoralisch. Die politischen Fehler jener Bewegung untergraben nicht ihre moralische Intention und ihre Legitimität. Die Existenz Israels ist eine ohne Wenn und Aber.“ 

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Chilufim. Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte 18 (2015). Der Gaza-Krieg 2014 und sein Widerhall in Europa. Pro-Palästina-Demonstrationen und Antisemitismus-Debatten.
Herausgegeben vom Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg.
Phoibos Verlag, Wien 2015.
270 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783851611342
ISSN: 18179223

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Titelbild

Eva Illouz: Israel. Soziologische Essays.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Adrian.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
229 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126837

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