Wozu gehört dieser Bauteil?

Christina Schmid, Gabriele Schichta, Thomas Kühtreiber und Kornelia Holzner-Tobisch haben einen Sammelband zu Raumstrukturen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Burgen herausgegeben

Von Klaus AmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Amann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ausflug zur nächstgelegenen Burg(ruine) gehört für viele Familien nach wie vor zum Sonntags- oder Urlaubsprogramm. Dann liegt „das Raten darüber, wozu dieser oder jener Bauteil früher einmal gedient haben könnte“ (L. Högl) nicht ferne und das ist, so erfahren wir im Tagungsband „Raumstrukturen und Raumausstattung auf Burgen in Mittelalter und Früher Neuzeit“, für Laien wie für Fachleute etwas Lustvolles. Natürlich raten die in diesem Band vertretenen Fachleute nicht (nur), sondern präsentieren wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse ihrer jeweiligen Fachdisziplinen – aber immer so, dass man als Leser Lust bekommt, den nächsten Sonntagsausflug zum Beispiel zur Kremser Gozzoburg, deren über die Jahrhunderte sehr bewegte Baugeschichte von P. Mitchell vorgestellt wird, zu planen.

Krems an der Donau war auch der Schauplatz der Tagung, deren Ergebnisse im vorliegenden Band zusammengefasst werden. Organisiert wurde sie schon 2010 vom Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL), das damals noch zur Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gehörte. Dass das Buch erst fünf Jahre nach dieser Tagung erscheinen konnte, ist auf den brutalen finanziellen Kahlschlag von 2011/12 und den damit verbundenen tiefgreifenden Umstrukturierungen an der ÖAW zurückzuführen. Umso höher ist es den Herausgebern anzurechnen, dass sie den Band trotz aller Fährnisse nun doch vorlegen konnten. Es wäre nämlich jammerschade um die durchwegs ausgezeichneten Beiträge gewesen, wären sie nicht in dieser kompakten Zusammenschau erschienen, auch wenn nach 2010 erschienene Literatur nicht mehr eingearbeitet werden konnte. Das ist zwar ein kleines Manko des Bandes, aber auch verständlich, denn eine komplette Neubearbeitung der Beiträge wäre den VerfasserInnen wohl nicht zumutbar gewesen.

Ausgangspunkt für die Tagung war das Forschungsprojekt „RaumOrdnungen“, das in einem einleitenden Kapitel von den ProjektmitarbeiterInnen J. Handzel, G. Schichta und C. Schmid in Form eines Werkstattberichts vorgestellt wird. Mustergültig wird hier anhand von „Raumfunktionen und Ausstattungsmustern auf Adelssitzen im 14. bis 16. Jahrhundert“ konsequent interdisziplinäres Arbeiten (in diesem Fall Geschichtswissenschaft, Archäologie und Germanistik) erprobt. Teils erfolgreich, teils werden Grenzen des Möglichen aufgezeigt, wenn unterschiedliche Quellengattungen einander kritisch gegenübergestellt werden. Der Erkenntnisgewinn liegt darin, dass sich einzelne Quellengattungen nicht unbedingt ergänzen und/oder Leerstellen auffüllen, allerdings erhellen und relativieren sie sich gegenseitig, was zu einer neuen, kritischeren und unvoreingenommeneren Sicht auf das eigene Quellenmaterial führt.

Dahinter gruppieren sich 17 weitere Beiträge, die einzeln eingehend zu besprechen weder der hier zur Verfügung stehende Raum noch die Leserfreundlichkeit gestatten. Die vertretenen Fachdisziplinen umfassen ein beeindruckend weites Spektrum und reichen von Architekturtheorie und -geschichte, Kunstgeschichte, Byzantinistik und Germanistik über die Geschichtswissenschaft in ihren verschiedenen Ausprägungen hin zur Archäologie, der ein gewisses Achtergewicht zugestanden wird. Der Leser / die Leserin findet also ein buntes Potpourri von teils reich mit Bildern und Skizzen (allermeist qualitativ hochwertig) illustrierter Beiträge, die dennoch in der Zusammenschau ein erstaunlich kompaktes Bild mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Raumkonzeptionen vermitteln.

Die Beiträge kommen nämlich aus ihren so unterschiedlichen Perspektiven immer wieder auf das Repräsentationsbedürfnis des Adels zu sprechen, das mithilfe der räumlichen Strukturen inszeniert und sinnfällig wird. Als Beispiel mögen die in zwei Beiträgen (P. Mitchell und J. Handzel / T. Kühtreiber) herangezogenen access diagrams dienen, die illustrieren, wie viele Schwellen ein Besucher zu überwinden hatte, um zu einem bestimmten Raum in der Burg (Stube, Kammer, Saal, Kapelle, Wirtschaftsraum etc.) zu gelangen. Wenig überraschend zeigt sich, dass die Zahl dieser Schwellen mit der hierarchischen Stellung und auch mit dem Grad der ‚Privatheit‘ stark ansteigt und dass es nur wenigen vergönnt war, alle Schwellen zu überwinden, also etwa bis in die Frauenzimmer vorzudringen.

Genau dieser Mechanismus wird auch in der fiktionalen Literatur aufgerufen und im Beitrag von K. Lorenz diskutiert. Im ‚Gesellschaftsraum‘ der Burg – in sich wieder jeweils ausdifferenziert – können etwa nur bestimmte Figuren in einem bestimmten Raum (also hinter einer bestimmten Schwelle) miteinander interagieren. Schwellen werden zuweilen aber auch unerlaubt überwunden, was zum Konflikt im Gesellschaftsraum führen kann. Diese Überwindung und Verletzung von Schwellen bzw. die Verknüpfung des weiblichen Körpers mit Metaphern aus der Architektur (‚Fenster‘, ‚Schlüssel‘, ‚Zinne‘ etc.) im deutschen Minnesang ist auch das Thema des Beitrags von U. Schulze. Gleichzeitig verweist sie auf die zunächst verblüffende Tatsache, dass Raummetaphorik im Minnesang weitgehend fehlt. Sie erklärt dies einleuchtend damit, dass die Burg als Gesellschaftsraum der Schauplatz von gesellschaftlich anerkannter Liebe ist, wohingegen der Minnesang ja gerade die verbotene Liebe thematisiert – das Tagelied, das noch die meisten Raummetaphern aufweist, bildet eine prominente Ausnahme. Ansonsten wird die gesellschaftlich nicht sanktionierte Liebe nämlich im gesellschaftsfernen, naturräumlichen Ambiente ausgelebt (Walthers „Lindenlied“!); bei K. Lorenz entspräche diese Umgebung dem sogenannten ‚Transitraum‘, in dem soziale Regeln außer Kraft gesetzt sind.

An diesen insgesamt vier – allesamt exzellent gearbeiteten – Beiträgen zeigt sich ein Problem, das der vorliegende Sammelband allerdings mit vielen anderen seiner Art gemeinsam hat und daher nicht ihm allein angekreidet werden darf: Es wäre höchst wünschenswert, wenn die HerausgeberInnen derartiger Bände die einzelnen Aufsätze mit entsprechenden Querverweisen zu thematisch verwandten (oder auch kontroversen) versehen würden. Das wäre der Geschlossenheit und der allenthalben geforderten Interdisziplinarität sicher zuträglich – und man würde als Leser auf Beiträge aufmerksam gemacht, die einem sonst vielleicht entgangen wären.

Auch der archäologische oder geschichtswissenschaftliche Laie (der der Rezensent ist) kann nämlich aus den entsprechenden Beiträgen dieses Bandes so manch Nützliches für die eigene Disziplin entdecken oder aber er gerät schlicht in Staunen über die Ergebnisse anderer Disziplinen. So vermögen K. Jormakkas Gegenüberstellungen mittelalterlicher und antiker Architekturtheorien (Geometrie vs. Numerologie) zu faszinieren, allerdings rätselt man doch ein wenig über seine später vorgebrachten etymologischen Spekulationen zum Begriff ‚Haus‘. A. Grebes Ausführungen zur Multifunktionalität, materiellen Pluralität und der sozialen Semiotik mittelalterlicher Raumausstattungen lassen sich perfekt in die eigene germanistische Perspektive integrieren, zumal sie mit dem Begriff der ‚wahrscheinlichen Räume‘ anhand bildlicher Darstellungen operiert.

M. Rykl und L. Högl weisen unabhängig voneinander – der eine explizit, der andere implizit – die ‚mitteleuropäische Minimalwohnung‘ (Saal / Diele – Stube – Kammer) nach. Auch diese drei Raumarten und ihre Funktionalität(en) ziehen sich durch viele andere Beiträge, wo sie exemplarisch weiter beleuchtet und aus der Perspektive der jeweiligen Fachdisziplin weiter ausdifferenziert werden (z.B. V. Bůžek, der hauptsächlich repräsentative oder halbrepräsentative Räume und ihre Wappenbildprogramme untersucht). V. Ohlenschläger und C. Feller verweisen in ihren Beiträgen darauf, dass Hofordnungen beziehungsweise Inventare oft räumlich strukturiert waren und so quasi zu Führern für einen „Rundgang durch die fürstliche Residenz“ werden, womit übrigens auch ihre auf den ersten Blick verwirrende Systematik erklärt wird.

Eine räumlich weitere Perspektive nehmen S. Felgenhauer-Schmiedt und B. Štular ein. Erstere untersucht das Verhältnis der Wüstung Hard zu seinem Herrenhof, letzterer die soziale Kontextualisierung einer weithin sichtbaren slowenischen Burg in ihrer Landschaft. Der Ansatz, statt der Räumlichkeiten in den Burgen die Rolle der Burgen im sie umgebenden Raum zu untersuchen, bereichert den Band um eine weitere wichtige Facette.

Nach der Lektüre dieses nicht zuletzt sehr schön aufgemachten Bandes wird man beim nächsten Burgenbesuch jedenfalls sehr viel informierter über die Funktion bestimmter Räumlichkeiten oder Bauteile raten – die Lust daran wird dadurch zweifellos größer.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christina Schmid / Gabriele Schichta / Thomas Kühtreiber / Kornelia Holzner-Tobisch (Hg.): Raumstrukturen und Raumausstattung auf Burgen in Mittelalter und Früher Neuzeit.
Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit Band 2.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2015.
541 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783825363246

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