Bildungsbürger, Weltanschauungsliterat und Wagner-Verehrer
Sven Brömsel wirft neues Licht auf Houston Stewart Chamberlain
Von Jens Flemming
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm 30. September 1923, wenige Wochen vor dem November-Putsch in München, hatte Adolf Hitler einen Auftritt in der Wagner-Stadt Bayreuth. Anlass war der von der Ortsgruppe der NSDAP organisierte „Deutsche Tag“, an dem sich versammelte, was in der rechtsradikalen Szene der frühen Weimarer Republik Rang und Namen hatte. Hitler hielt eine seiner üblichen Reden und machte danach Houston Stewart Chamberlain seine Aufwartung, dem Schwiegersohn Cosima Wagners, der in seinem Tagebuch mit einem einzigen Wort reagierte: „Erhebend!“ Ein halbes Jahr später, als der Besucher wegen Hochverrats bereits im Landsberger Gefängnis saß, veröffentlichte Chamberlain einen an den NS-Führer gerichteten Geburtstagsgruß in der Presse. „Dieser Mann“, heißt es da, habe „gewirkt wie ein Gottessegen, die Herzen auffrischend, die Augen auf klar erblickte Ziele öffnend, die Gemüter erheiternd, die Fähigkeit zur Liebe und Entrüstung entfachend, den Mut und die Entschlossenheit stählend“.
Wendungen wie diese verraten enthusiastische Zustimmung. Sven Brömsel, der die Passage in der Einleitung zu seiner Studie über Chamberlain zitiert, nennt sie „überraschend und peinlich“. Völlig aus der Luft gegriffen war indes das Wohlwollen nicht, das der Literat dem fanatischen Agitator Hitler entgegenbrachte. Beide verband die Aversion gegen die Juden und die moderne Kultur, gegen Universitäten und akademische Wissenschaft, gegen die Welt der Demokratie, der liberalen Bürgerlichkeit und der bürgerlichen Zivilisation, beide trafen sich in der Überzeugung, dass es Rassen verschiedener Wertigkeit gebe und das Judentum allein nach materiellem Besitz und Weltherrschaft strebe. Anders als Hitler hat Chamberlain die Juden nicht gehasst, war nicht erfüllt von antisemitischen Vernichtungs-Obsessionen. Sie seien keine Feinde „germanischer Civilisation und Kultur“, konzedierte er 1899; sie zu ermorden, lag jenseits seiner Vorstellungskraft.„Nieder mit allen Judenverfolgungen“, proklamierte er im Sommer 1918, als der erwartete Sieg der deutschen Waffen in die Ferne zu rücken begann. Man möge den Juden wie allen Fremden „unverletzlichen Schutz“ gewähren und den Alteingesessenen unter ihnen „weitergehende Vorrechte“ einräumen, notierte er. Dabei sollte man ihnen aber „genau auf die Finger“ schauen, lautete der Appell an seine Leser: „Räumen Sie ihnen kein politisches Recht und kein Recht auf Grundbesitz ein.“ Dies freilich reichte deutlich hinaus über den allenthalben anzutreffenden Common-Sense-Antisemitismus, wusste sich vielmehr im Einklang mit essentiellen Forderungen des völkischen Radikalismus. Deren Exponenten nämlich hatten bereits früh – und im späten Kaiserreich zunehmend lauter – gefordert, die Emanzipation zu revidieren und die Juden unter Sonderrecht zu stellen, was faktisch auf den Entzug der Bürgerrechte und auf gesellschaftliche Marginalisierung hinauslief. Derartige Perspektiven erscheinen Brömsel „paranoid“, tatsächlich entsprachen sie dem, was – mit graduellen Abweichungen – zunächst auch Hitler in der frühen Weimarer Republik propagierte; insofern bezeugen sie eher ideologische und praktisch-politische Nähe zum Nationalsozialismus als das Gegenteil. Der Hinweis des Autors, dass in der herangezogenen Äußerung keine „Intention des Völkermords“ zu erkennen sei, ist sicher richtig, wenn auch ein wenig banal.
Beachtung verdienen jedoch Erkenntnisinteressen und Ergebnisse von Brömsels Untersuchungen. Denn sie stellen den Protagonisten hinein in Debatten und intellektuelle Netzwerke der Zeit um 1900, sehen ihn nicht – wie sonst häufig üblich – primär als Vorläufer und Wegbereiter des Nationalsozialismus, sondern als Bildungsbürger auf der Suche nach Welterklärung, öffentlicher Resonanz und Anerkennung. Chamberlain war geborener Brite, hatte sich nach naturwissenschaftlichen Studien an der Universität Genf in Dresden und Wien niedergelassen, ehe er in Bayreuth seine eigentliche Heimstatt und Berufung fand. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau heiratete er 1908 Eva Wagner, gleichsam die Beglaubigung jener Rolle, die er bis zu seinem Tod im Januar 1927 für sich reklamierte, nämlich die eines Gralshüters des Wagnerʼschen Erbes. Bereits in der Mitte der 1870er-Jahre hatte er mit der ihm eigenen Überhöhung und Hybris bekundet, dass „die ganze Zukunft Europas“ – und damit war nichts Geringeres als die Zukunft der globalen „Zivilisation“ gemeint – in Deutschlands Händen liege. Ausdruck und Gewährsmann dafür war ihm Richard Wagner, dem seine uneingeschränkte Bewunderung galt. In Bayreuth ließ er sich 1916 naturalisieren, focht wie schon zuvor für Deutschtum und kulturellen Vorrang der Deutschen, für deren ausgreifende Ziele im Krieg er sich vehement in die Bresche warf.
Obwohl Antisemit pflegte er relativ intensive Kontakte zu einer Reihe von Juden. Die größtenteils unveröffentlichten Briefe, in denen sich dies niederschlug, hat Brömsel zusammengetragen und ausgewertet, jeweils geordnet nach Korrespondenzpartnern. Das beginnt mit Walther Rathenau, den der Autor wie Chamberlain als „Sehnsuchtsdeutschen“ charakterisiert, und endet mit Martin Buber. Mit Rathenau, dem Organisator der deutschen Kriegswirtschaft, kam er allerdings auf keinen freundlichen Fuß. Gegen ihn führte er 1916 all jene im Lager der politischen Rechten virulenten Ressentiments ins Feld, die Rathenau – in der Formulierung etwas verdeckt, in der Tendenz aber eindeutig – mit „Kriegswucher“ und innerer Zersetzung identifizierten. Die Fühlung zum Kulturzionisten Buber hingegen war freundlich, blieb aber kurz und unverbindlich. Dieser hatte Chamberlain im Mai 1905 eingeladen, an seiner Reihe „Die Gesellschaft“ mitzuarbeiten, einer Sammlung sozialpsychologischer Monografien. Der zunächst unbestimmt gehaltenen Antwort, etwas über Rassen zu liefern, folgte nach einigen Monaten die Absage wegen Arbeitsüberlastung.
Was genau es war, das Bubers Interesse geweckt hatte, lässt sich offenbar nicht mehr klären. Vermutlich war es das Renommee, das Chamberlains Werk über die Grundlagen des 19. Jahrhunderts genoss, das, erstmals publiziert 1899, im Jahr 1906 die sechste Auflage erlebte: in den bürgerlichen Schichten eine Art Kultbuch, das Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen veranlasste, den Verfasser als „leidenschaftlichen Ergründer und Verkünder deutscher Kultur“ zu adeln. Möglicherweise war Buber auch beeindruckt von der Tatsache, dass Chamberlain 1905 die vom Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt verantwortete Reihe „Die Kultur“ mit einem Beitrag über „Arische Weltanschauung“ eröffnet hatte. Chamberlain kannte also das Genre und wusste um die an ihn dabei gerichteten Erwartungen. Buber seinerseits dürfte über die Positionen des ins Auge gefassten Beiträgers nicht im Unklaren gewesen sein. Sicher hat er ihn nicht für einen Rassenantisemiten gehalten, ihm selber aber war manches in Chamberlains Werk nicht völlig fremd, vielleicht hat er so etwas wie geistige Nähe gespürt. Brömsel weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf eine „Überlappung von völkischem Zionismus und germanophilem Denken“ hin. Buber jedenfalls hatte offenbar keine Probleme, Intellektuelle verschiedenster Couleur, auch solche konservativer bis völkischer Färbung, für sein Unternehmen anzuwerben, neben Chamberlain im Übrigen den Verfechter eines spezifischen Deutschchristentums, den 1902 aus dem Pfarramt geschiedenen Arthur Bonus.
Der eher beiläufige Kontakt mit Buber spricht dafür, dass es um 1900 weniger Berührungsängste gab, als wir heute bisweilen glauben möchten. Für die Tatsache, dass die divergierenden kulturellen Milieus damals keineswegs derart gegeneinander abgeschottet waren wie in späteren Zeitläuften, liefert Brömsel in seiner dicht kontextualisierten, wesentliche Elemente der synkretistischen Epoche um 1900 erhellenden Intellektuellengeschichte zahlreiche Beispiele, etwa wenn er unter anderem die Briefwechsel zwischen Chamberlain und Maximilian Harden, den streitfreudigen Herausgeber der „Zukunft“, und dessen ebenso wenig konfliktscheuen Kollegen Karl Kraus, den Schriftleiter der „Fackel“, analysiert.
Derjenige, der Chamberlain an den Münchener Verleger Hugo Bruckmann vermittelte, war – und das ist nicht ohne ironische Pointe – der Wagner-Dirigent Hermann Levi, der am ‚Hof‘ der Wagners trotz seiner enormen Verdienste um den Komponisten im Blick auf den dort verwurzelten Antisemitismus eher ein geduldetes Dasein fristete, jedoch von Chamberlains antiakademischen Affekten fasziniert war, unbeschadet der antisemitischen Vorurteile, aus denen dieser kein Hehl machte. 1912, ein Dutzend Jahre nach Levis Tod, brachte er sie noch einmal ungeniert zu Gehör, indem er sie Johann Wolfgang von Goethe in den Mund legte: „Wir dürften nicht bloß keinen jüdischen Professor an unseren Hochschulen, sondern keinen jüdischen Künstler, Dichter, Naturforscher, Politiker, Offizier, Richter, Beamten, Literaten, Journalisten […] unter uns dulden; mögen die Juden an ihrer eigenen Kultur arbeiten; das wäre ersprießlich; an unserer Kultur, welche das Prädikat einer ‚höchsten‘ verdient, dürften wir ihnen keinen ‚Anteil‘ gewähren.“
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