Das grenzenlose Na Und

Sandra Weihs nimmt sich in ihrem Debütroman „Das grenzenlose Und“ großer Themen an – und degradiert sie damit leider zu Belanglosigkeiten

Von Sandy LunauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Lunau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Teenager hat man es nicht leicht. Eltern, Lehrer, Mitschüler – alle wollen unser Bestes, dabei haben sie doch keinen Plan vom Leben und nur man selbst den Durchblick, der nicht selten darin besteht, ausnahmslos alles verabscheuenswürdig zu finden. Als der Adoleszenz entwachsener Mensch erkennt man in der Regel in einer solchen Weltsicht die Selbstgerechtigkeit und Arroganz, die man damals allen anderen, nur eben nicht sich selbst vorzuwerfen geneigt war. Mitgefühl und Empathie angesichts dieses tief empfundenen Leidens an der Welt und der Gesellschaft sollte man sich allerdings nicht vollends abgewöhnen, und sei es nur der Erinnerung an das eigene Aufbegehren und Verzweifeln in jungen Jahren.

Marie – die selbstmordgefährdete Protagonistin aus Sandra Weihs Debütroman „Das grenzenlose Und“ – stellt dieses Mitgefühl aber auf eine harte Probe. Selten hat man die Hauptfigur eines Coming-of-Age-Romans nervtötender und selbstgefälliger erlebt. Das Aufkeimen von Empathie angesichts der nun wirklich schweren Kindheit und der belastenden Wohnsituation im Heim wird leider beharrlich untergraben. Dabei lässt sich nur schwer entscheiden, was den Leser mehr davon abhält, mit dieser Figur zu fühlen: die altklugen Plattitüden, die als zynische Ernüchterung verkauft werden, wie etwa direkt auf der ersten Seite die radikale Verurteilung der Sozialarbeiter im betreuten Wohnprojekt: „Die Betreuerinnen halten an einer pseudoromantischen Vorstellung vom Mittelalter fest, anstatt der Konkurrenz des globalisierten Kapitalismus ins Auge zu sehen.“ Man fragt sich nicht nur, was der globalisierte Kapitalismus mit dem Versuch, belasteten Jugendlichen zu einer gelingenden Kommunikation zu verhelfen zu tun haben soll, sondern auch, was genau hier das Mittelalter verloren hat, das nicht unbedingt einen Ruf als Zeitalter der überbordenden Nächstenliebe genießt. Oder ist es das versatzstückhafte dieser Figur, die mit ihrer Cobain-Verehrung, ihrem Hang zu wütend-melancholischer Rockmusik und ihrem Faible für menschenverachtende Philosophie (hier Cioran, an anderer Stelle wäre es womöglich Nietzsche gewesen) nicht über das Klischeebild des deprimierten, ausgegrenzten Teenagers mit beschissenem Elternhaus hinaus kommt.

Wenn diese Figurengestaltung die Rezeptionserfahrung der ständigen Frustration und Irritation, die womöglich auch Eltern Pubertierender nicht selten empfinden, bewirken soll, so muss man zugestehen, dass der Effekt ausgezeichnet gelingt. Nun handelt es sich hier aber nicht um eine x-beliebige pubertierende Göre, sondern um eine junge Frau mit einer schwerwiegenden Störung, über die leider noch viel zu wenig bekannt ist und über die sich deshalb hartnäckige Mythen und Vorurteile halten. Weihs gelingt trotz ihres Backgrounds als Sozialarbeiterin keine glaubwürdige und berührende Darstellung der Borderline-Störung. Stattdessen verkommt dieses Krankheitsbild in ihrem Roman zu einer stark ausgeprägten Form pubertärer Aufmüpfigkeit. So ist beispielsweise die Geringschätzung für soziales Miteinander so wenig differenziert ausgestaltet, dass man wenig von der für Borderliner typischen Ambivalenz spürt, dafür aber viel vom überheblich-zynischen Eigenbrötlertum des an der Gesellschaft leidenden Teenies. Denn im Grunde sehnen die Betroffenen sich nach menschlicher Nähe und suchen diese auch aktiv. Fühlen sie sich aber jemandem nahe, sehen sie sich nicht im Stande diesen Zustand zu ertragen und sabotieren die Beziehung systematisch.

Zwar scheinen Ansätze für dieses Verhalten in der ausufernden Promiskuität der Protagonistin aufzutauchen. Leider erscheint aber auch hier das Krankheitsbild nicht stimmig, hat Marie doch eine auffallend pragmatische Einstellung zum Sex und nutzt diesen eher als Mittel, sich ihre Mitmenschen vom Hals zu halten, als dem Glauben aufzusitzen, sie könne darüber Nähe erfahren. Das Krankheitsbild der Borderline Störung erscheint sehr eindimensional als fundamentaler Lebensüberdruss gepaart mit Selbstverletzung. Die Störung wird so gefährlich bagatellisiert, da man sich nur schwer des Eindrucks erwehren kann, es handle sich hier um eine wenn auch stark ausgeprägte Phase pubertären Schwermuts. Selbst die drastische Darstellung der Selbstverletzung kann darüber nicht hinweghelfen, kommt die Motivation dahinter doch arg abgedroschen daher: „Ich will meine Mutter spüren lassen, dass sie Schuld hat an mir und daran wie ich bin.“ Das Ende des Romans, das schließlich nahelegt, Marie habe ihren Überdruss am Dasein zumindest teilweise durch die Beziehung zu Emmanuel, dem todkranken Schönling, der durch sie die Angst vor dem Tod überwinden möchte, relativiert, legt ebenfalls nahe, man müsse Borderline-Kranken bloß den Wert des Lebens näher bringen, eine Sichtweise, die der Komplexität des Phänomens nicht gerecht wird und die Therapieresistenz Betroffener zu bloßer Engstirnigkeit degradiert.

Ein wirklicher Lichtblick des Textes sind allerdings die Nebenfiguren, allen voran Emmanuels Großmutter, die als ehemalige Puffmutter eine erfrischende Brise Extravaganz und Lebensweisheit in den drögen und selbstgefälligen Zynismus der Hauptfigur bringt. Auch Willi, der unkonventionelle Therapeut ist zumindest durch den Comic Relief, den er bietet eine Figur, für die man bei der Lektüre dankbar ist, auch wenn seine Methoden hochgradig unglaubwürdig sind und wahrscheinlich jedem therapeutisch geschulten Leser die Haare zu Berge stehen lassen.

Der Roman krankt neben seiner unglaubwürdigen Protagonistin und seiner flapsigen Sprache und Plotführung aber auch an einer Tatsache, für die er wenig kann, nämlich dem Vergleich mit einem überaus populären Konkurrenten, der sich durch die Thematik des todgeweihten Jugendlichen leider zwangsläufig ergibt. Die Rede ist von „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ von John Green. Auch wenn man diesem Text durchaus seine hollywoodeske Handlung im Sinne von hässliches Entlein trifft Prince Charming zum Vorwurf machen kann, so gelingt hier doch gekonnt, woran „Das grenzenlose Und“ kläglich scheitert: die Darstellung von Leid und die Herstellung von Empathie, nicht zuletzt durch die überzeugende und stimmige Figurengestaltung, die nur selten in die Klischee-Kiste greift. Sandra Weihs hat sich meiner Ansicht nach an den Themen Borderline und Krebs schlicht übernommen, ein Eindruck, der womöglich auch der Tatsache geschuldet ist, dass gerade mal knapp 180 Seiten für eine tiefgehende Behandlung so komplexer Themen einfach nicht ausreicht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sandra Weihs: Das grenzenlose Und. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2015.
188 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627002206

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