Mit dissoziativer Leichtigkeit
Drei „Gefängnis“-Texte eröffnen die kommentierte Studienausgabe der Werke Emmy Hennings
Von Johannes Schmidt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Emmy Hennings – der Name ist gewiß fingiert“ erklärte der Rezensent des „Neuen Wiener Journals“ am 17. Mai 1919 in einer Besprechung von Emmy Hennings gerade erschienenem Roman Gefängnis. Das verwundert, war die Autorin in der Kulturwelt doch längst keine Unbekannte mehr: Nur drei Jahre zuvor hatte sie gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Hugo Ball das Cabaret Voltaire in Zürich gegründet, die Keimzelle der Dada-Bewegung. Auch davor und danach stand sie auf der Bühne, singend und schauspielernd, in Theaterproduktionen und im Kabarett. Die Unkenntnis des Wiener Kritikers war aber kein Einzelfall, denn fast alle frühen Rezensionen von Hennings Debüt spekulieren über den Namen der Autorin.
Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit einer anderen Gemeinsamkeit dieser Kritiken: Immer wieder ist die Rede vom Literatur gewordenen „Erlebnis“ der Autorin, verbunden mit einer Erörterung, ob es sich beim Gefängnis-Text nun um einen Roman, eine Autobiografie oder eine Sozialstudie handle. Die Parteizeitung der USPD nutzte die Rezension vom 25. Juni 1919 gar, um ausführlich auf die Missstände des deutschen Gefängniswesens hinzuweisen, eine Anklage, die ihre Kraft nur daraus bezog, dass das im Roman Geschilderte auf realer Erfahrung beruhte. Das vermeintliche Pseudonym „Emmy Hennings“ diente in dieser Logik also vor allem als Selbstschutz, als Garantie, dass die Offenheit hinsichtlich der eigenen Inhaftierung keine negativen Folgen für die Autorin haben würde. Viel Richtiges steckt in dieser falschen Überlegung: Hennings war wirklich mehrfach inhaftiert, ein Umstand, dessen traumatische Wirkung auf sie noch Jahre später spürbar bleiben sollte, sie hatte aber keinerlei Bedenken, dieses „Erlebnis“ (vielfach gebrochen und in hohem Maße literarisiert) für ihre schriftstellerische Tätigkeit zu gebrauchen, ohne sich hinter einem falschen Namen zu verstecken, zumal wenigstens in ihrem Bekanntenkreis die Gefängnisstrafen kein Geheimnis waren.
Die Resonanz auf das Debüt der unbekannten Autorin war ganz enorm. Knapp 40 Besprechungen, Hinweise und Erwähnungen aus dreizehn Jahren werden in dem von Christa Baumberger und Nicola Behrmann herausgegebenen Band, der zugleich den Auftakt der bei Wallstein erscheinenden kommentierten Studienausgabe der Werke und Briefe Hennings bildet, abgedruckt, darunter mehrere euphorische Texte des Luganer Nachbarn Hermann Hesse, mit dem Emmy Hennings und Hugo Ball seit den 1920er-Jahren befreundet waren. Große Einigkeit herrscht in all diesen Artikeln über die hohe Qualität, aber auch die Eigentümlichkeit des Romans, der dennoch aus vielerlei Gründen kein großer Erfolg wurde und schließlich ganz verschwand – gemeinsam mit dem Erich Reiss Verlag, der 1936 von den Nationalsozialisten aufgelöst wurde.
Gefängnis, Das graue Haus und Das Haus im Schatten, die drei Romane, die in der vorliegenden Ausgabe versammelt sind, stehen in engem Zusammenhang. Während Das graue Haus das Sujet von Gefängnis variiert, stellt Das Haus im Schatten eine umfassende Bearbeitung des Debüts dar, die Hennings Anfang der 1930er-Jahre in Angriff nahm, die aber, ebenso wie Das graue Haus, bisher nicht publiziert wurde. Beide Texte liegen lediglich als Typoskript vor, der eine im Hesse-Archiv in Marbach, der andere im Berner Hennings-Nachlass.
Alle drei Werke unterscheiden sich stilistisch stark voneinander und gewinnen dadurch eine Eigenständigkeit, die bei der Gleichheit der Themen und Handlungsführungen nicht unbedingt zu erwarten wäre. Gefängnis ist in einem repetitiven, leicht lesbaren Stakkato geschrieben („Telegrammstil“ heißt es in den zeitgenössischen Rezensionen), das den Leser dazu verführt, leichthin über den Text zu fliegen. Das passt hervorragend zur gleichmütigen Beschwingtheit der Ich-Erzählerin (Emmy), die davon berichtet, wie sie auf ihre Verhandlung wartet – wessen sie beschuldigt wird, bleibt ihr Geheimnis, nur einmal deutet sich ein Diebstahl an –, aus Ungeduld einen Brief an die Polizei schickt, in dem sie fragt, ob sie für ein Engagement auf kurze Zeit nach Frankreich gehen dürfe, daraufhin wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genommen wird und schließlich ihre vierwöchige Haftstrafte absitzt.
Unter dieser Lockerheit vorgebenden Oberfläche brodelt es jedoch gewaltig: Jeder verstörende Aspekt des behördlichen Verhaltens wird registriert, die traumatisierende Haftzeit schonungslos und mit unerhörter Wucht erfahrbar gemacht. Diese dissoziative Leichtigkeit macht Gefängnis zu einem radikalen Werk, das in seiner Konzentration auf das Erleben der Erzählerin ganz ungewöhnlich ist. Von Dada ist hier nichts mehr zu spüren, der Abschied, den Hennings (und Ball) schon 1916 von der Bewegung genommen hatten, war ein endgültiger; man würde zu kurz greifen, wollte man die Schriftstellerin Hennings zur Dadaistin erklären.
Das graue Haus folgt in seiner Dramaturgie dem Roman Gefängnis. Zugleich konzentriert es sich stärker auf die Vorgeschichte der Haftstrafe, also auf die Verhaftung und die Verhandlung – beide werden sehr viel ausführlicher erzählt als im Debüt. Hennings schreibt nach wie vor leicht und eingängig, schraubt die Repetition aber zurück und lässt mehr Raum für die anderen Figuren ihrer Geschichte. Während des Weihnachtsfests, das die Erzählerin bereits in der Haftanstalt verbringt, bricht der Text ab – möglicherweise unvollendet, denn die beiden anderen Romane enden mit der Freilassung. Dadurch verschiebt sich der Fokus, weg von den Qualen der Gefangenschaft, hin zum kaum weniger belastenden Leben als Verdächtige und Verurteilte.
Das Haus im Schatten schließlich verbindet die beiden vorigen Texte zu einem neuen. Der umfangreichste Roman der Sammlung ist zugleich der am wenigsten radikale. Die Ich-Erzählerin gerät stärker aus dem Fokus, dafür werden neue Figuren eingeführt und das übrige Personal generell viel stärker charakterisiert. Das Spiel mit Autobiografie und Fiktion wird verfeinert (etwa die vielen Namen der Protagonistin, die allesamt auch von Hennings gebraucht wurden, ohne dass die Erzählung en détail ihre Strafen nachvollziehen oder gar zum Schlüsselroman verkommen würde), intertextuelle Bezüge und religiöse Anspielungen gewinnen an Raum – die Wendung der Familie Ball-Hennings zum Katholizismus wurde wie 100 Jahre zuvor die der Romantiker viel belächelt – und der Stil wird ruhiger und abgeklärter. Man kann diesen Roman im Vergleich zu seinen Vorgängern kaum anders als „reif“ nennen, wobei er durch die Auffächerung des in Gefängnis Angelegten an Radikalität und Eindrücklichkeit merklich einbüßt, ohne jedoch eine weniger lohnende Lektüre abzugeben.
Im Anhang bietet die von Cornelia Feyll und Friedrich Forssman gestaltete Ausgabe, die die gewohnt hohe Qualität der Bücher aus dem Wallstein Verlag hält, einen umfangreichen Kommentar, der nicht nur die vielen Anspielungen auf die Bibel und andere Texte auflöst, sondern auch die Entwicklungen der drei Textstufen, soweit vorhanden, nachvollzieht. Hinzu kommt ein reichhaltiger Abbildungsteil mit Illustrationen und Reproduktionen der zugrundegelegten Textträger, die bereits erwähnte große Sammlung der Rezeptionszeugnisse sowie ein sehr informatives Nachwort der Herausgeberin Christa Baumberger. Zur Wiederentdeckung der Schriftstellerin Hennings sind dem Leser so alle nötigen Mittel an die Hand gegeben, und es ist zu hoffen und zu wünschen, dass die folgenden Bände der Studienausgabe rasch folgen und das hohe Niveau dieses Bandes halten werden.
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