Von wegen Moralapostel

David Edmonds zeigt in seinen philosophisch-ethischen Gedankenexperimenten, dass Moral ein dehnbarer Begriff ist

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine todbringende Straßenbahn rast auf eine Gruppe von fünf Menschen zu. Wir können ihren Tod nur verhindern, wenn wir die Straßenbahn auf ein Nebengleis umleiten. Doch dort wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach einen einzelnen Menschen töten. Sollten wir die Weiche betätigen oder nicht? Solche, von Philosophen und Psychologen erdachte Gedankenexperimente zu moralischen Dilemmata nennt man „Trolley-Experimente („Trolley“ bedeutet Straßenbahn auf Englisch). Die oben geschilderte Situation ist die Ursprungsversion des Trolley-Experimentes, das fortan immer komplexer gestaltet wurde. Eine weitere Variante gab David Edmonds Buch „Würden SIE den dicken Mann töten?“ seinen Titel: Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Herabstoßen eines unbeteiligten dicken Mannes von einer Brücke vor die Straßenbahn könnte diese zum Stehen gebracht werden. Würden Sie also den dicken Mann töten?

In insgesamt vier Kapiteln streift der Oxforder Philosoph und Radiomoderator David Edmonds durch die Trolley-Forschung und wendet sich dabei auch Fragen nach dem Status von Intuition zu. Er überlegt, inwiefern Moral eine Frage der Rationalität oder der Emotionalität ist, er untersucht das Verhältnis von Neurowissenschaften und Moral und stellt neue wissenschaftliche Bewegungen wie die experimentelle Philosophie (auch: x-phi) vor. Dabei driftet Edmonds in seinen Erklärungen nie ins Theoretische ab. Immer ist er eng am Praxisbeispiel und den möglichen Folgen einer Entscheidung. Das Muster bleibt dasselbe: Unheil kann nur durch Unheil verhindert werden. Dabei veranschaulichen gut ausgewählte Fälle aus dem Weltgeschehen die Relevanz seiner Arbeit, etwa die vom Kannibalismus auf hoher See und in den Bergen, die beide einen klaren Bezug zu bekannten Fällen aufweisen. An anderer Stelle kommt die Frage auf: Was spricht dagegen, einen kerngesunden, jungen Krankenhausbesucher zu töten, wenn man mit seinen Organen fünf Patienten das Leben retten könnte? Oder: Hat Churchill richtig gehandelt, als er im Zweiten Weltkrieg Fehlinformationen streuen ließ, damit die Deutschen ihre Raketen weiter in die Arbeitergegenden im Süden Londons schickten, weil sie glaubten, damit das dichtbesiedelte Zentrum der Stadt und der Regierungsmacht zu treffen?

Edmonds gibt keine Antworten, er stellt Fragen. Auch so entsteht Erkenntnis. Edmonds ist vorgeworfen worden, in seinem Buch verschiedene philosophische Positionen vorzustellen, selbst aber keine einzunehmen. Doch das greift zu kurz. Ihm geht es um die Erinnerung und die zwei verschiedenen Positionen der utilitaristischen und der deontologischen Tradition. Edmonds geht es um die Aufweichung starrer Moralvorstellungen und den Hinweis auf die Dringlichkeit eines ständigen Reflexionsprozesses unter minimaler Abwandlung externer Faktoren. Die Gedankenexperimente können bereichernd sein, nicht nur für die individuelle Welttheorie, sondern auch vor dem Hintergrund der aktuellen Zunahme an moralisch aufgeladenen Argumentationsformen in Bezug auf gesellschaftliche Themen in Deutschland und Europa

Titelbild

David Edmonds: Würden SIE den dicken Mann töten? Das Trolley-Problem und was uns Ihre Antwort über Richtig und Falsch verrät.
Übersetzt aus dem Englischen von Ute Kruse-Ebeling.
Reclam Verlag, Ditzingen 2015.
230 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783150110362

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