Intellektualität und Exzessivität
Über Bärbel Reetzʼ eindrückliche Paarbiografie von Emmy Hennings und Hugo Ball
Von Martin Ingenfeld
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEmmy Hennings und Hugo Ball bilden eines der schillerndsten Paare der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Angesichts des Ersten Weltkrieges in die Schweiz emigriert, wurden sie dort vor 100 Jahren zu Mitbegründern der Dada-Bewegung und zu deren ersten Dissidenten. Die in Berlin lebende Autorin Bärbel Reetz, die bereits im Jahr 2001 eine umfassende Lebensgeschichte der Emmy Ball-Hennings vorlegte, hat dieses Buch nun inmitten eines angesichts des Dada-Jubiläums publizistisch vielbestellten Feldes zur Doppelbiografie dieses „wunderlichen Paares“ ausgebaut. Dabei handelt es sich nur um einen konsequenten Schritt, hat sich doch Emmy Ball-Hennings spätestens nach dem Tod Hugo Balls intensiv um das Erbe ihres Mannes gekümmert und selbst mehrere Ball-Biografien verfasst. Reetz ihrerseits gelingt es mit ihrem beeindruckenden Buch, erkennbar Ergebnis jahrelanger Recherchen, eine wohlausgewogene und sehr differenzierte Studie über das Paar vorzulegen, in der Hugo Ball gleichrangig an die Seite seiner Frau tritt.
Nichtsdestoweniger steht deren Leben, da sie nicht nur ein Jahr älter war als ihr Mann, sondern ihn auch um fast 21 Jahre überlebte, am Anfang und Ende des Bandes. Während jedoch die Zeit der Witwenschaft der Emmy Hennings nur einen knappen Schlussteil einnimmt, entfällt der größte Teil des Buches auf die im Grunde relativ kurze gemeinsame Zeit des Paares zwischen 1915 und 1927. Hinzu kommen im ersten Drittel des Bandes Kindheit und Jugend der beiden, von Reetz einigermaßen parallel zueinander präsentiert. Wie Schlangenlinien nähern sich ihre Lebenswege immer wieder einander an, um sich dann wieder zu entfernen – räumlich wie beruflich –, ehe sie sich aneinander binden. Die 1885 in Flensburg geborene Emma Cordsen kommt nach ihrer frühen ersten Ehe mit Joseph Hennings zu einer Theatertruppe, mit der sie in wechselnden Engagements durch das Land zieht. Sie bricht so mit der schlichten bürgerlichen Lebenswelt ihrer Herkunft, während ihre 1906 geborene Tochter Annemarie zunächst bei der Großmutter in Flensburg untergebracht wird. Emmy tingelt durch Deutschland, kommt mit der Berliner und Münchner Boheme in Berührung, prostituiert sich, wird drogenabhängig und erkrankt 1910 schwer an Typhus. Der aus dem pfälzischen Pirmasens stammende Ball andererseits war nach dem gegen familiäre Widerstände errungenen Abitur und einer abgebrochenen Nietzsche-Dissertation 1910 zu einer dramaturgischen Ausbildung nach Berlin gegangen; 1912 gelangt er so an die von ihm benannten Münchener Kammerspiele. Und dort, in München, begegnen die beiden auch einander.
Abgesehen von der unübersichtlichen Literaturlage besteht eine nicht geringe Schwierigkeit im Umgang mit diesen Biografien in der von Hugo Ball und Emmy Hennings selbst intensiv gepflegten literarischen (Auto-)Biografik. Insbesondere Emmy Henningsʼ nach dem Tod ihres Mannes verfasste Bücher, mit denen sie die eigene Lebensgeschichte wie die ihres Mannes verarbeitet – beispielsweise „Hugo Balls Weg zu Gott“ (1931) oder „Blume und Flamme“ (1938) –, erweisen sich in ihrem Spiel mit Realität und literarischer (Auto-)Fiktion als unzuverlässige Quellen. Stark sind dennoch die davon ausgehenden Versuchungen des Biografen, das eine ins andere hineinzulesen: das Leben von Autor und Autorin in ihr Schreiben, ihr Schreiben in ihr Leben. Nicht zuletzt Kindheit und Jugend betreffend liegen unabhängige, nicht literarisch fiktionalisierte Quellen kaum vor – eine Schwierigkeit, der sich Reetz bewusst ist und die sie in ihrem Buch auch reflektiert. Das ändert sich im Falle von Emmy Hennings erst, als sie durch ihr Eintauchen in die Kreise der Boheme selbst zum Gegenstand der Aufzeichnungen anderer Autoren wird, beispielsweise von Erich Mühsam, dessen Tagebücher reiches Zeugnis vom Lebenswandel der Emmy Hennings ablegen; sie wird dadurch, wie Reetz schreibt, „nachweisbar, […] eindeutiger und zugleich vielschichtiger“.
Als sich das Paar kennenlernt, die kapriziöse, von ihrem exzessiven Lebensstil gezeichnete Hennings und der intellektualistische Ball, stößt das bei Freunden eher auf Irritation. Ball ist für sie zunächst nur einer von vielen Bewunderern. Es dauert einige Zeit, bis sie sich auf ihn einlassen kann. Seine Handschrift fasziniert sie: „Wie gestochen sahen die Buchstaben aus. Ich dachte mir, so malt etwa ein Mönch in einsamer Zelle“. Und in diesem Sinne ist es vielleicht gerade ihre Neigung zum Katholizismus – 1911 konvertiert sie zum katholischen Glauben –, die sie zu Ball hinzieht, in dessen Ernsthaftigkeit sie, so Reetz, einen Gegenpart für ihr religiöses Empfinden sieht und erkennt, „daß dies der Mann war, mit dem ich beten konnte“. Nachdem Emmy Hennings aus einer kurzen Inhaftierung entlassen wird, lebt sie ab Anfang des Jahres 1915 mit Hugo Ball zusammen, geht mit ihm erst nach Berlin, dann weiter nach Zürich. Dem unsteten Leben am Rande der Armutsgrenze setzt das freilich kein Ende. Es folgen die bekannte Dada-Periode, Hugo Balls Arbeit für die „Freie Zeitung“ in Bern und, nach der Hochzeit im Februar 1920, der rasch scheiternde Versuch einer Rückkehr nach Deutschland. Im Herbst 1920 gehen die beiden schließlich ins Tessin, wo sie – unterbrochen von Aufenthalten in Italien – fortan wohnen. Die intellektuellen Wege und Umwege, die Ball von Friedrich Nietzsche über das Theater und Dada zu Michail Bakunin, zum Pazifismus und schließlich zu frühchristlichen Heiligen und zur katholischen Kirche führen, spielen auch bei Reetz eine zentrale Rolle. Im Jahr 1922 kehrt auch Hugo Ball zum katholischen Glauben zurück, dem er sich mit literarischem Eifer widmet, so etwa in Büchern wie „Byzantinisches Christentum“ oder „Die Folgen der Reformation“.
Es ist anrührend, die Geschichte eines Paares zu lesen, das während seiner an Wendungen und Windungen nicht armen gemeinsamen Zeit immer wieder mit der Schwierigkeit zu kämpfen hat, mit dem eigenen Schaffen Zustimmung, Anerkennung und auch Erfolg zu gewinnen. Vielmehr liest es sich wie eine Geschichte sich immer wieder erschöpfender Geldmittel, von Bettelbriefen, von Umzügen, geradezu Fluchtbewegungen an Orte mit geringeren Lebenshaltungskosten, von gescheiterten Projekten, gescheiterten Freundschaften und von Krankheiten, auch von Krisen ihrer Beziehung; dann aber immer wieder auch von neuen Freundschaften, gelingenden Projekten, gewonnener mäzenatischer Unterstützung und so weiter. Letztlich bleibt den beiden der literarische Erfolg, den sie nun dank gewachsenen literarhistorischen Interesses und der auch durch Bücher wie der von Reetz genährten Faszination für ihr gemeinsames Leben postum gewonnen haben, zu Lebzeiten verwehrt. Selbst im katholischen Milieu des deutschsprachigen Raumes erringen sie in den 1920er-Jahren nur einen prekären Rang. Man begegnet den im Tessin Lebenden immer wieder mit großen Vorbehalten. Der Publizist Franz Herwig etwa stellt Emmy Hennings im November 1923 im katholischen „Hochland“ ein für sie als vernichtend empfundenes Zeugnis aus: „Diese seltsame Erscheinung ist kein literarisches Problem, sondern ein menschliches, eine Romanfigur, keine Romanschreiberin.“ Und Hugo Balls Buch „Die Folgen der Reformation“ mit seiner scharfen Kritik des Protestantismus wird 1925 von Waldemar Gurian als vermeintlich deutschfeindliche Streitschrift verrissen, was Ball umso mehr verletzt, da er hinter Gurians Angriff dessen akademischen Lehrer Carl Schmitt vermutet, den Ball im Spätsommer 1924 noch freundschaftlich im Tessin empfangen hatte.
Unter den freundschaftlichen Bezugspersonen der 1920er-Jahre kommt Hermann Hesse eine herausragende Rolle zu. Die Balls und er lernen sich Ende 1920 in Montagnola kennen, und Hesse wird trotz mancher Schwankungen zu einem engen Freund Hugo Balls und steht über dessen Tod hinaus in engem Kontakt zu Emmy Hennings. Er bemüht sich um die beiden, tritt bei seinen Förderern für sie ein, hilft ihnen mit Geld aus und sorgt schließlich auch dafür, dass Hugo Ball die erste Hesse-Biografie verfasst. Und wie Emmy, so trauert auch Hermann Hesse, als Hugo Ball im September 1927 stirbt. Sein Verhältnis zu Ball findet daraufhin unter anderem in der Erzählung „Narziß und Goldmund“ Niederschlag. Im Übrigen hat Bärbel Reetz bereits im Jahr 2003 den umfangreichen Briefwechsel Hesses mit Hugo Ball und Emmy Hennings bei Suhrkamp herausgegeben.
Inmitten der umfangreich vorhandenen Literatur zu Dada, insbesondere zum Paar Ball-Hennings – mit der jüngst eröffneten Kommentierten Studienausgabe zu Emmy Hennings sind inzwischen auch zu beiden Gesamtausgaben ihres literarischen Schaffens im Entstehen begriffen –, steht Reetzʼ neue Doppelbiografie nun zwar keineswegs konkurrenzlos da. Hier ist etwa auf die stärker akademisch akzentuierte intellektuelle Biografie Hugo Balls von Wiebke-Marie Stock oder die stärker literarisierte Darstellung der Freundschaft Ball-Hennings-Hesse durch die Schweizer Autorin Eveline Hasler hinzuweisen. Auch erschien im vergangenen Jahr im katholischen Verlag fe-Medien eine das Paar Ball-Hennings fokussierende Biografie von Alfred Sobel, die der religiösen Konversionsgeschichte größeres Gewicht einräumt. Doch nach Umfang und Informationsgehalt sowie dank eines breiten Recherchefundaments handelt es sich bei dem Buch von Reetz zweifellos um die gewichtigste derzeit vorliegende biografische Gesamtdarstellung zu beiden, Hugo Ball wie Emmy Hennings-Ball, und durch ihren flüssigen Stil darf sie mit Recht Anspruch auf das Interesse zahlreicher Leser erheben.
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