Im Sonderkommando

László Nemes wagt es in seinem Auschwitz-Film „Saul fia“, die industrielle Judenvernichtung aus nächster Nähe zu zeigen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Das kann man nicht erzählen.
Simon Srebnik

Bereits die ersten Rezensionen im letzten Jahr ließen aufhorchen. Man verstand sofort, dass László Nemes’ ungarischer Debüt-Film „Saul fia“ („Son of Saul“) auf einer außerordentlichen Inszenierungsidee beruht. Zwischenzeitlich hat sein Werk, das möglicherweise zu einem neuen Meilenstein der filmischen Auschwitz-Darstellung avancieren wird und 2015 in Cannes erstaufgeführt wurde, bereits den dortigen Großen Preis der Jury und 2016 einen Golden Globe gewonnen. „Son of Saul“ wurde zudem als bester fremdsprachiger Beitrag für einen Oscar nominiert. Die Entscheidung wird am 28. Februar 2016 in Hollywood bekannt gegeben.

Nemes‘ Werk erscheint zu einer Zeit, die zunehmend als Ende einer Ära verstanden wird. Da die Generation der jüdischen Überlebenden und der Zeugen aus erster Hand bald nicht mehr unter uns sein wird, stellt sich umso dringlicher die Frage, wie und anhand welcher Materialien die Shoah in Zukunft überhaupt noch angemessen erinnert werden können soll. Während der Film in Deutschland bezeichnenderweise zunächst keinen Verleih fand und erst im März 2016 anläuft, sind die internationalen Lobeshymnen über „Son of Saul“ bereits seit Längerem nicht mehr zu überhören. Die jüdische Bestseller-Autorin Lisa Klug, selbst aus einer Familie von Holocaust-Opfern stammend, resümiert im US-Magazin The Atlantic: „Experts who have no personal connection to the tragedy agree the gap between all other films and Son of Saul is so great that the movie essentially ushers in a new era of Holocaust cinema. […] In a sea of award-winning films, Son of Saul offers an alternative so powerful, that, by example, it makes room for more. This may be its greatest triumph of all.“

Niemand geringeres als Claude Lanzmann, der Steven Spielbergs „Schindler’s List“ 1993 wegen einer verkappten Gaskammer-Szene scharf angriff und seither stets den Standpunkt vertrat, der industrielle Massenmord sei undarstellbar, zeigte sich von „Son of Saul“ überzeugt. Und dies, obwohl Nemes’ Film viel weiter geht als seinerzeit Steven Spielberg. So zitiert die New York Times ein Interview mit dem 90-jährigen Lanzmann, Regisseur des wohl einflussreichsten Dokumentarfilms über die Vernichtung der eruopäischen Juden, „Shoah“ (1985): „I think it’s a very new film, very original, very unusual […]. It’s a film that gives a very real sense of what it was like to be in the Sonderkommando […]. It’s not at all melodramatic. It’s done with a very great modesty.“

Auch der französische Philosoph Georges Didi-Huberman, der 2007 mit seinem Buch „Bilder trotz allem“ (2007) eine Studie über jene verschwommenen Fotos aus dem Zentrum der Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz vorlegte, die während des Krieges unter Todesgefahr aus dem Lager geschmuggelt werden konnten – allerdings ohne während des Krieges an die Öffentlichkeit zu gelangen und damit jene internationale Empörung auszulösen, die zu einer vorzeitigen Befreiung von Auschwitz nötig gewesen wäre –, schrieb dem zitierten Artikel zu Folge einen 25-seitigen offenen Brief an László Nemes. „It begins: ,Your film, ‘Son of Saul,’ is a monster. A necessary, coherent, beneficial, innocent monster.‘“

Didi-Hubermans Zustimmung verwundert nicht. Sind die Fotos, über die er seine Studie verfasste, doch ein wichtiges Motiv von „Son of Saul“. Der Film stellt tatsächlich den verzweifelten Versuch nach, mit einer Kamera einen aussagekräftigen Moment festzuhalten, in dem außerhalb der Krematorien von Auschwitz ganze Berge von Leichen in Gruben verbrannt werden. Der Film greift mit dieser Re-Inszenierung der einzigen existierenden Bilder aus dem Innersten der deutschen Vernichtungsindustrie eine mittlerweile gängige Methode auf, die Tobias Ebbrecht in seiner lesenswerten Studie „Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust“ (2011) vor allem in deutschen Filmen über den Nationalsozialismus scharf als „Geschichtsfiktionen“ kritisiert hat: Blockbuster wie „Der Untergang“ (2004) oder selbst rührselige Melodramen wie „Das Wunder von Bern“ (2003) greifen demnach bekannte Bilder aus NS-Dokumentarfilmen, also oftmals NS-Propagandamaterial oder auch Szenen aus Holocaust-Spielfilmen wie „Schindler’s List“ auf, um den Eindruck historischer Authentizität zu untermauern, wo tatsächlich Geschichte verfälscht und cineastisch umgeschrieben wird. Deutsche erscheinen in diesen Filmen durch die erwähnten Kunstgriffe plötzlich als unbescholtene, verführte und traumatisierte Opfer des Nationalsozialismus.

Mit Harald Welzer spricht Ebbrecht dabei von „Wechselrahmungen“, die pure Fiktionen deutschen Opfertums dadurch beglaubigen, dass sie diese abenteuerlichen Geschichten mit Bildern aus dem Kontext der Shoah illustrieren – Motiven, die längst ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind und dadurch vom Publikum bewusst oder unbewusst sofort wiedererkannt werden können. Dieser automatische Wiedererkennungseffekt ist es, der diese filmischen Inszenierungen so überzeugend wirken lässt.

Kurz: Die Methode einer filmischen Imitation bekannter Bilder der Vernichtung ist auch in „Son of Saul“ zentral – allerdings eben diesmal nicht im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr zugunsten einer positiv anmutenden deutschen Umschreibung der NS-Geschichte, wie sie nunmehr seit ungefähr 2002 so sehr en vogue ist, als Jörg Friedrichs viel debattierte Studie „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945“ und Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“ erschienen, gefolgt von Filmen wie „Der Untergang“ oder auch dem ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013), – sondern im Zeichen einer erstmaligen, radikal subjektiven Kamerabewegung in die Mitte der jüdischen Opfer von Auschwitz.

Damit begeht „Son of Saul“ das von Lanzmann usprünglich so sehr tabuisierte Wagnis, in einer permanenten Nah-Aufnahme des Gesichts (oder des Hinterkopfes) des Protagonisten Saul Ausländer (Géza Röhrig), dem Angehörigen eines der von Lanzmann in seinem Statement erwähnten „Sonderkommandos“, ins Zentrum der Vernichtung zu folgen – bis an die Türen der Gaskammer, und sogar hinein: Nach Beendigung des „Geschäfts“, wie es die Befehlshaber nennen, müssen Saul und seine Leidensgenossen zum Aufwischen des Blutes und der Exkremente sowie zur Entsorgung der Erstickten auf Knien in dieser Halle des Todes arbeiten, damit in wenigen Minuten die nächste Ladung mit „Stücken“ dort „behandelt“ werden kann (so der NS-Jargon über die lebendigen Toten, die dem Erstickungstod zugeführt und danach im Krematorium von den Sonderkommandos auf verwertbare Goldzähne hin untersucht und verbrannt werden mussten).

Allerdings zeigt auch „Son of Saul“ nur kleinste Ausschnitte des Grauens, das sich hier historisch abspielte. Visuell verschwimmt der Massenmord in diesem Film konsequent im Unscharfen am Rand der Cadrage, er passiert im partiell verdeckten Umfeld des Gesichtes des Hauptdarstellers, den die Kamera so gut wie nie verlässt. Der Film greift damit jenes effektvolle Stilmittel der extremen Kamerabindung an einen Protagonisten oder eine Protagonistin auf, wie wir sie aus eindrucksvoll gedrehten ,One-take‘-Werken wie Alejandro González Iñárritus „Birdman“ (2014) und Sebastian Schippers „Victoria“ (2015) kennen. Mehr als die genannten Regisseure aber legt Nemes den Schwerpunkt auf den Einsatz alltäglicher Geräusche in Auschwitz. Sein Film kommt nahezu komplett ohne Musik aus und wirft das Publikum damit auf die eigenständige Ausphantasierung der absoluten Ausschnitthaftigkeit der Darstellung zurück: Ohne einen dieser alles zukleisternden emotionalisierenden Soundtracks, wie wir sie aus schnulzigen Geschichtsfiktionen wie „Das Leben der Anderen“ (2006) kennen, muss sich der Zuschauer ganz auf die wenigen visuellen Eindrücke und vor allem das Hörerlebnis konzentrieren, die ihm dieser Film zumutet.

Im Umfeld der close ups des Protagonisten kann man oft nur erahnen, was sich gerade genau abspielt. Wir sehen also lediglich die Spiegelung der Geschehnisse in dem Gesicht eines zum Tode Verurteilten, der zu der erniedrigenden Tortur gezwungen wird, obendrein auch noch seinesgleichen – und womöglich sogar Familienangehörige – ohne jede Warnung einem grausamen und qualvollen kollektiven Tod zuzuführen, bevor er irgendwann selbst an die Reihe kommen wird. Denn als „Geheimnisträger“ wurden die jüdischen Angehörigen der Sonderkommandos regelmäßig liquidiert, um sicherzugehen, dass die Wahrheit über die deutschen Verbrechen niemals nach außen dringen würde.

Mangels klarer Rauminszenierungen und deutlicher Bilder dessen, was der Hauptdarsteller in diesem Szenario sieht, funktioniert „Son of Saul“ also vor allem über die Tonspur. Die Geräusche und Gesprächsfetzen, die das Publikum im Surround-Sound umkreisen, als befinde man sich selbst mitten im Chaos hastender Menschengruppen, die mehr oder weniger ahnungslos auf den Tod zulaufen, transportieren ein dichtes Netz von Miniatur-Anspielungen auf Alltagsdetails der industriellen Vernichtung in Auschwitz. Es sind Mosaiksteine einer Grausamkeit, wie sie sich wohl nur Deutsche so ausdenken konnten. Man findet die literarische Entlarvung dieser perfiden Dramaturgie der Vernichtung in Texten von Primo Levi, Elie Wiesel, Imre Kertész oder Ruth Klüger wieder, und man kann sie in der Historiographie nachlesen, etwa bei Raul Hilberg. Wer darüber nichts weiß, wird allerdings wohl vieles davon schlicht überhören, wenn er „Son of Saul“ sieht.

Um nur ein Beispiel zu geben: Einmal ruft da jemand in einer Gruppe gehetzter und nach der tagelangen Deportation in einem Viehwaggon ohne jedes Essen und Trinken erfahrungsgemäß dem Verdurstungstod naher Menschen aus dem Off auf Deutsch: „kein Trinkwasser“. Hinter dieser akustischen Miniatur-Information, die im Film visuell nicht weiter begreiflich gemacht wird, verbirgt sich eine notorische Szene, die Imre Kertész in seinem „Roman eines Schicksallosen“ beschrieben hat. Ähnlich wie in den autobiografischen Berichten Primo Levis und Elie Wiesels schildert Kertész den typischen Ablauf der Ankunft desorientierter Juden in Auschwitz, wie sie nun „Son of Saul“ abermals aufgreift.

Bei Kertész wurde die Literarisierung dieser Situation berühmt, weil der Autor die Naivität des jugendlichen – und ebenfalls überaus durstigen – Erzählers perspektivisch auf die Spitze treibt, als dieser von einem deutschen Wachmann in einer Gruppe von Angekommenen von der Rampe in Auschwitz zu einem „Badehaus“ geführt wird, das sich als Gaskammer hätte entpuppen können, in diesem Fall aber tatsächlich eine spartanisch anmutende sanitäre Anlage ist:

Was ich auf diesem kurzen Weg von der Umgebung sah, fand alles in allem […] meinen Gefallen. Im besonderen war ich über einen Fußballplatz sehr erfreut, auf einer gleich rechts vom Weg gelegenen großen Wiese. Ein grüner Rasen, die zum Spielen nötigen weißen Tore, weiß ausgezogene Linien – es war alles da, verlockend, frisch, in allerbestem Zustand und größter Ordnung. Wir Jungen haben dann auch gleich gesagt: na, dann spielen wir nach der Arbeit Fußball. Noch größere Freude bereitete uns, was wir ein paar Schritte weiter am linken Straßenrand erblickten: ein Wasserhahn, ohne jeden Zweifel, so ein Pumpbrunnen, wie sie an Straßen stehen. Eine Tafel daneben wollte zwar mit roten Buchstaben warnen: „Kein Trinkwasser“ – aber das konnte uns in diesem Augenblick nicht gerade zurückhalten, versteht sich. Der Soldat war ganz geduldig, und ich kann sagen, daß mir schon lange kein Wasser so gutgetan hatte, auch wenn danach ein eigenartiger, stechender und ekelerregender Chemikaliengeschmack im Mund zurückblieb.

In „Son of Saul“ ist von derartigen Schein-Idyllen nichts zu sehen. Die mise en scène verwirrt den Zuschauer vielmehr gezielt und setzt ihn gemeinsam mit den Opfern um den Protagonisten herum unter Dauerstress. Ständig fallen Schüsse, es werden permanent deutsche Befehle gebrüllt, zügiger zu arbeiten, schneller zu laufen oder bei einem der sinnlos quälenden Appelle auf zugerufene Häftlingsnummern zu reagieren. Teils werden die Kommandos von sogenannten Trawniki-Männern gerufen, also ukrainischen oder baltischen Hilfssoldaten, die man am slawischen Akzent ihrer Stimmen erkennen kann. Laufend bellen Hunde, dröhnen Motoren, panische Menschen keuchen, stöhnen oder schreien vor Angst.

Der Film braucht allerdings zumindest eine rudimentäre Story, um die Erlebnisse des Protagonisten erzählbar zu machen, und die ist angesichts der dargestellten Vernichtungsmaschinerie mehr als unwahrscheinlich. Damit wird auch dieser Film zu einer der von Ebbrecht beschriebenen „Geschichtsfiktionen“, allerdings eine solche ohne „Wechselrahmungen“. Saul glaubt, seinen verlorenen Sohn unter den Toten gefunden zu haben, und er möchte ihn allen Widrigkeiten zum Trotz mit der Hilfe eines Rabbis begraben. Im Alltag von Auschwitz war selbst die bloße Idee eines solchen Aktes schon ein Ding der Unmöglichkeit. Hier klaffen die penible Orientierung an bekannten historischen Fakten und Bildern und die Fiktionalität des Plots zwangsläufig immer weiter auseinander.

Richard Brody kritisiert das in seiner Besprechung im New Yorker, indem er „Son of Saul“ mit Schlüsselszenen in Claude Lanzmanns „Shoah“ abgleicht. Nemes‘ Film orientiert sich demnach maßgeblich an Zeugenaussagen aus Lanzmanns Film, die unterstreichen, dass Angehörige der Sonderkommandos keine Kollaborateure, sondern Opfer und nicht zuletzt Widerständler waren (in „Son of Saul“ wird der verzweifelte Aufstand nachinszeniert, der 1944 in Auschwitz geplant und durchgeführt wurde, um die Gaskammern zu zerstören). Nemes‘ Debüt wird damit als fiktionalisiertes Drama lesbar, das versucht, Lanzmanns überaus sparsame und zurückhaltende, gleichzeitig aber weit radikalere Dokumentation einem großen Publikum als behutsam abgemilderte Geschichte zu servieren: 

Nemes’s film tempers and humanizes the metaphysical radicalism of Lanzmann’s cinema. In the face of Lanzmann’s existential void and moral paradoxes, Nemes offers a tale of ordinary decency applied in indecent circumstances. Placing Saul’s labors as a Sonderkommando and his engagement in the uprising equally under the sign of paternal duty and Judaic piety, Nemes smooths over the confrontational challenges of Lanzmann’s work. Converting Lanzmann’s absolutes of death and life into the general terms of Judaism as an ethical culture, Nemes—for all the horrors he evokes—offers comfortingly cautionary lessons for modern times. […] There’s nothing in “Son of Saul” to evoke the multiple levels of thought, memory, and imagination that Lanzmann achieves with far sparer means. Instead, Nemes clutters the film with dramatic elements that are all too familiar and all too mollifying.

Trotzdem bleibt eine Trias festzuhalten, die diesen mutigen filmischen Versuch beachtenswert macht: Keine Musik. Kein Melodrama. Keine Täter-Opfer-Umkehr. Zumindest ansatzweise meint man sogar erahnen zu können, wie die emotionale Betäubung des Protagonisten in seiner unerträglichen Situation funktioniert: Die Vernichtungsmaschinerie macht ihn selbst zu einem lebendigen Toten, der tagein, tagaus dazu verdammt ist, am Fließband als roboterhafter Handlanger des Massenmords zu agieren. Man fühlt sich als Zuschauer zusehends selbst gehetzt, man wird mit geschlagen, und man bekommt Angst vor dem tödlichen Zugriff, der jeden Moment passieren kann, in einem Umfeld, dass ganz allein daraufhin organisiert ist, Menschen wie den Protagonisten auszulöschen.

In dieser wirkungsbezogenen Bewertung des Films verbirgt sich allerdings ein weiteres mögliches Problem. Steht uns eine solche (unweigerliche) Identifikation mit Saul Ausländer als Zuschauer überhaupt zu? Handelt es sich dabei nicht um eine Perspektivübernahme, die beispielsweise einem deutschen Publikum nur allzusehr entgegenkommen könnte? Mit anderen Worten: Bietet der Film die Möglichkeit einer emotionalen Selbstviktimisierung, ein Erlebnis-Surrogat für bloße Betroffenheit, verabreicht in einer bekömmlich gemachten Dosis? Droht hier also am Ende eine ausgelagerte „Wechselrahmung“ im Zuschauerraum, eine Täter-Opferumkehr auf Seiten der Rezipienten, wie sie Ebbrecht innerhalb von Filmen wie „Der Untergang“ analysiert hat?

Andererseits befinden wir uns angesichts des international wieder ansteigenden Antisemitismus vielleicht sogar mehr denn je in einer Situation, in der jede Empathie mit jüdischem Leid nur willkommen sein kann – nicht nur in Ungarn, wo Nemes‘ Film produziert wurde und wo sich rechte Politiker erwartungsgemäß über die staatliche Förderung von „Son of Saul“ bitterlich beklagten, weil damit die „Holocaust-Industrie“ subventioniert werde, anstatt an ungarische Helden zu erinnern. Auch schon Imre Kertész‘ erwähnter „Roman eines Schicksallosen“ wurde in Ungarn in diesem Sinne kritisiert. Aus Polen erreicht uns derweil die konsternierende Nachricht, dass das Justizministerium dem renommierten Holocaust-Historiker Jan Thomasz Gross, der sich in seinen Publikationen mit dem polnischen Antisemitismus während der NS-Zeit auseinandersetzt, den nationalen Verdienstorden aberkennen möchte, weil zu viele Leute meinen, der Ausgezeichnete sei ,nicht patriotisch’ genug. Last but not least ist in Kroatien eine rechtsextreme Regierung angetreten, die der radikalen katholischen Opus-Dei-Organisation nahesteht und deren Kulturminister Zlatko Hasanbegovic als Jugendlicher in einer Ustascha-Uniform posierte, als Historiker den Holocaust für eine „Hypothese“ hält, muslimische und katholische Kollaborateure des Nationalsozialismus gut findet und Kritiker des „Islamofaschismus“ als Sprachrohre einer „jüdischen Internationale“ halluziniert.

Man sollte jedoch nicht nur auf die haarsträubenden Verhältnisse in Osteuropa deuten. AntisemitismusforscherInnen wie die Linguistin Monika Schwarz-Friesel machen seit Jahren darauf aufmerksam, dass in Deutschland sogar die explizite Idee, die Judenvernichtung wiederaufzunehmen, keinesfalls marginal ist. Antisemiten aus der Mitte der deutschen Gesellschaft, sowohl aus dem linken als auch dem rechten politischen Spektrum, schreiben tausende Hassbriefe an jüdische Gemeinden oder die israelische Botschaft in Berlin, in denen Schwarz-Friesels Auswertungen nach Statements wie diese zu lesen sind (inklusive der zitierten Rechtschreib- und Grammatikfehler): „Hoffentlich sterben noch viele Judenkinder – nur so lernt ihr Taeter.“ Oder: „Ich hoffe inständig, das Iran wirklich über die Atombombe verfügt und eurem verlogenem Treiben endgültig ein Ende bereitet.“ Last but not least: „Ihr widerlicher Unrat, wir werden die Gaskammern wieder öffnen“ (so online nachzulesen in Monika Schwarz-Friesel: „Antisemitische Hass-Metaphorik. Die emotionale Dimension aktueller Judenfeindschaft. In: Im Zeitalter der Ideologie? Attraktivität – Wirkung – Herausforderung. Interventionen 06/2015, S. 38-44).

Jeder Film, der vom Holocaust handelt, ist nicht nur irgendein weiterer Kinofilm, sondern bewegt sich automatisch in dem hier skizzierten Spannungsfeld möglicher Wirkungen und Rezeptionsphänomene. Immerhin macht „Son of Saul“ in seiner perspektivischen Ausschnitthaftigkeit in jeder Sekunde klar, dass man die extreme psychische Folter, der Saul Äusländer ausgesetzt ist, letztlich nicht „authentisch“ vermitteln kann. So ist wohl auch Lanzmanns Zustimmung zu erklären: „Son of Saul“ geht mit der paradoxen Versuchsanordnung um, buchstäblich in der Gaskammer zu filmen, und trotzdem äußerste Vorsicht in der Darstellung von Todesarten zu wahren, deren bloße Abbildung in vielerlei Hinsicht heikel und problematisch erscheinen müsste – etwa im Sinne der Bedienung einer voyeuristischen Faszination einer ‚Pornographie‘ der Vernichtung.

Ohne Zweifel: Das ist ambitioniert gemacht und schließt das Wissen darum mit ein, dass auch eine solche Re-Inszenierung der Shoah nur eine cineastische Annäherung bleiben kann. Bei allem Respekt muss man allerdings mit Richard Brody einräumen, dass der arg konstruierte fiktionale Plot des Films, und vor allem auch sein beschleunigtes Action-Ende, nichts daran ändert, dass Lanzmanns „Shoah“ nach wie vor das Maß aller Dinge bleibt, wenn es um die filmische Erinnerung an Auschwitz geht.

Saul fia (Son of Saul)
Ungarn, 107 Minuten
Regie: László Nemes
Kinostart in Deutschland: 10. März 2016.

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