Warum nur, warum?

Johannes Anyuru kehrt in „Ein Sturm wehte vom Paradiese her“ die biographischen Splitter seines Vaters zusammen.

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bauch oder Kopf? Gute Entscheide kommen mal aus dieser, mal aus jener Quelle. Eine Regel gibt es dafür nicht. Der ugandische Kampfpilot P hat ganz auf sein Bauchgefühl vertraut, als er sich in Rom entschied, in Sambia einen Job als Pilot von Sprühflugzeugen anzunehmen. Er wollte fliegen, nur das. Und dennoch: Warum nur ist er nach Afrika zurückgekehrt? Diese Frage hängt wie ein Damoklesschwert über der stürmischen Geschichte seines Lebens.

Der 1979 geborene Johannes Anyuru gilt in Schweden als Autor, der sich gerne in Debatten einmischt. Sohn einer schwedischen Mutter und eines ugandischen Vaters erhebt er immer wieder seine Stimme zu Fragen der Ausgrenzung und des Rassismus. Kritisch engagiert versucht er sich weder vom Literaturbetrieb noch von der Politik vereinnahmen zu lassen, was nicht ganz einfach sei, wie er einmal äußerte: „Wie sehr man auch versucht, das System zu sezieren“, also Ausgrenzung, Kapitalismus, die Festung Europa et cetera, „man bleibt dennoch ein Teil dessen und somit darin gefangen“. Die Aussage machte er 2012 in der Zeitung Svenska Dagbladet, als diese ihm ihren Literaturpreis für den Roman Ein Sturm wehte vom Paradiese her verlieh.

Anyuru erzählt darin die Geschichte eines Mannes, P – seines Vaters –, der in Uganda in elenden ärmlichen Verhältnissen aufwächst, vom Bruder regelmäßig verdroschen wird, doch als Jugendlicher wie zufällig die Chance erhält, sich zum Kampfpiloten ausbilden zu lassen – in Griechenland. Anfang 1971, im letzten Jahr seiner Ausbildung, stürzt der Generalstabschef Idi Amin die Obote-Regierung und stellt P vor die Frage, ob er dem Befehl zur Rückkehr nach Uganda folgen oder sich ihm entziehen soll. Unter der Vorahnung von Gewalt und Stammesfehden setzt sich P ab und reist mit der Fähre nach Rom, wo eine Kusine mit einem Italiener verheiratet ist. Die beiden raten ihm zu bleiben, er aber vermisst den Himmel. Er will fliegen und nimmt das Angebot aus Sambia an. Er achtet nicht darauf, dass dieses Land eine sozialistische Regierung hat, die dem Putsch in Uganda feindlich gesinnt ist und somit jeden Ugander beargwöhnt. Für P beginnt mit der Reise ein mehrjähriger Leidensweg durch Instanzen, Kellerlöcher und armselige Lager.

Sambia schiebt ihn umgehend in das gleich gesinnte Tansania ab, wo er der Spionage verdächtigt wird. Er wird verhört, geschlagen, schließlich freigelassen und in ein Flüchtlingslager interniert. Hier wiederum gerät er in die Fänge ugandischer Exiltruppen, die ihn für ihren Kampf gegen Idi Amin zwangsverpflichten. Mit sich führt P einen Koffer voller Seidenhemden aus Italien, dazu Hosen und ein paar gute Schuhe. Sie erinnern an den alten Traum.

Johannes Anyuru ist seinem Protagonisten dicht auf den Fersen. Er beschreibt seine Verzweiflung, erinnert sich mit ihm an die brüderlichen Schläge in Uganda sowie an die wunderbaren Glücksmomente beim Fliegen am griechischen Himmel. Er tut das zurückhaltend und präzise. Das reale Elend und das erinnerte Glück wechseln sich ab und formen sich zu einem Gesamtbild, in das der Erzähler selbst zwischendurch eingreift.

Der Vater ist für ihn im eigenen Leben eine schwer greifbare Figur geblieben: ein ewig Heimatloser, der seit langem schon abseits der Familie gelebt hat. Erst Krankheit und Alter, die den Vater bedrängen, bringen sie wieder zusammen. Der Ich-Erzähler will die Zeit nutzen, ihm zuzuhören und zu erfahren, wer und was auf den wenigen Fotografien zu sehen ist, die sich erhalten haben. Dabei hilft ihm auch ein Text aus der Hand seines Vaters: „Er wollte schriftlich festhalten, was ihm von seinem Leben in Erinnerung geblieben war“, auch um selbst zu begreifen, „was er durchgemacht habe, wie seltsam und brutal das alles gewesen sei“.

Anyuru ist ein höchst aufmerksamer Erzähler, der sich rührend seiner Figur annimmt, ohne stilistisch oder bildhaft mit seinen Beschreibungen auftrumpfen zu wollen. Die Sprache behält stets eine diskrete Sachlichkeit und Genauigkeit, die beeindruckt. So träge das väterliche Leben in den schrecklichen Lagern verläuft und so vergeblich er sich dagegen zur Wehr setzt, so unterschwellig packend liest sich das Buch. Der Ich-Erzähler deutet zwar an, dass sein Vater der Lagerhölle eines Tages entkommen sein muss, weil er Kinder haben und in Schweden leben würde. Bis er es jedoch schließlich schafft, aus eigener Kraft und mit Raffinesse zu fliehen, behält die Lektüre ihre Spannkraft.

Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde begleiten den Bericht, dazu Auszüge aus Maos rotem Buch, das in Tansania ebenso als ideologisches Fundament diente wie als Brennstoff im Lager der Exil-Ugander. Vor allem Fanon steht für die Hoffnung, die nicht erlahmen darf. Vom Titel kündet eine weitere literarische Quelle: ein Zitat von einem Flüchtling, der seine Flucht nicht überlebte. Mit Bezug auf Walter Benjamins Geschichtsphilosophische Thesen erkennt Anyuru in dessen „Engel der Geschichte“ eine katastrophische Metapher für das väterliche Schicksal: „Aber ein Sturm weht vom Paradiese her und hat sich in seinen Flügeln verfangen und hindert ihn daran, sie zu schließen, und zwingt ihn, unaufhaltsam in die Zukunft zurückzuweichen. Dieser Sturm, schreibt Benjamin, ist der Fortschritt.“ Und ein solcher Sturm hat auch den heimatlosen P unaufhaltsam von Lager zu Lager und schließlich nach Schweden geweht – sein Blick aber blieb gebannt an seine zurückliegende Leidensgeschichte und dahinter an seinen paradiesischen Traum geheftet.

Warum bloß war er nach Afrika zurückgekehrt? Diese Frage demütigte P ein Leben lang. Es gab keine Antworten darauf. Ja mehr noch musste er vermeiden, dass die Frage gestellt wurde, weil sie allein ihn schon verdächtig machte. Das ist sein subjektives Elend.

Auch für die Leserinnen und Leser ist die Frage nach dem Warum von weitreichender Bedeutung. Wer immer das Buch liest und sich von Ps Schicksal beeindrucken lässt, wird sie ungläubig stellen, und wird P ohne zu zögern zurufen: Hättest du es nur nicht getan! Der Flüchtling hält uns den Spiegel vor. Wir alle würden P geraten haben, in Rom zu bleiben. Exakt an diesem Rat aber ist die eigene Haltung gegenüber den Flüchtlingen heute, die nach Europa gelangen, zu messen.

Das Uganda von 1971 und die damalige politische Konstellation in Ostafrika lassen sich nicht einfach in die Gegenwart übertragen, dennoch bewahrt das Buch die Hoffnung, dass das Schicksal P gewogen sein möge und er nach durchlittener Qual zurück zu einem Leben in Freiheit findet. Räumlich ist es ihm gelungen, innerlich aber ist ihm das Paradies verwehrt geblieben. Indem sein Sohn die Lebenssplitter zusammenkehrt und uns hier in der schönen Übertragung durch Paul Berf eindrücklich erzählt, wird P wenigstens als Romanfigur gerettet.

Titelbild

Johannes Anyuru: Ein Sturm wehte vom Paradiese her. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2015.
288 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874906

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