Nackte Fakten und Fiktionen
Angela Steidele erzählt in „Rosenstengel“ von Geschlecht und Charakter
Von Petra Porto
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchon die äußere Aufmachung des Romans „Rosenstengel“ zeigt die beiden Pole, zwischen denen sich Angela Steideles Text bewegt – ziert die Vorderseite des in hellrosa gehaltenen Buchs die goldfarbene Zeichnung einer Person in der Uniform eines Musketiers zu Beginn des 18. Jahrhunderts, zeigt die Rückseite den, ebenfalls goldgedruckten, bayerischen Märchenkönig Ludwig II.
Klappt man den Roman auf, stößt man zunächst auf das „Vorwort der Herausgeberin“ – die Autorin gibt vor, dem Leser lediglich eine Sammlung überlieferter Dokumente, genauer gesagt: historischer Briefe, vorzustellen, die sie per Zufall bei Recherchen zu einer Arbeit über weibliche Homosexualität im Historischen Archiv der Stadt Köln entdeckt haben will. Dabei soll es sich zum einen um zwischen 1711 und 1715 ausgetauschte Episteln weiblicher Radikalpietisten, strenggläubiger Theologen und ihrer aufklärerischen Gegner handeln, zum anderen um zwischen 1884 und 1886 verfasste Briefe von Ärzten, Monarchen und Politikern im Umfeld Ludwigs II.
Erstere, in auf gelblichem Papier nicht ganz einfach zu lesendem Bronzedruck, behandeln den tatsächlich geschichtlich belegten Fall der Catharina Margaretha Linck, die aus einem Waisenhaus in Halle davonläuft in Männerkleidung als Anastasius Rosenstengel firmierend in die Armee eintritt und als Soldat im Spanischen Erbfolgekrieg kämpft. Er desertiert, wird gefangengenommen und entgeht seiner Hinrichtung (nur) dadurch, dass er sein weibliches Geschlecht offenbart. Später, erneut in Männerkleidung, heiratet Rosenstengel sogar und zieht mit seiner Angetrauten als Wunderprediger durch das Land, Erweckung und Erlösung versprechend. Als sein weibliches Geschlecht jedoch durch die Intervention der misstrauischen Schwiegermutter öffentlich wird, muss Rosenstengel vor dem Inquisitionsrichter erscheinen und wird schließlich nach kurzem Prozess enthauptet.
Die Geschichte dieser ungewöhnlichen historischen Figur soll gegen Ende des 19. Jahrhunderts als Erster Franz Carl Müller entdeckt haben, ein junger Assistenzarzt Professor Bernhard von Guddens, des Leiters der oberbayerischen Irrenanstalten. Medizinisch und persönlich an der sogenannten Conträrsexuellen interessiert, spürt Müller dem Fall Rosenstengel nach, während ihn sein Vorgesetzter als Leibarzt des geisteskranken Otto, des Bruders Ludwigs II., installiert. Müller erwirbt durch sein empathisches Verhalten dem Bruder gegenüber das Vertrauen des bayerischen Königs, der ihm nach und nach brieflich und persönlich seine Gedanken über Regierung, Volk, Musik und Liebe enthüllt, nicht ahnend, dass sein Arzt pflichtbewusst dem Vorgesetzten über seine Beziehung zum Monarchen Bericht erstattet. Müller wiederum ist sich selbst nicht klar darüber, dass Gudden die Erkenntnisse des jungen Kollegen nutzt, um dem Rest der royalen Familie, die unter der immensen Anhäufung von Schulden des Märchenkönigs leidet, die Argumente zu liefern, mit denen Ludwig als regierungsunfähig erklärt und abgesetzt werden soll. Der Assistenzarzt und der sensible Monarch kommen sich zusehends näher, Müller erzählt dem mittlerweile zum Freund, ja – so wird angedeutet – zum Liebhaber gewordenen König von dem eigenartigen Fall Rosenstengels, macht Ludwig die von ihm gefundenen Briefe zugänglich, und die beiden tauschen sich angeregt über Formen gleichgeschlechtlicher Liebe aus, ohne zu ahnen, welche Intrigen um und mit ihnen gesponnen werden. Intrigen, die letzten Endes zum Tod des jungen Königs im Starnberger See führen.
Angela Steidele webt dabei ein Netz aus Fakten und Fiktionen – die meisten der Briefeschreiber und erwähnten Personen im Roman sind historisch verbürgt, ihre Briefe jedoch hat die Autorin nur zum Teil aus deren eigenem Schriftgut übernommen, teils aus mehreren ihrer Schreiben kompiliert, teils aus den Texten von Zeitgenossen zusammengesetzt und teils wohl auch erfunden. Der kundige Leser wird den einen oder anderen bekannten Absatz wiedererkennen, es gelingt der Autorin jedoch meisterhaft, die einzelnen Teile so miteinander zu verfugen, dass ein authentisch wirkender, dem jeweiligen Duktus des Schreibers angepasster Text entsteht.
Dabei werden vor allem zwei kunstvoll ausgesparte Leerstellen deutlich: Zum einen kommt Rosenstengel nicht selbst zu Wort, die Geschichte der Catharina Margaretha Linck wird nur indirekt dargestellt, von anderen erzählt, kommentiert und interpretiert. So bleibt das Geheimnis, das diese Figur für ihre Zeitgenossen umgeben haben muss, auch für den heutigen Leser ungelüftet. Was Rosenstengel antreibt, was er plant und empfindet, ist weitestgehend der Phantasie überlassen. Störend wirken dabei allerdings die metafiktionalen Passagen, in denen beispielsweise Assistenzarzt Müller geradezu lehrbuchmäßig doziert – „Rosenstengel und Mühlhahn [die Ehefrau Rosenstengels] können sich nicht geschrieben haben, weil die Briefkultur erst im Entstehen war. Das Senden eines Briefes war noch ungewiß und theuer, nur die Regierung, Händler und Gelehrte schrieben Briefe.“ – oder die Kompilationstechnik erklärt, mit der die Briefe im Roman zusammengefügt wurden.
Zum anderen erhält der Leser auch am Ende des Textes keine Aufklärung über den mysteriösen Tod Ludwigs II., aber verschiedene Erklärungsangebote in Form unterschiedlicher Ansichten der Briefeschreiber, die jene für die Wahrheit halten und auch so kommunizieren. Der Leser, der die vielen Kabalen und Gegenkabalen in Bayern und Preußen kennengelernt und verfolgt hat, wie sich mehr oder minder unschuldige Opfer in den Fallstricken politischer Erwägungen, Erpressungen und persönlicher Befindlichkeiten verfangen haben, hat das nicht zu verachtende Vergnügen, einen oder mehrere der vorgestellten Zeitabläufe als realistisch anzusehen – oder sich seinen eigenen Reim zu machen.
Man braucht ein wenig Zeit, um sich an diese besondere Form des Briefromans zu gewöhnen, der sich zum einen sprachlich der jeweiligen Handlungszeit anpasst und zum anderen durch den beständigen Wechsel zwischen Zeitebenen und Korrespondenten zuweilen etwas verwirrend wirkt. Lässt man sich jedoch auf den Text ein, entdeckt man einen sich langsam entwickelnden, dann jedoch formal und inhaltlich überzeugenden Roman, der nicht umsonst mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde.
|
||