Bewegte Geschichten

Literarische Darstellungen von Migration

Von Sandra VlastaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Vlasta

Unter Migrationsliteratur wird meist Literatur von AutorInnen verstanden, die entweder selbst migriert sind oder die der zweiten, zum Teil auch dritten Generation von Einwanderern angehören. Diese Definition wurde (und wird) diskutiert und kritisiert, von vielen AutorInnen und KritikerInnen auch heftig zurückgewiesen und doch hält sie sich. Erst selten wurde Migrationsliteratur als Literatur über das Thema Migration verstanden, ein Zugang, den ich im Folgenden vorschlage. Migrationsliteratur, so meine These, ist ein Genre, das es in verschiedenen Literaturen und Sprachen gibt; Texte, die von Migration erzählen, ähneln sich in den behandelten Motiven, wie z.B. Sprache und Spracherwerb, Übersetzungserfahrungen, Identitätssuche, Darstellung der neuen Heimat. Sie weisen aber auch formale Ähnlichkeiten auf, wie z.B. explizite (d.h. tatsächlich auf der Textoberfläche sichtbare) oder implizite (d.h. z.B. beschriebene) Mehrsprachigkeit. Ich werde diese inhaltlichen und formalen Analogien im Folgenden exemplarisch anhand von Texten aus der deutsch- und englischsprachigen Literatur besprechen. Dabei interessieren mich neben den Ähnlichkeiten vor allem die Variationen und Unterschiede der Motive in den verschiedenen Texten.

Migration, d.h. eine längerfristige Veränderung des Wohnortes über Grenzen hinweg, ist nicht nur ein zeitgenössisches Phänomen. Sowohl AutorInnen als auch Texte sind stets (aus-)gewandert, freiwillig, aber auch gezwungenermaßen. Dementsprechend sind Bewegung und Migration seit jeher ein Thema der Literatur. Und doch haben heutzutage die Nachwirkungen des Ende des Kolonialismus und des Kommunismus, die Gastarbeiterprogramme in diversen europäischen Ländern, Krisen und Kriege sowie gesellschaftliche und politische Diskurse Migration zu einem besonders dringenden Thema auch in literarischen Werken gemacht. Wenn wir Literatur als etwas verstehen, das uns zur Reflexion anregt und uns hilft, die Welt besser zu begreifen, kann uns die kritische Lektüre dieser Texte ein besseres Verständnis von Migration ermöglichen: Sie erzählen von individuellen Migrationserfahrungen der ersten, aber auch der zweiten und dritten Generation; sie verhandeln gesellschaftliche, politische und mediale Reaktionen auf Migrationen und deren Auswirkungen auf die betroffenen Menschen; sie sensibilisieren für die möglichen Probleme und Schwierigkeiten von MigrantInnen. In ihrer individuellen Darstellung kann Migrationsliteratur uns möglicherweise mehr Einsicht in Aspekte und Fragen im Zusammenhang mit Migration geben als jede soziologische Studie. Jedenfalls geben die fraglichen Texte oft sehr ähnliche Perspektiven. 

Das Motiv der Sprache in Migrationsliteratur

In Migrationsliteratur ist die Reflexion über Sprache – ein grundlegendes Element jedes literarischen Texts – meist eng mit der Migrationserfahrung verbunden. Der Prozess der Migration bringt oft einen Sprachwechsel mit sich und somit werden das Erlernen einer neuen Sprache, Übersetzung und alle damit in Zusammenhang stehenden Aspekte ein wichtiger Teil des täglichen Lebens für MigrantInnen und damit für die Protagonisten in Werken der Migrationsliteratur. Es müssen Strategien gefunden werden, um mit den verschiedenen Sprachen umzugehen; diese Strategien sind zudem einem ständigen Wandel ausgesetzt, sie müssen dauernd adaptiert und angepasst werden. Die Situation der Mehrsprachigkeit wird auf verschiedene Weisen verhandelt: So wird die Mehrsprachigkeit zum Teil in der Form von mehrsprachigen Texten ausgedrückt. Sie wird aber auch zum Thema in den Familien, in denen die verschiedenen Generationen sich auf unterschiedliche Weise mit den sie umgebenden Sprachen identifizieren. Während die erste Generation in der Migration die neue Sprache oft nur mühsam, wenn überhaupt, erlernt, sind die Kinder meist mehrerer Sprachen mächtig: Sie beherrschen die Sprache der Eltern sowie die Sprache der neuen Heimat. Diese Erfahrung der Akkulturation der Kinder ist für die Eltern einerseits eine schmerzliche, die die Distanz zwischen den Generationen vergrößert. Andererseits werden die Kinder als Übersetzer für die ältere Generation das Bindeglied zur neuen Heimat und ermöglichen bzw. helfen den Eltern bei der Identitätsfindung in der Migration.

In Anna Kims Die Bilderspur (2004), einer sprachlich wie inhaltlich sehr assoziativ gestalteten Erzählung um die Beziehung zwischen einer Tochter und ihrem Vater in der Migration, übernimmt die Ich-Erzählerin schon als Kind die Rolle der Übersetzerin für ihren Vater. Der Vater ist auf „K. wie Kind” angewiesen, die Tochter verteidigt ihn gegen „die Fluten des Fremdseins”, die ihm entgegenschlagen, und begleitet ihn „als Schattenspion, Heimlich-Übersetzer, Wanderstab”. Sie ist für ihn über das Tochtersein hinaus eine notwendige Unterstützung im täglichen Leben, ihre Hilfe darf aber nach außen hin nicht zu offensichtlich sein, sondern soll im Schatten bleiben. Ihr Übersetzen ist ein heimliches, wenngleich der Vater das ganze Gewicht seines Lebens in der Migration auf diese lebenswichtige Stütze lehnt.

Dem Kind, der Tochter, wird jedoch im Laufe des Textes immer bewusster, dass ihr Vater die Sprache, die ihr langsam zur Muttersprache geworden ist, nur fehlerhaft beherrscht, und sie hält sich kaum zurück mit ihren Korrekturen. Das behutsame Umgehen mit der Sprachkompetenz des Vaters und ihre Funktion als Stütze für ihn zu Beginn des Textes gibt die heranwachsende Ich-Erzählerin auf, nicht zuletzt weil der Vater sich mehrmals räumlich von ihr entfernt, um in die verlassene Heimat zurückzukehren. Die immer häufigeren Abschiede lassen die Tochter in ihrer Rolle als Übersetzerin zurück. Die Tochter wendet sich alleingelassen noch stärker der Sprache der neuen Heimat zu, das Meistern der neuen Sprache wird ihr eine Notwendigkeit, um ihre eigene Identität in der Migration aufzubauen.

Monica Alis Roman Brick Lane (2003) ist nach einer Straße benannt, die in London mitten in einem Viertel liegt, in dem sich viele bengalische Einwanderer niedergelassen haben. Erzählt wird die Geschichte Nazneens, einer jungen Frau aus Bangladesch, die 1985 mit achtzehn Jahren nach London kommt und mit dem wesentlich älteren Chanu verheiratet wird, der schon länger in London lebt. Nazneen verlässt anfangs kaum die Wohnung, auch weil ihr Mann das nicht möchte. Ähnlich verhält es sich mit der sprachlichen Situation. Nazneen möchte, nicht zuletzt motiviert durch ihre Freundin Razia, die einen Englischkurs besucht, Englisch lernen und äußert diesen Wunsch auch gegenüber ihrem Mann, der sich allerdings dagegen ausspricht: 

„I would like to learn some English,“ said Nazneen.
Chanu puffed his cheeks and spat the air out in a fuff. „It will come. Don’t worry about it. Where’s the need anyway?“ He looked at his book and Nazneen watched the screen.

Nazneens Freundin Razia beginnt nicht zuletzt wegen ihrer in Großbritannien aufwachsenden Kinder, Englisch zu lernen: „’Do you know why I’m going to learn English?’ said Razia as she was leaving. ‚So that when my children start telling dirty jokes behind my back, I’ll be able to whip their backsides.’“ Razia drückt es hier zwar recht salopp aus, letztendlich ist ihr Wunsch nach Sprachkompetenz aber damit begründet, den Kontakt zu ihren Kindern nicht zu verlieren. Ihr ist bewusst, dass ihre Kinder als Briten aufwachsen (und sie selbst nimmt später die britische Staatsbürgerschaft an und trägt stolz einen Sweater mit dem Union Jack) und weiß, dass sie die Initiative ergreifen muss, will sie ihnen in diese neue Heimat folgen.

Monica Ali thematisiert mit der Figur des Vaters Chanu allerdings auch die umgekehrte Reaktion auf den durch die Migration verstärkten Generationenkonflikt und stellt dies wiederum am Motiv der Sprache dar. Während die beiden Töchter Shahana und Bibi in der Schule Englisch lernen und sprechen, verhängt der Vater daheim ein Sprechverbot über die englische Sprache. Deutlich wird dieses Verbot nur in Szenen, in denen es gebrochen wird, in denen also Englisch gesprochen wird, wie z.B. als Chanu seinen neuen Computer ausprobiert. Der erste Satz, den er schreibt, ist auf Englisch: „Dear Sir, I am writing to inform you.” Erst in Shahanas zorniger Reaktion gegenüber ihrer Mutter wird deutlich, dass Englisch ansonsten verpönt ist: „’We are not allowed to speak English in this house’“ sagt sie Nazneen gegenüber. Wenngleich Nazneen mit dem Sprachverbot nicht einverstanden ist, überlässt sie es ihrer Tochter, dies mit Chanu zu diskutieren. Shahana spricht deshalb immer öfter Englisch mit ihrem Vater, und ihre Auflehnung erreicht einen Höhepunkt, als sie sein Englisch korrigiert:

„What is the wrong with you?“ shouted Chanu, speaking in English. „Do you mean,“ said Shahana, „‚What is wrong with you?‘“ She blew her fringe. „Not ‚the wrong‘“.

Shahana führt so sein Verbot am überzeugendsten ad absurdum: Sie darf die Sprache, die sie mindestens so gut, wenn nicht besser und sicherer als ihre ‚Muttersprache‘ beherrscht, zu Hause nicht sprechen, wohingegen der Vater mit seinen Englisch-Kenntnissen seinen gesicherten Status in der Migration gegenüber seiner Familie beweisen will. Es scheint, als ob Chanu die eigene Mehrsprachigkeit als Bereicherung empfindet, sich ihrer Gefahr durch die Distanzierung von der Tradition und der eigenen Kultur aber durchaus bewusst ist und seine Familie davor schützen will. Deshalb verbietet er seiner Frau Nazneen den Englischunterricht zwar nicht, macht es aber mit seiner negativen Reaktion darauf für sie unmöglich, einen Kurs zu besuchen. Und deshalb greift er schlussendlich zu einem diktatorischen Mittel, wenn er die englische Sprache in seinem Haus überhaupt verbietet. 

Identität und die Suche nach Identität in der Darstellung von Nahrungsmitteln, dem Kochen und Essen

Die Darstellung von Nahrungsmitteln, vom Kochen und dem Essen werden in Texten der Migrationsliteratur oft verwendet, um die sich wandelnde Identität in der Migration, aber auch die Suche nach einer Identität in der Migration darzustellen. Es sind Motive, bei denen Kulturen aufeinandertreffen – die Kultur der verlassenen Heimat auf die Kultur der neuen Heimat – und neue Dinge entstehen können. Andererseits kann Essen auch abgrenzende Funktion haben und eine Vermischung dadurch eher verhindern.

Die Beziehungen zwischen Essen und Identität sind vielfältig: Essen ist Teil unserer Identität, Nahrung wird, indem wir sie aufnehmen, zu einem Teil unserer selbst und ist damit Inbegriff der Identität. In der Migration wird diese Identität aber in Frage gestellt bzw. ändert sich, MigrantInnen müssen einen neuen Platz finden – räumlich, sozial und zeitlich. Die Ernährung spielt in dieser Situation oft eine besondere Rolle: Sie kann Stabilität in einer sich verändernden Welt geben. Essen kann Erinnerungen und Gefühle auslösen und Speisen können deshalb in der Migration eingesetzt werden, um eine Brücke zur verlassenen Heimat zu schlagen, um sich an die Heimat zu erinnern oder sie anderen näher zu bringen, wie z.B. der zweiten Generation. Der physische Kontakt mit den vertrauten Zutaten kann einen Kontakt mit der Heimat bedeuten, die Zutaten sind, genau wie bestimmte Speisen, mit Symbolik aufgeladen, die sie erst durch die Migration erhalten haben. Neben diesem konstanten Aspekt der Nahrung kann Essen in Verbindung mit Migrationserfahrungen aber auch ein Bereich sein, in dem Neues angenommen und ausprobiert wird. Vermischungen sind möglich, Neues kann in der Situation der Migration entstehen; Neues, das fortan für sich steht und weder Teil der alten noch der neuen Heimat ist.

In Timothy Mos Roman Sour Sweet (1982) verhandeln drei Generationen ihr neues Leben in der Migration. Das Buch erzählt die Geschichte der chinesischen Einwandererfamilie Chen im London der 1960er Jahre. Chen, seine Frau Lily, ihr kleiner Sohn Man Kee sowie Lilys Schwester, Mui, versuchen, abseits von China Town mit einem kleinen chinesischen takeaway-Imbiss in der Londoner Vorstadt ihre eigene Existenz aufzubauen. Mo verwendet in seinem Roman das Kochen und Essen auf vielfältige Weise als Metaphern für die Beschreibung der Erfahrung der Migration, z.B. zur Charakterisierung der Figuren, zur Verhandlung von Identität, als Gemeinschaft stiftendes Ritual etc. Die traditionellen Speisen der Familie Chen, aber vor allem die neue hybride Welt der China Restaurants und der chinesischen takeaways in Großbritannien, bilden die Basis ihrer Lebensgeschichte in der Migration.

Die Chens entscheiden sich, ein Haus in einem heruntergekommenen Außenbezirk Londons zu mieten, um dort zu wohnen und ihren eigenen takeaway einzurichten. Lily übernimmt dessen Gestaltung: 

Ideally, the front should have been all glass, an expanse of unimpeded visibility […]. But this would mean knocking down part of the wall between their two windows and then reglazing at prohibitive expense. […] They would have to have a counter, though. No take-away business worth the name could function without one of those. […] There was already a serving hatch in the wall between kitchen and front room and Chen took the little door off its hinges altogether. They put the flat’s gas stove in the kitchen, together with a ring which ran on a huge, dented bottle they had acquired secondhand. On this they would heat their wok.
„Chairs,“ Lily said suddenly. „Where will they sit?“ And of course, that was what take-aways had too, chairs. As important as the counter, really.

Hier sieht man bereits, worum es bei dem takeaway Restaurant der Chens geht: Sie richten ihr Restaurant nicht nach ihrem Geschmack und ihren Vorstellungen ein, sondern gehen von einem Modell des takeways aus, nach dem auch ihr eigener gestaltet sein soll. Dieses Muster setzt sich fort, als es um die Speisen geht, die in dem Lokal angeboten werden. Chen hat in anderen Lokalen recherchiert, um schließlich ein „stereotyped menu, similar to those outside countless other establishments in the UK“ in ihrem eigenen takeaway anzubieten. Und so kochen und servieren die Chens Speisen, die gut bei ihren Gästen ankommen, die sie selbst aber nie essen würden, denn „it bore no resemblance at all to Chinese cuisine“. Einige der Gerichte werden genauer beschrieben: 

„Sweet and sour pork“ was their staple, naturally: bater musket balls encasing a tiny core of meat, laced with a scarlet sauce […]. „Spare-ribs“ (whatever they were) also seemed popular. So were spring-rolls, basically a Northener’s snack, which Lily parsimoniously filled mostly with bean-sprouts. All to be packed in the rectangular silver boxes, food coffins, to be removed and consumed statutorily off-premises. 

Die Speisen sind den Chens unbekannt („whatever they were“) und sie bleiben es, zumal sie in kleine Särge verpackt und damit nicht reizvoller werden. Die angebotenen Speisen entsprechen der Tradition der chinesischen Restaurants bzw. takeaways in Großbritannien, die wenig mit der individuellen Identität der Chens zu tun hat. Statt Speisen aus der eigenen Tradition zu kochen oder Neues zu kreieren, entschließen sie sich, ein bereits erprobtes Modell zu übernehmen, das auf den Geschmack der Briten abgestimmt ist und schließlich auch für die Chens funktioniert. Sie fühlen sich der kulinarischen Welt, der auch ihr takeaway angehört, jedoch nur bedingt verbunden, da sie nicht Teil ihrer eigenen Tradition ist und auch nicht an ihrer Kreation beteiligt waren.

Wenngleich nicht vordergründig, so spielen Essen und Nahrungsmittel auch in Schlüsselszenen von Vladimir Vertlibs Roman Letzter Wunsch (2003) eine bedeutende Rolle. Es gibt eine zentrale Szene im Roman, in der ein Essen neben einem sozialen Ereignis zur Repräsentation jüdischer Identität verwendet wird. In der Szene wird der Erzähler Gabriel Salzinger vom Rabbiner der jüdischen Gemeinde von Gigricht (einer fiktiven deutschen Kleinstadt) zum Essen zu sich nach Hause eingeladen. Vertlib setzt das Essen im Haus des Rabbiners Rosenzweig ein, um dessen jüdisches Selbstverständnis darzustellen, um seine Ausführungen über das Judentum zu unterstreichen und gleichzeitig die Konversation zu strukturieren bzw. zu bestimmen. Zudem wird der Konflikt zwischen Salzinger und dem Rabbiner rhetorisch über das Kochen und Essen ausgetragen, wobei immer wieder jüdische Identität ausgedrückt wird.

Der Titel des Romans bezieht sich auf den letzten Wunsch von Gabriels kürzlich verstorbenem Vater. Dieser wollte am jüdischen Friedhof neben seiner Frau bestattet werden, ein Wunsch, der ihm von der orthodoxen jüdischen Gemeinde verwehrt wird, da Gabriels Vater und seine Großmutter im Rahmen einer liberalen religiösen Strömung zum Judentum konvertiert sind. Das Abendessen beim Rabbiner ist weniger Anlass, darüber zu sprechen; vielmehr möchte Rosenzweig dem nicht-gläubigen Salzinger gelebtes Judentum vorführen und ihn so von der Unrechtmäßigkeit des Wunsches seines Vaters überzeugen. Das Thema des Judentums im Roman hängt eng mit dem der Migration zusammen. Die jüdische Gemeinde in Gigricht ist, wie andere in Deutschland, aufgrund der Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion in den vorangegangenen Jahren stark angewachsen. Diese Einwanderung ist auch der Grund für die orthodoxe Orientierung der jüdischen Gemeinde in Gigricht, die keine Kontinuität früherer Traditionen darstellt. Wie in anderen seiner Werke diskutiert Vertlib damit auch in Letzter Wunsch jüdische Identität im heutigen Europa.

In der fraglichen Szene wird die Zubereitung des Essens detailliert geschildert. Es ist der Rabbiner selbst, der die Spaghetti zubereitet. Bevor er die Zwiebel und Zucchini schneidet, spricht er ein Gebet. Dass Rosenzweig selbst kocht, kann als Bekundung seiner gut gemeinten Intentionen gelesen werden – Salzinger soll sich wirklich zu Hause fühlen, das Kochen vor dem Gast eine entspanntere und vertrautere Atmosphäre schaffen. Gleichzeitig stellt es den Rabbiner in intensiver Verbindung mit seinem Glauben dar, ausgedrückt durch die koschere Zubereitung der Speisen, die durch die Kommentare des Rabbiners und durch den direkten Kontakt mit den Zutaten betont wird.

Die Speisewahl wird bei Essen im privaten Raum meist von den KöchInnen bestimmt. Auch in der Essensszene bei Vertlib ist das so: Das Menü – Fischsuppe, Spaghetti und Creme Caramel de luxe – wird von den Rosenzweigs zusammengestellt. Indem sich der Rabbiner als Koch präsentiert, übernimmt er gleichzeitig die Kontrolle über das Gesagte.

Rosenzweig erklärt Gabriel nicht nur das Rezept der Spaghetti, sondern auch ein weiteres Rezept, diesmal exotischer, an dem er die Möglichkeiten der koscheren Küche darstellt. Dabei wird die Bedeutung des Kochens für den Rabbiner unterstrichen, sowie anhand von einigen Details ein weiteres Mal dessen jüdisches Traditionsbewusstsein unterstrichen. So erfährt Salzinger von Frau Rosenzweig, dass es schwierig für die Familie ist, an koschere Lebensmittel zu gelangen, die außerdem teuer sind. Rosenzweig hebt hervor, was für eine Herausforderung es ist, exotischere Speisen koscher zuzubereiten. Mit fast beiläufig eingestreuten Kommentaren wie diesen wird der Diskurs über jüdisches Leben im heutigen Deutschland fortgesetzt.

Während des Wartens auf das Essen wird Gabriel immer ungeduldiger, weil es an diesem Abend offensichtlich nicht primär um den Wunsch seines Vaters geht. Als der Rabbiner die heiße Pfanne vom Herd zieht, bemüht sich Salzinger, seine „immer stärker werdende Wut“ zu unterdrücken. Kochen, für den Rabbiner ein kontemplativer Vorgang, wird für Salzinger zum Geduldstest, der ihn immer zynischer werden lässt: „‚Es wäre schade, wenn Sie für mich Ihre koscheren Lebensmittel verschwenden, die Sie extra aus Frankfurt kommen lassen müssen’“, ironisiert er die strenge Gläubigkeit der Rosenzweigs offen. 

Darstellungen der neuen Heimat

Die Literaturwissenschaftlerin Azade Seyhan hält fest, dass Texte über Migration Einsichten in die neue Kultur der MigrantInnen, d.h. oft die eigene Kultur der LeserInnen geben können: „writers who have become chroniclers and agents of the modern history of migrations and displacements fortify us with insights about our own culture(s)“. Im Kontext von Migration kann die Identität einer Gesellschaft durch ihre Geschichte und Gegenwart reflexiv wahrgenommen werden; gleichzeitig kann die eigene Identität reflektiert werden. In diesem Sinne wird der Migrant zu einem einzigartigen Träger des kollektiven Gedächtnisses: Geschichten und Erinnerungen vermischen sich – die der verlassenen Heimat, die der neuen Heimat sowie jene der Migration. All diese Erinnerungen und Geschichten werden in Migrationsliteratur reflektiert und verhandelt und werden zur Grundlage für ein neues kollektives Gedächtnis. Dies setzt natürlich voraus, dass die Mehrheitsgesellschaft diese Prozesse auch ermöglicht und akzeptiert.

Texte über Migrationserfahrungen können auf diese Weise alternative Geschichte schreiben, die alternative Identitäten vorschlägt. Geschichte meint hier nicht nur eine weit zurückliegende Vergangenheit, sondern schließt die Gegenwart als Spiegel der Geschichte ein. In Narrativen über Migration vermischen sich Geschichten und Erinnerungen; die neue Heimat steht deshalb nicht unbedingt in Opposition zur verlassenen. Im Gegenteil wird diese Dichotomie oft aufgebrochen und die Vermischung in den Vordergrund gestellt.

In Caryl Phillips Roman The Final Passage (1985) wird die neue Heimat – England in den 1950er Jahren – durch Beschreibungen der Landschaft, des Klimas bzw. Wetters, der Stadt sowie der (raren) Kontakten mit den Einheimischen dargestellt. Es wird die Geschichte Leilas erzählt, die mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn Calvin von einer (unbenannten) karibischen Insel nach London emigriert. Leila empfindet Großbritannien auf mehreren Ebenen als feindlich: die Landschaft, das Klima, vor allem aber der Rassismus, der ihr entgegenschlägt. All das bewegt sie schließlich dazu, nach fünf Monaten wieder in die Karibik zurückzukehren, wo das Leben zwar sehr vorhersehbar ist, aber dafür kein täglicher Kampf. Der Roman ist nicht chronologisch erzählt, erst im vorletzten Kapitel wird die Ankunft Leilas, Michaels und Calvins in England erzählt. Wie so viele Einwanderer aus der Karibik zu jener Zeit, kommt die kleine Familie mit dem Schiff an und erreicht Großbritannien nach zwei Wochen: 

On the fifteenth day the wind died and Leila saw land; the high and irregular cliffs of England through the cold grey mist of the English channel. She clasped together the collar of her light cotton dress and shivered. Overhead a thin fleet of clouds cast a bleak shadow across the deck, and the sluggish water swelled gently, then slackened. Leila stood at the front of the ship with six or seven more. Nobody spoke. It was still early and they waited, as if trapped in a glass case, while the other voyagers were still getting up, or feeling sick, or sleeping.

Hier wird die neue Heimat bzw. ein erster Eindruck davon dargestellt und durchweg mit negativen Adjektiven beschrieben: Englands Konturen sind high und irregular und die Form der Landschaft – die Klippen – hat eher abweisende und gefährliche als einladende Wirkung auf den Betrachter. Das Wasser wird als sluggish beschrieben. Die Beschreibungen meteorologischer Phänomene sind ebenso negativ: Es handelt sich um eine thin fleet of clouds, deren Schatten bleak, also düster und freudlos, ist. Dieser erste, nach der anstrengenden Reise lang erwartete Blick auf Großbritannien hat nichts Positives. Dementsprechend geht es auch den Passagieren und damit auch Leila und Michael: Sie sind den Eindrücken der neuen Heimat hilflos ausgeliefert. Sie können ob des Anblicks von England nicht sprechen, sich nicht einmal bewegen, sondern erscheinen gefangen (trapped) und zum Warten verdammt. Dieses Motiv des Ausgeliefertseins beginnt mit der Ankunft der Immigranten in England und begleitet Leila und Michael auch im Zentrum des ehemals kolonialen Mutterlandes. Der Glaskasten (glass case) lässt sie kaum jemals am Leben der Großstadt teilhaben, geschweige denn am Leben der Engländer.

In London wird sich Leila aufgrund des allgegenwärtigen Rassismus ihrer Hautfarbe bewusst, z.B. durch entsprechende Reaktionen und Schilder mit Aufschriften wie „No vacancies for coloureds“, auf die sie und Michael bei ihrer Wohnungssuche treffen. Sie reflektiert aber auch ihre Beobachtungen über die Verteilung der Wohnbevölkerung sowie über die Klassenunterschiede (die an der Kleidung, an Autos etc. festzumachen sind), die beide stark mit der Hautfarbe zusammenhängen: 

She sat in the front seat on the top deck of the bus, looking down at the people and the life in the street below. She noticed that in some areas there were many coloured people and in other areas there were very few. She noticed that coloured people did not drive big cars or wear suits or carry briefcases, that they seemed to look sad and cold. […]

In Hamid Sadrs Roman Der Gedächtnissekretär (2005) liegt der Schwerpunkt auf der Geschichte der neuen Heimat. Elemente des kollektiven kulturellen Gedächtnisses werden verhandelt und von einem alternativen Blickpunkt aus präsentiert; der persische Protagonist des Buches setzt sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Wien auseinander. Der junge Ardi, der in den 1990er Jahren in Wien studiert, hat aufgrund seiner Herkunft einen anderen kulturellen und historischen Hintergrund. Mit der Vergangenheit seiner neuen Heimat ist er nur wenig vertraut und er wird deshalb psychisch wie physisch von der Kriegszeit überwältigt, mit der er sich in seiner Arbeit als Herrn Sohalts Gedächtnissekretär auseinandersetzen muss: Ardi soll dessen Fotos der Zerstörungen der letzten Kriegstage in Wien mit den heutigen Gebäuden vergleichen. Für Ardi besteht der Bildband, den Herr Sohalt auf diese Weise erarbeiten möchte, „hauptsächlich aus Fotos, die ihm angenehm waren; also Bilder von einer zu Unrecht angegriffenen Stadt.“ Tatsächlich steht für Sohalt, einem ehemaligen Mitglied der NSDAP, wie Ardi im Laufe des Romans herausfindet, die Stadt im Vordergrund. Anders als Maurice Halbwachs‘ Beschreibung des Gedächtnisses der Dinge, das ein Bild der Menschheit widerspiegelt, trennt Sohalt die Stadt von ihren Einwohnern. Ardi muss, entgegen Sohalts Wunsch, die Aufgabe übernehmen, diese Verbindung wieder herzustellen. Das Gedächtnis der Stadt, das er dabei entdeckt, ist komplex: Gebäude und Objekte sind nicht nur Symbole, sondern sie sind voller persönlicher Erinnerungen, die sie an Ardi weitergeben. Beim Durchleben dieses Erinnerungsprozesses gerät Ardi immer tiefer in die Vergangenheit, die sich mit der Gegenwart vermischt und diese zum Teil völlig verdeckt: 

In die Fotos vertieft, merkte ich nicht, dass das Plätschern des Wassers verstummte und die Taube, die vorher ihre Federn ins Becken getaucht hatte, wegflog; auch das Traben des Fiakerpferdes war nicht mehr zu hören. […] Mit dem Durchblättern der Notizen beschäftigt, verdrängte ich die Stille, doch als ich aufblickte, war der Platz in seine Kriegstage versetzt; zertrümmert wie im Bild. Weil der Weg zum Schottenstift durch Ziegelbrocken bedeckt und nicht mehr begehbar war, machte ich einen Umweg und ging vorsichtig, als ob nichts geschehen wäre, zur Teinfaltstraße zurück.

Später sieht er Wehrmachtssoldaten in den Straßen, auch russische Soldaten und Menschen, die in Luftschutzkeller flüchten. Er spürt die Angst und den Schrecken, hört die Sirenen und fühlt die Detonationen. Ardi muss sich auf diese Weise an Dinge erinnern, die er selbst nicht erlebt hat, um Sohalts selektives Gedächtnis zu überwinden. Dies ist ihm primär aufgrund seiner Rolle als Migrant möglich, als Außenstehender, der von außen auf die (historischen) Ereignisse blickt.

Zum Abschluss

Das Genre der Migrationsliteratur, verstanden als Literatur über Migrationserfahrungen, ist, abgesehen von diesem Hauptthema, gekennzeichnet von wiederkehrenden Motiven, die in den diversen Texten in Variationen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten immer wieder auftauchen. Die vergleichende thematische Untersuchung von Texten über Migrationserfahrungen zeigt, dass dieses Genre in verschiedenen sprachlichen und kulturellen Kontexten nachzuweisen ist, wie ich anhand einiger ausgewählter Motive (Sprache und Sprachaneignung, Übersetzung, Identität und Identitätssuche, Darstellungen der neuen Heimat) gezeigt habe. Die Liste der Motive ließe sich noch erweitern, z.B. um alternative Versionen der Geschichte der verlassenen Heimat, Familiengeschichten, die Rolle der zweiten (und dritten) Generation etc.

Nicht zuletzt handelt es sich bei Migrationsliteratur um ein politisches Projekt. Sie ist Teil eines Prozesses der Neudefinition von Kultur und (National-)Literatur und arbeitet in Richtung einer Transkulturalisierung und Transnationalisierung. Die Texte handeln nicht nur von ImmigrantInnen in einem neuen Land und ihren Problemen und Schwierigkeiten, sondern auch von deren Möglichkeiten der (kulturellen, gesellschaftlichen, politischen etc.) Partizipation (und damit der eigentlichen Bedeutung von Integration) und von der Bedeutung der ImmigrantInnen für ihre neue Heimat. Die Individualität der Texte, die diesem Genre zugerechnet werden können, genauso wie die Individualität der Protagonisten und ihrer Migrationsgeschichten sind eine weitere Botschaft, die Migrationsliteratur überbringt: Migration ist ein Phänomen, das aus Millionen individueller Geschichten besteht. Migrationsliteratur kann uns mit einigen dieser Geschichten vertraut machen und uns Ideen dafür geben, wie politische und gesellschaftliche Herausforderungen im Zusammenhang mit Migration erfolgreich für alle gemeistert werden können.

Dieser Artikel basiert auf einer größeren Studie, die unter folgendem Titel veröffentlicht wurde: Sandra Vlasta, Contemporary Migration Literature in German and English. A Comparative Study. Leiden: Brill, 2016.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz