Umfassender Ordnungszerfall

Über Volker Perthes’ Essay „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen“

Von Marcus Andreas BornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Andreas Born

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen schließt an eine Reihe von Publikationen an, in denen sich Volker Perthes seit den 1990er-Jahren mit den komplexen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen einer Region beschäftigt, die insbesondere aufgrund ihrer Konflikte immer wieder im Fokus der medialen Aufmerksamkeit steht. Während seine Berichte aus dem Leben der Menschen in Ägypten, Israel und Palästina, Saudi-Arabien, Kurdistan und Iran den Titel Orientalische Promenaden. Der Nahe und Mittlere Osten im Umbruch (2006) trugen, wandte sich Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen (2011) bereits expliziter den manifesten Umwälzungen zu, die von Tunesien aus über Ägypten die gesamte Region ergriffen.

Als Kern seines jüngsten Essays hebt Perthes den umfassenden „Ordnungszerfall“ in den Vordergrund, der nicht nur vereinzelte Staaten der Region, sondern ein größeres Gebiet betrifft. Dabei unterstreicht er die Tragweite der unleugbaren Veränderungen im Nahen Osten, die sich nicht im bloßen Übergang von einem System in ein anderes erschöpfen: „Die Region erlebt zweifellos eine Zeitenwende; aber es ist keine Wende von einem politischen Zustand zu einem anderen.“ Die Rede von einer „Zeitenwende“ im ersten Teil seines Buchs ist mit Reflexionen zum historischen Bezugsrahmen verflochten, wobei Perthes zwischen der „kurze[n] Zeitlinie der Tagespolitik“, der „mittleren Zeitlinie geopolitischer Verschiebungen“ und – mit Fernand Braudel – der „langen Zeitlinie soziokultureller Entwicklungen“ differenziert, der auch „konfessionelle, ethnische oder tribale Bindungen und Identitäten“ zugerechnet werden. Diese drängen in die durch den Ordnungszerfall geschaffenen Leerstellen, werden nicht selten von den politischen Akteuren in deren „historisches Narrativ“ eingespannt, und entsprechend der jeweiligen Agenda instrumentalisiert.

Unter der Überschrift „Triebkräfte“ widmet sich Perthes in einem kompakten Abriss den Umwälzungen im Nahen Osten seit der Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi 2010. Hierbei erweisen sich „soziodemografische[n] Dynamiken […] und Fragen der politischen und wirtschaftlichen Teilhabe“ nicht nur deswegen als relevant, weil sie mit als Motoren der bisherigen Veränderungen fungierten, sondern auch, weil die Reichweite ihrer Auswirkungen auf die künftige Entwicklung der Region nicht abzuschätzen ist. Perthes verwehrt sich gegen simplifizierende Rückführungen der jüngeren Vergangenheit des Nahen Ostens auf eine verborgene Agenda externer Mächte und konzentriert sich auf die Identifikation regionaler Akteure. Dass er keinesfalls darauf abzielt, „den Westen“ von seiner Verantwortung loszusprechen, verdeutlicht eindringlich der mit „Der IS – kein Staat, aber ein jihadistisches Staatsbildungsprojekt“ betitelte Teil des Buchs, der unter anderem auf den Beginn eines „konfessionellen, sunnitisch-schiitischen Bürgerkriegs“ und die Radikalisierung sunnitischer Theologen durch die amerikanische Besatzung verweist, der sich sowohl die Vernetzung in den Gefangenenlagern als auch die Ausstattung mit zurückgelassenen Waffen und Fahrzeugen verdankt, welche die Ausbreitung des IS im Nahen Osten beschleunigten.

Perthes zeigt detailliert das Hervorgehen des IS aus al-Qaida auf, wendet sich ausführlich dessen „quasistaatlichen Strukturen“ und deren deutlichen Anleihen bei den Regimes von Baschar al-Assad und Saddam Hussein zu, mit denen der IS seinen Herrschaftsbereich kontrolliert und die sich bis in die Versorgung und Erziehung der Bevölkerung erstrecken. Darüber hinaus weist er darauf hin, dass dem IS nicht nur militärisch, sondern ebenso politisch und ideologisch entgegengewirkt werden muss, was unter anderem an eine deutliche Kritik an Saudi-Arabien und dessen Koalitionspartner gekoppelt wird, sich ideologisch beziehungsweise theologisch nicht bestimmt genug vom IS abzugrenzen: „Die religiös-politische Sprache des selbsternannten Kalifen Baghdadi sowie die dahinterliegende totalitäre Islamauslegung unterscheiden sich an vielen Stellen nur wenig von dem, was man auch von saudischen Religionsgelehrten hören kann“. Dennoch ist Perthes hier und andernorts weit davon entfernt, das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen, ursächlich auf unterschiedliche Religionen beziehungsweise Auslegungen derselben zurückzuführen und spricht stattdessen von einer Konfessionalisierung von Konflikten, mit der diese oftmals verschärft werden: „Religiöse Polarisierungen gewinnen rasch eine Eigendynamik“. Darauf, dass sie damit als faktische Wirkmächte im Kräftespiel zu werten sind, geht Perthes zwar ein, legt aber stärkeres Gewicht darauf, über die Frage nach dem Glauben nicht die zugrundeliegenden soziokulturellen und politischen Brüche zu vernachlässigen. Damit einher geht seine Warnung, die beteiligten Konfliktparteien vorschnell als Agenten in einem Machtspiel zwischen einem schiitischen Iran und einem sunnitischen Saudi-Arabien zu werten – und die jeweiligen Konflikte auf Stellvertreterkriege zu reduzieren: „Das Narrativ vom konfessionellen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten hat sich mittlerweile so weit verselbständigt, dass jede neue Auseinandersetzung, im Jemen beispielsweise, unmittelbar als sunnitisch-schiitischer Krieg oder Stellvertreterkrieg verstanden wird, auch wenn dort andere Konfliktlinien sehr viel tiefer schneiden“.

Perthes vorangehenden Büchern waren Karten der Region beigegeben, eine solche findet sich nun auf dem Cover des Bandes in der Edition Suhrkamp, doch ist diese zerschnitten und die Länder liegen nur noch als Puzzleteile ungefähr an ihrer vertrauten Stelle. Dies könnte sich angesichts der im Essay beschriebenen Bedrohung der staatlichen Gebilde durch den allgemeinen Zerfall als optimistisch erweisen. Der Nahe Osten, wie wir ihn kennen, erweist sich in Perthes Buch oftmals als der Nahe Osten, den wir nicht kennen, wobei sich der Autor spätestens dann mit einschließt, wenn es darum geht, „Eckpunkte für europäische Politik“ zu entwerfen. Der Ordnungszerfall, der den gesamten Text leitmotivisch trägt und auf den seine Einzelanalysen immer wieder zurückweisen, macht sich bemerkbar, wenn der Autor keine Antworten darauf gibt, „wie eine neue Ordnung zustande kommen kann, wie sie aussehen wird, wer sie verhandelt oder errichtet“. Darauf, dass sich diese nicht darin ausdrücken kann und wird, die Region mittels eines zweiten Sykes-Picot-Abkommens von außen zu befrieden, weist Perthes wiederholt hin. Ein derartiges „Grand Design“ wird als ebenso außerhalb des Vermögens wie außerhalb des Interesses von externen Akteuren dargestellt.

Perthes gelingt es, ein umfassendes Panorama des Nahen Ostens zu liefern, in dem die jeweiligen staatlichen und nichtstaatlichen Akteure in ihrem changierenden Beziehungsgeflecht auftreten. Es zählt zu den Vorzügen seines Zugriffs, trotz der Fülle an Informationen die größeren Linien seiner Analysen nicht aus dem Auge zu verlieren, die ihn immer wieder zum postulierten Ordnungszerfall zurückführen. Dass es ein Anliegen der europäischen Staaten sein sollte, der umgreifenden Erosion des Nahen Ostens entgegenzuwirken, verdeutlicht er sowohl an der wachsenden Flüchtlingszahl aus den Krisengebieten als auch an der terroristischen Bedrohung und den gegenwärtigen Auswüchsen der Angst vor einer „Islamisierung“ Deutschlands. Als Leitlinien für eine Politik, die sich nicht nur an den sich im eigenen Land ausdrückenden Symptomen eines Ordnungszerfalls des Nahen Ostens abarbeiten will, führt Perthes „Bemühungen um Konfliktbeilegung, die Förderung politischer Transformation und die Bereitschaft zur Kooperation mit funktionierenden Staaten“ an. Das Ringen um ein Atomabkommen mit dem Iran lässt ihn hoffen, dass ein langfristiges Engagement in Syrien und im israelisch-palästinensischen Konflikt ebenso Erfolge zeitigen wird, wie die Unterstützung von politischen Modellen, die auf Inklusion setzen. Die Dringlichkeit, „einen intensiven politischen Diskurs gerade auch mit schwierigen Partnern“ zu suchen – Perthes führt unter anderem Saudi-Arabien, Ägypten, Iran und die Türkei an – unterstreicht er am Ende seines Essays mit Verweis auf die drohende Alternative, bald weitere Staaten auf die Liste der „gescheiterten Staaten“ setzen zu müssen.

Titelbild

Volker Perthes: Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
144 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518074428

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