Neues aus Plettenberg

Zu Carl Schmitts „Glossarium“ und einem Briefwechsel

Von Thomas MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die kommentierte Neuedition der 1991 erstmals vorgelegten Aufzeichnungen Carl Schmitts unter dem Titel „Glossarium“ ist ein Ereignis. Dass dieser Satz die Hoffnung jeder Presseabteilung noch übertrifft, ist dem Rezensenten klar, ebenso wie die mögliche strategische Verwendung des Satzes gegen die Autorintention. Aber beides ist unwichtig, denn „unterhalb“ dieser pathetischen Marktschreierei wird man der Tatsache nicht gerecht werden, nunmehr eben nicht länger auf eine gekürzte, jedem Leser ihre drastischen Mängel vor Augen führende „Edition“ des „Glossariums“ zitieren zu müssen. Gerd Giesler und Martin Tielke haben das ihnen Mögliche getan, um eine verlässliche Ausgabe vorzulegen. Dennoch gibt es mindestens eine Passage, in der eine offensichtlich im Original vorkommende Bezugnahme nicht richtig aufgelöst wurde. Wir werden ausführlich darauf zurückkommen müssen, was genau das heißt – „Ereignis“ und „Edition“.

Angesichts dieses „Ereignisses“, aber nicht nur deshalb, ist der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Mitgliedern der Familie Sombart eher unter der Rubrik „Carl Schmitt und der Rest der Welt“ abzubuchen. Dass es äußerst substantielle Briefwechsel mit Schmitt gibt, ist bereits vielfach unter Beweis gestellt worden. Genannt seien die Korrespondenzen mit Ludwig Feuchtwanger, Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber, Ernst Jünger und Rudolf Smend. Ähnliches lässt sich über noch nichtpublizierte Episteln sagen, die etwa mit Reinhart Koselleck oder Ernst-Wolfgang Böckenförde ausgetauscht wurden.

Handeln wir also die Sache mit den Sombarts schnell ab: Nicolaus, der Sohn von Werner, war ein Berliner Phänomen. In den Salons zu Hause, belesen, gewandt und vollkommen unzuverlässig, Bohemien ohne entsprechendes Umfeld, skandalbewährt und ewige Plaudertasche. All das mag zutreffen und doch wird Sombart mit diesen Charakterisierungen allzu leicht abgetan. Man bringt ihn, auf den all das Gesagte zutrifft, gerne in diese Stellung, um anschließend die konstruierte Fallhöhe auszunutzen. Denn Sombart hat vermeintlichen Vatermord an Schmitt begangen. Der Langessay von 1991, „Die deutschen Männer und ihre Feinde: Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos“, enthält in der Tat längst widerlegte Plattheiten über Schmitts vermeintliche Sexualfeindlichkeit. Das Gegenteil ist bekanntlich richtig. Wenn Sombart, der nahezu jeder bezahlten oder unbezahlten Eroberung ein paar Worte hinterherwarf, gewusst hätte, dass Schmitt ihn, nach allem was bereits bekannt ist, auch da noch überholte – nicht auszudenken, wie böse der Gute geworden wäre. Doch Sombart, der seine „Überlegungen“ bereits im Wintersemester 1980/81 an der Universität Wuppertal mit harten oder weichgespülten und wenigen tatsächlich unabhängigen Schmittianern erprobte, weist auf Punkte hin, die noch heute von Interesse sind. Nicht alles ist dumm oder von Renegatentum gegenüber dem früheren Förderer (und ebenso rasch enttäuschten) Schmitt getragen, etwa was Sombart über die Säkularisierungsthese des Staatsrechtlers schreibt.

Kehrt man aus dieser Perspektive zur Korrespondenz zurück, dann bewahrheitet sich, was Wolf Lepenies in der „Welt“ über den Briefwechsel Schmitt-Sombart schreibt: nämlich, dass da einer werden wollte wie der Ältere, zugleich nach anderen Wegen suchte und sich schließlich an ein Ufer rettete – und Beamter wurde! Schmitt hingegen, der lieber das Handorakel spielte und auf großes Getöne mit noch größerem Getöne antwortete, war schnell gelangweilt durch die bloße Welle von Ankündigungen, auf die in der Regel nichts folgte.

Zudem legt der Briefwechsel, neben den üblichen Hochmütigkeiten auf beiden Seiten, einige markante Wandlungen offen, die unter dem Schutt von Bildungshuberei, Erfahrungsmitteilungsüberschwang, dem Anspruch auf die eigene, zeitgeschichtlich vermeintlich beglaubigte Einmaligkeitshypertrophie und der ständigen Unterforderung durch sich gleichermaßen andauernd einfordernde Zeiträuber freilich erst gefunden werden müssen. Sombart ist sodann ein genauer Verarbeiter von Gelesenem und Gehörtem, Schmitt reagiert durchaus adäquat und trägt mehr zur Klärung seiner Weltsicht bei, als es der Zauberwürfel mit Unlösbarkeitsneurose gerne gehabt hätte. Also, bei aller Lächerlichkeit, die nicht immer in den Anmerkungen aufgefangen wird (Fehler sind auch hier dazu da, dass sie gemacht werden), eine lesenswerte Selbstdarstellungskonstellation mit erfahrenen Akteuren.

All das ist beim „Glossarium“ anders. Darin probt ein Plebejer den Aufstand. Und zwar, wie der naturgemäß anonyme Klappentextautor versichert, weil der „Gescheiterte der Gescheitere“ ist. Wie schön. Für Schmitt. Für uns. Schließlich führt die Kurzformel, die sich viel darauf zugutehalten kann, sich auf dem Niveau von Schmitts Poesieproduktion zu bewegen, zu einer „Identifikation“. Davon spricht natürlich der Eingeweihte nicht; wir hingegen gebrauchen das Wort, die all das an die wenigen Verstehenden Gerichtete vorüberziehen lassen müssen, weil uns nichts Besseres einfällt. Bleibt nachzutragen, dass die Formel von Schmitt selbst stammt ( geprägt am 11. September 1951, siehe „Glossarium“) und bereits im Vorfeld die TUMULTler Frank Böckelmann (nunmehr auch Teilzeit-Pegidaspazierer) und Horst Ebner in einem „Editorial“ der gleichnamigen Zeitschrift in Erregung versetzte (der legendäre „ambulante Redakteur“ hätte gewiss diesen und den erbärmlichen Absatz über Ernst Nolte rausgeworfen – hoffen wir zumindest). Dazu hat der Münchner Althistoriker Christian Meier im Gespräch mit Stephan Schlak für die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ bereits 2012 alles Bedenkenswerte gesagt: „Es gibt ein zweites noch unveröffentlichtes Glossarium. Da heißt es einmal: Der Gescheiterte ist der Gescheitere. Zunächst einmal ist das nur eine Trotzbehauptung: Ich bin zwar gescheitert, aber nun bin ich der Gescheitere. Indes – er hätte etwas daraus machen sollen, eben indem er die Gründe seines Scheiterns schonungslos aufgedeckt hätte, zumindest intellektuell und gern auch nur für sich – aber mit Folgen für sein weiteres Werk.“ Allenfalls ist der Berliner Professor Nolte mit Schmitt insofern vergleichbar, als dass er Unbelehrbarkeit in Gelehrsamkeitsein- und ausdrücke verwandeln kann.

Der „Gescheiterte“: Carl Schmitt bietet sich 1933 als „Kronjurist des Dritten Reiches“ an und wird genommen, 1936 stupst man ihn in die hinteren Reihen zurück, angeblich (wir warten gespannt auf die Aufklärung) bis 1945 vor Rachegelüsten einstiger Weggefährten zitternd, auch weil seine Schriften möglicherweise – ein Deutungsversuch von Hobbes von 1938, vier Jahre später „Land und Meer“, dazu zahlreiche Aufsätze – doch Einbruchstellen für ‚Zwischen-den-Zeilen-Leser‘ bereitgehalten haben könnten, die Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Hermann Göring, RSHA oder anderen hochrangigen Mitgliedern der SS nicht gefielen. Außerdem hatte Schmitt in den Augen der Vernichtungsantisemiten eine demokratische Vergangenheit, die weder er noch seine fleißig über den Rechtsstatus von Konzentrationslagern – wir reden gerade von 1933 – nachdenkenden Schüler (einige verhalten sich hingegen ganz famos!) nachträglich korrigieren können. Gestürzt – trotz aller Anstrengungen; ein Konvertitenschicksal, wenn es hart auf hart geht. Nach der Befreiung im Mai 1945 wird Schmitt in Berlin festgesetzt und in Nürnberg verhört. Er darf nicht an die Universität zurück, ein Teil seiner Bibliothek geht gezielt verloren. Dreimal, so Schmitts aus den Ereignissen kreierte Endlosschleife, habe ihn der „Leviathan“ verspeisen wollen und dann wieder ausgespuckt. Das muss hier nicht nochmal nachgezeichnet werden, zumal mit Reinhard Mehrings Biografie das entsprechende Material zugänglich geworden ist.

Jetzt also zum „Glossarium“, Aufzeichnungen des „Gescheiteren“, die mit dem Datum vom 28. August (Achtung!) 1947 beginnen und am 31. Dezember (nochmals Achtung!) 1958 enden. Was noch für die erste Edition des „Glossariums“ galt, nämlich eine Art Zweiteilung von Ressentiment und Analyse, eine Zweiteilung, die der Schmitt-Kenner Heinrich Meier in der besten Besprechung des Bandes (seinerzeit im „Spiegel“ veröffentlicht) herausgearbeitet hatte, gilt jetzt nicht mehr.

Um die Konstruktion des nunmehr vollständig vorliegenden „Glossarium“ verstehen zu können und darzustellen, machen wir uns die hermeneutischen Prämissen zu eigen, die von den beiden Herausgebern im „Vorwort“ zu ihrer Edition ausgegeben wurden. Es handle sich um einen Text, der „sehr komprimiert, voraussetzungsreich, gelegentlich hermetisch“ sei. Deshalb – um das „Uferlose“ möglicher Kommentierung zu vermeiden – habe man sich für eine „knappe und zurückhaltende Kommentierung“ entschieden. „Das ‚Glossarium‘ als ein Kondensat des Schmittschen Denkens ist in ständigem ausgesprochenem oder unausgesprochenem Bezug zum veröffentlichten wie unveröffentlichten Werk geschrieben.“ Das „Glossarium“ könne ein „Türöffner sein zu diesem Werk“, ohne die Lektüre dieses Werkes ersetzen zu können oder zu wollen.

Nun, was bekommt der Leser? Die erste Seite zeigt einen hochkonzentrierten Autor, der präzise und zugleich assoziierend Beobachtungen – der Eintrag stammt laut „Glossarium“ vom 28. August 1947 – und Reflexionen, die sich offensichtlich an Klassiker-Zitate (zum Beispiel von Johann Wolfgang von Goethe) entlangarbeiten, dann Positionen rekapituliert, scheinbar oder tatsächlich wieder in den Schwung des Nachdenkens kommt. „Dichtung und Wahrheit“ wäre hier die erste und erlaubte Assoziation, doch Schmitt glaubt sich bereits zu Beginn unter einem historischen Unstern geboren. Hier, wie in zahlreichen anderen Abschnitten, geht es darum, hellwach zu sein, die Gegenwart als Teil eines ganz Neuen zu sehen und dieses Neue als ideologisches Gebilde zu entlarven. Schmitt glaubt sich und sein Fach – „Völkerrecht des JusPublicum Europaeum“ – in einer ebenso privilegierten, wie von der Vernichtung bedrohten Position zu sein. In dieser Selbsterkenntnis, die zugleich das ist, was Schmitt durch das „Dritte Reich“ für sich und für diejenigen, die es hören und lesen möchten, gerettet hat, wurde das „Glossarium“ verfasst.

Damit ist eine Kontinuitätslinie angesprochen, die umfassender nicht sein könnte, denn sie umschließt ein Rechthaben und Ins-Recht-setzen, das einmalig ist in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Dieses Rechthaben und Ins-Recht-setzen sind zwei komplexe Grundoperationen in Schmitts Denken. Sie zeigen an ihren jeweilige Enden den ungehemmten Reflexionsdurst und das Dürsten nach dem Besserwissen, das sich auch in einem tatsächlich besseren Wissen um etwas zeigen kann, und auch ein abgründiges Verlangen nach einer Form der Gerechtigkeit, die ausschließlich Carl Schmitt selbst gilt. Daraus aber eine übermenschliche Enthemmungsleistung zu machen, wie man das neuerdings immer wieder lesen kann, Schmitt zu einer vollkommenen Verschmelzung von Gargantua und Pantagruel zu stilisieren, entspricht letztlich nicht nur dem Selbstbild (siehe etwa die Einträge vom 1. Juli und 27. Juli 1948), sondern entschärft auch entscheidend die Rolle Schmitts in der Kreation dieses Selbstbildnisses.

Nun ist die Alternative eben nicht, ein unendliches Identitätsspiel anzunehmen. Nichts ist im Nachhinein lächerlicher als das dekonstruktive Spiel mit Schmitt, worauf schon Hasso Hofmann vor Jahren aufmerksam machte. Das entspräche genau dem Eskapismus, den Schmitt all jenen vorwirft, die ihn zwischen Möglichkeitsspielraum und Entscheidungslust einzwängen wollen. Die Grenzen einer solchen „Deutungslösung“ sind gesetzt durch das, was im „Glossarium“ verhandelt wird beziehungsweise was in ihm aufgerufen wird. Das Material ist heterogen, es wird scheinbar genommen, was einem entgegenkommt, es wird sofort zum Anlass zur Selbstdeutung, an deren Ende in der Regel das alleinige und ignorierte Wissen um dieses Etwas liegt, was Schmitt nur selbst zugänglich ist. Für diejenigen, die noch immer glauben, hier liege etwas Tiefes verborgen: Die Neuedition des „Glossariums“ böte eine gute Gelegenheit, Schmitts Hobbes’-Deutungen einmal nüchtern(er) zu betrachten. Das kann hier nicht geleistet werden.

Stattdessen muss auf die Kontinuitätsbehauptung zurückgekommen werden. Schmitt hat, da liegt offensichtlich der esoterische Kern seiner Bemühungen, ein immenses Interesse daran, dass die Verbrechen des „Dritten Reiches“ gänzlich in den Rahmen zurückgeführt werden können, in dem traditionell Kriege und ihre Folgen verhandelt wurden. Schmitts Intention ist es, das – aus seiner Sicht – Beiseiteschieben dieses Ansinnens durch die „Siegermächte“ als die Offenlegung der „wahren“ Absicht der Sieger zu deuten. Im Prinzip, besonders klar hervortretend in seinen Bemerkungen zum „Leviathan“, aber auch in seinen Wiederbegegnungen mit Weimarer Debatten, will Schmitt damit nicht nur die eigene Haut retten, das wäre ihm zu wenig und sollte auch jedem Interpreten zu wenig sein, als vielmehr seine Deutung der Entwicklung rechtfertigen. Dieses mehrfache Interesse an der eigenen Zeitzeugenschaft ist ein dezidiert subjektives Geschäft. Schmitt inszeniert das subjektive Geschäft als Zumutung, nämlich als die schonungslose Introspektion des Gedachten und Geschehenen als Ein- und Ausfaltung der eigenen Zentralstellung. Das ist eben nicht mit dem Hinweis auf die ständigen Wiederholungen von Metaphern (Spieler, Picaro et cetera) hermeneutisch befriedigend zu analysieren. Wenn Schmitt als „Kriegstechniker des Begriffs“ (Reinhard Mehring) ernst genommen werden soll, dann muss die Figur des Eigeninteresses schärfer bestimmt werden. Dann muss die bequeme Lösung des fascinosum et tremendum verbannt werden, um Raum zu schaffen für das Verständnis dessen, was da alles weggeschoben und stattdessen hineingepflanzt wird in diese Selbsterfindung namens Carl Schmitt. Dann muss auch mit dem Rätselcharaktergerede aufgehört werden, will man verstehen, weshalb Schmitt so über sich und die Welt sprechen kann, wie er es eben tut. Kontextualisierung und Marginalisierung des vermeintlich grundlegenden und alles umschließenden Anspruches können dabei nur erste Schritte sein. Auf sie muss ein Insistieren auf Einzelaussagen folgen, die Schmitt aus dem herauslösen, was er selbst als fertige Antworten serviert. Es ist eben nicht so, das haben Hasso Hofmann, Ingeborg Maus und nach ihnen viele aufweisen können, dass er immer schon das bedacht hat, was er nur andeutete. Hans Blumenberg, Jacob Taubes und nicht wenige Schüler gehen ihm hier auf den Leim. Wie Leo Strauss 1932 Schmitt bis auf die Knochen skelettierte und dann taxidermierte könnte hier als Modell dienen.

Damit wären wir bei einer bloß scheinbaren „anderen“ Seite. Schmitts völlig entgrenztem Antisemitismus. Schmitt ist auch im „Glossarium“ unentwegt auf der Suche nach den Ursachen für die Situation, in der er sich in der beschriebenen Weise wieder(er)findet. Hier rückt, das ist nicht neu, das Judentum in den Mittelpunkt. Aber nicht „konstruiert“, wie das etwa Martin Heidegger in den sogenannten „Schwarzen Heften“ mit den Titeln „Überlegungen“ und „Anmerkungen“ tut, sondern seit 1933 in tätigem Gleichschritt mit den Nationalsozialisten, später dann, nach seiner Degradierung 1936 durch bestimmte Kreise der SS, sondern ganz „konkret“ – wie Schmitt mitten im Machttaumel selbst schreibt. An Personen und Positionen entlang wird eine Geschichte der dauernden Verstellung, des Nichtverstehens des Deutschen Geistes, ein von Rache- und Erlösungsgelüsten getriebenes Volk in der Auseinandersetzung mit Personen und ihren Werken entwickelt – Schmitt wird den biografischen Pakt zwischen Person und Werk nicht nur nicht überwinden, sondern ihn als konstitutiv für sein Denken nach 1945 betrachten –, der nach und nach einzig und allein dazu dient, die eigene Rolle im „Dritten Reich“ zu rechtfertigen. Dabei dienen die Personen und Werke als Ausweis für die Begrenztheit jüdischer Fähigkeit, ihre „Eigenart“ zu ändern oder ändern zu wollen oder sie sind, ebenso willkürlich, Brüder im Schicksalsgeiste. Ob Schmitts Gleichsetzung des eigenen Schicksals mit dem von Walter Benjamin irgendwelche Auswirkungen auf die weiterhin florierende Auslegungsindustrie der vermeintlichen „politischen Theologie“ haben wird?

Aber wir erinnern uns, wir wollten den hermeneutischen Vorgaben der Herausgeber folgen. Was machen wir jetzt mit diesen und zahlreichen anderen Einlassungen, die offensichtlich den gleichen Status haben, wie die Überlegungen, die Schmitt im Rahmen seiner Kontinuitätskonstruktion äußert? Der Antisemitismus ist eben weiterhin die andere Seite –nunmehr aus Schmitts Blickwinkel erfolgreich und ihn verfolgend –, der er sich stellen muss. Das „Glossarium“ dokumentiert einen zunehmenden, zugleich äußerst kalkulierten Kontrollverlust. Während der Antisemitismus zu Beginn nach real- und ideengeschichtlichen Kontinuitäten sucht, in Abgleich mit Personen und Werken, die Schmitt kannte – hier hätte eine Analyse etwa von Schmitts Verhältnis zu seinem Förderer Moritz Julius Bonn anzusetzen – und insofern schätzte, als sie Beiträger eines von ihm bekämpften Prinzips waren, wird diese „Rationalität“ zunehmend in bloße emotionale Reaktionen überführt. Darin ist allerdings nicht nur nichts Entlastendes zu finden, sondern auch keine pathologische Konstruktion anzubringen. In dem Maße, in dem Schmitt gezwungen ist – das wird in seiner Hobbes-Deutung klar – Material zurückzuerobern, das durch andere (hier vor allem Leo Strauss) verstellt wurde, wird Schmitt bewusst, dass sein „Feind“ ihm überlegen ist. Das Ressentiment wird zur epistemologischen Waffe, geboren aus der Hilflosigkeit. Gesteigert wird das zusätzlich durch die Vorstellung, als einziger über das adäquate Wissen zu verfügen, um der gestellten Herausforderung auch wirklich gegenübertreten zu können.

Bleibt noch die Frage nach dem „Ereignis“ der Edition und der Rolle der Herausgeber. Letztere haben mit dieser Ausgabe nicht nur eine zitierfähige Grundlage geschaffen, sondern durch ihre Kommentare eine allererste Zugangsmöglichkeit zu dem Text eröffnet. In der Regel sind Namen und Zitate in den Anmerkungen näher erläutert und es werden Verweise auf Bücher und Zeitschriften gegeben, die sich in Schmitts Bibliothek befinden. Außerdem gibt es in den Anmerkungen eine merkwürdige Bereitschaft zur Wertung. Was man zu dem genannten Bonn schreibt, ist indiskutabel: Der Leser versteht überhaupt nicht, warum der seinen früheren „Schützling“ in den Memoiren kritisiert. Gelegentlich wird ein Übermaß an Sorgfalt verwendet, gelegentlich werden ganze Sachverhalte verschleiert. Was genau haben die Herausgeber von dem Desaster gelernt, dass sie mit der Edition der Tagebücher durch Wolfgang Schuller erlebt hatten? Kennen Sie die Besprechung dazu von Patrick Bahners („FAZ“ vom 25. Mai 2011)? Es macht nicht den Eindruck. Und es gibt einen Fall, da ist auch den beiden Herausgebern wohl nichts mehr eingefallen. Zu den historisch und systematisch lächerlichsten Versuchen von Schmitts geschichtsphilosophischen Ambitionen gehört ohne Zweifel die Parallelsetzung des Dreyfus-Prozesses mit den Prozessen und Prozessabläufen sowie –mechanismen der Verfahren gegen Nationalsozialisten (und ihn selbst) nach 1945. Dabei führt er zustimmend ein besonders widerliches Pamphlet des Holocaust-Leugners Maurice Bardèche (1907–1998) an, das auch die Dreyfus-Angelegenheit aufnimmt. Es wäre gut, wenn in einer zweiten Auflage Bardèche eine Würdigung verpasst bekäme. Ansonsten würde man unter anderem deshalb denken, dass das „Ereignis“ „Glossarium“ ein schales wäre. Ein schales „Ereignis“ auch deshalb, weil die angestrebte Hermetik der Herausgeber sie in Gefilde führt, die jenseits eines leicht verschrobenen Antiquarianismus und trotzigen Konservativismus liegen – beides wäre sogar eine Anstrengung wert gewesen. Wenn Schmitts Gesamtanliegen im „Glossarium“ in eine Reihe mit Alexis de Tocqueville gesetzt wird – hier kann nur dringend der Band „Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie“ von Harald Bluhm und Skadi Krause empfohlen werden – und zudem raunend eine „FAZ“-Besprechung (sic!) von Henning Ritter als Beleg für die ideologisch naturgemäß höchst verwerfliche „Reeducation“ nach 1945 herbeizitiert wird, dann haben Giesler und Tielke jedes Maß verloren. Mit Tocqueville teilt möglicherweise Schmitt irgendetwas, aber nicht das, was hier als Schnapsidee präsentiert wird. So leicht sollten einem Vergleiche nicht von der Hand gehen, zumal sich Tocqueville ja auf der anderen Seite der Geschichte findet – er ist ein Demokratietheoretiker, wie kritisch auch immer. Schmitt hatte aber ab 1933 beschlossen, zu dieser „Regime“-Form (Leo Strauss) nichts mehr beizutragen, sondern sie auf unterschiedlichen Ebenen zu bekämpfen. Man muss außerdem Ritter schon deshalb in Schutz nehmen, weil er, bei aller naiven Schmitt-Begeisterung, die sich nicht zuletzt durch persönliche Begegnungen ergab, ein höchst ambivalenter Mann war, der nicht zuletzt deshalb an den großen Plänen, etwa einer Rousseau-Biografie, scheiterte, weil er seine Begabungen und Einsichten nicht harmonisch und konstruktiv zu verbinden wusste. Aber ihn als blank-blöden Apologeten zu verabschieden, fällt auf die Herausgeber zurück.

Titelbild

Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958.
Herausgegeben von Martin Tielke.
Duncker & Humblot, Berlin 2015.
557 Seiten, 69,90 EUR.
ISBN-13: 9783428144860

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Titelbild

Carl Schmitt: Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart.
Herausgegeben von Martin Tielke.
Duncker & Humblot, Berlin 2015.
263 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783428147069

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